„Besser der Tod als ein Leben ohne die Sonne der Freiheit.“ Die lettische Freiheitskämpferin Marta Jura – Zenta Maurina (3)
Freitag, 19. November 2010 von Adelinde
Nicht mit allen ihren Hauslehrerinnen hatte die beingelähmte Zenta Maurina Glück, wohl aber ein ganz außergewöhnliches mit
Marta Jura.
… geist- und temperamentvoll, jung und schön
war sie, schreibt Maurina in ihrem Buch ″Die weite Fahrt″, Memmingen 1951 (alle Zitate, wenn nicht anders angegeben, aus diesem Buch). Sie kannte die Geschichte des siebenhundertjährigen Freiheitskampfes ihres lettischen Volkes und fühlte dessen stolzen Selbstbehauptungswillen in sich brennen. So konnte es nicht ausbleiben, daß sie ihrer jungen Schülerin Zenta Maurina die Fackel weiterreichte.
Lettland mit seiner langen Ostsee-Küste
ist ein bevorzugtes Objekt der Begierde religiöser und politischer Großmächte.
Es ist ein fruchtbares Land hauptsächlich der Ebene, vor Zeiten bebaut von einem friedlichen Bauernvolk, das sich aus mehreren Stämmen zusammensetzt: Selen (Oberlettland), Semgaller, Kuren, Liven, Lettgaller.
Vom bäuerlichen Leben waren zuvor auch die religiösen Vorstellungen der Letten geprägt. Sie verehrten in
Saule die Himmelsbäuerin und Sonnengöttin Lettlands.
Der Name ″Sonne″ der indoeuropäischen Wortgruppe sauel, suel, sul, sol sowie suen, sun, sunna, sunne ist weiblichen Geschlechts und tritt uns in den Mythen Lettlands als Sonnengöttin Saule entgegen, als
Saules mate, die Sonnenmutter … oft … auch (als) Sonnenjungfrau, Saules meita …
Saules Leben währt ewig. Sie bestimmt über die Dauer jeden Lebens. Die Sonnengöttin ist allwissend, sie sieht alles, was auf der Erde passiert … Die Menschen lieben Saule und nennen sie zärtlich Mütterchen,
schreibt die litauische Forscherin Marija Gimbutas in ihrem Buch ″Die Sprache der Göttin – Das verschüttete Symbolsystem der westlichen Zivilisation″, Frankfurt 1995. Die lettischen Mythen schildern, so Gimbutas, Saule als schwerarbeitende Himmelsbäuerin, die sich
in ihrem goldenen Boot nachts inmitten des Meeres zum Schlafen
niederlegt. Bei den prächtigen Sonnenuntergängen im westlich liegenden Baltischen Meer liegen einem naturverbundenen Volk solche Vorstellungen nahe.
Auch ein Mittagsschläfchen haben die LettInnen der Sonne … gegönnt. Diesen Mittagsschlaf hält sie in ihrem himmlischen Apfelgarten unter einem Apfelbaum … (Gimbutas)
Der Apfel galt in den Mythen vorgeschichtlicher Zeit als Sinnbild des Lebens, der Weisheit und Vollkommenheit.
Barbara Hutzl-Ronge zitiert in ihrem Buch ″Feuergöttinnen, Sonnenheilige, Lichtfrauen″, München 2000, Harald Biezais aus dessen Buch ″Die himmlische Götterfamilie der alten Letten″, Uppsala 1972:
Saule läuft um den Himmelsberg. Abends, wenn die Sonne untergeht, watet Saule ins Meer, bis nur mehr ihre goldenen Haarspitzen oder der Kranz darauf zu sehen ist. Saule versinkt im Meer. In ihrem goldenen Boot fährt sie nachts über das Meer. Am Morgen steigt Saule aus dem Boot, um ihren Lauf um den Himmelsberg erneut anzutreten.
Christianisierung Lettlands
Seit vielen tausend Jahren sind wir ein ackerbauendes Volk. Die süßeste Musik ist für uns das Säuseln reifer Roggenähren, und der herzerquickendste Duft der des frisch gebackenen Schwarzbrotes …
Mit diesem friedlich-bäuerlich-mutterrechtlichen Leben nahm es ein jähes Ende, als 1190 die ersten Missionare in Lettland erschienen mit dem Auftrag, die heidnische Bevölkerung zum Christentum zu bekehren, einer völlig entgegengesetzten patriarchalischen Vorstellung von einer männlichen, dreieinigen Gottheit, dessen herrschenden Teil, JHWH, das Alte Testament der Bibel als kriegerisch, rächend, völkerzerstörend beschreibt.
So folgten den Missionaren denn auch bereits 11 Jahre später – 1201 – auf Geheiß des Papstes die Ordensritter und Schwertbrüder aus dem ″Heiligen römischen Reich deutscher Nation″, eroberten in jahrzehntelangen schweren Kämpfen Lettland und unterjochten das lettische Urvolk.
Sie gründeten die Stadt Riga an der Daugava (Düna) nahe dem Rigaischen Meerbusen. Siedler aus Norddeutschland folgten und bauten die Stadt zu einem der wichtigsten Handelsplätze der Hanse im Ostseeraum aus.
Dies hört sich zwar herrlich großartig an.
Marta Jura indes, die aparte, vielseitige, intelligente junge Lehrerin mit der ″edelstolzen Haltung″, sah das vom Standpunkt des nicht gefragten, unterdrückten lettischen Volkes etwas anders und wurde für ihre Schülerin, die junge Zenta Maurina,
zur romantischen Dichterin, zur phantastischen Schicksalskünderin unsereres Volkes. Sie erzählte von dem 700jährigen Antagonismus zwischen den lettischen Urbewohnern und den deutschen Kreuzrittern und ihren Nachkommen, von den alten kurischen Königen, den altlettischen Holzburgen, dem prunkvollen Bernstein-Schmuck, den schon die alten Römer gekannt hatten.
… Den Religionsunterricht schob Marta Jura ironisch lächelnd beiseite: ″Diese Märchen kannst du allein lesen – heute ist man längst darüber hinweggekommen. Es gibt nur einen Gott, dem man dienen muß … Das ist die Freiheit. Beten wir: Unser täglich Brot gib uns heute, so bedeutet das: unsere Freiheit gib uns wieder, denn alles Brot, das man in der Unterdrückung ißt, ist vergiftet.″
Wer aber glaubt, die Wahrheit zu besitzen, meint meist auch, sie allen Menschen ″beibringen″ zu müssen, auf Biegen und Brechen – so die christlichen Missionare im Auftrage des Papstes mit Feuer und Schwert. Viel Blut wurde vergossen, die Menschenwürde der Besiegten mit Füßen getreten.
Mögen aus christlich-deutsch-nationaler Sicht diese Kreuzritter und die ihnen folgenden hanseatischen Wirtschafts-Globalisten als edle Kulturbringer erscheinen, für die betroffenen heidnischen Völker waren sie unverschämte, selbstherrliche Eindringlinge.
Mag die düstere Trutzburg, die berühmte Marienburg in Westpreußen z. B. als Bauwerk der Ordensritter beeindrucken und viele Menschen in Ehrfurcht erstarren lassen, ich empfand sie – besonders als ich in der Düsternis ihres Innern stand – als bedrohlich, als Stätte gefährlicher Herrenhaftigkeit.
Ich stellte mir die freien Prußen und Balten vor, wie sie sich diesem anmaßenden Boten des christlichen Abendlandes, diesem selbstgerechten Männerorden plötzlich gegenüber sahen.
Semgallen
Am heftigsten war der Kampf und am längsten dauerte er in Semgallen; fast ein Jahrhundert leistete dieser stolze, reiche und furchtlose lettische Stamm den fremden Räubern Widerstand …
Wenn Christus wirklich die Menschen geliebt hat, dann waren die Kreuzritter die schlimmsten Feinde Christi … Kein Historiker berichtet uns, daß diese barbarischen Kolonisatoren auch nur eine Tat christlicher Barmherzigkeit verübt hätten.
Einige von den alten Semgallen waren so kühn und waghalsig, daß sie ihr birkenverträumtes Land verließen und einen unheimlich weiten Weg zurücklegten: Sie zogen bis nach Rom, um beim Papst gegen die Schändlichkeiten und Grausamkeiten, gegen die Bosheit und Tyrannei des Ordens Schutz zu suchen.
Sie waren offensichtlich von ihrer eigenen Geradlinigkeit und Ehrlichkeit ausgegangen und hatten noch nicht durchschaut, daß sie mit dem Papst den Bock zum Gärtner machten:
… die kleinen Völker füttert man mit hochtrabenden Phrasen, vorausgesetzt, daß man sie überhaupt anhört. In Wahrheit schützt sie niemand.
Was ist heute von unseren Stammesbrüdern, den Alt-Preußen, übriggebieben? Oder von den eigenartig begabten Basken auf der Pyrenäen-Halbinsel? … Wie hartnäckig und zäh trotz ihrer sanften Natur unsere Ahnen waren, davon berichten Sagen und Chroniken.
1289 begann der Orden mit einer systematischen Verwüstung des Landes. Man hörte nicht mehr das Säuseln der reifen Getreideähren, den Gesang der Vögel, das Rauschen der Wälder, das Brausen des Meeres, nur das Seufzen, Schluchzen, Stöhnen und Weinen der gepeinigten Menschen. Und das Wasser der Daugava wurde schwarz von den Tränen der Waisenkinder.
Das gleiche Schicksal hatten die deutschen Stämme einige Jahrhunderte vor den Alt-Preußen und Balten ebenfalls erlitten. Nun gehörten sie mit zu den Kolonisten, nicht anders als die Deutschen nach der Niederlage im 2. Weltkrieg. Hatten sich hier nicht viele ehemalige Kämpfer gegen den Bolschewismus über Nacht zu dessen Komplizen gewandelt, die nun gegen das eigene Volk vorgingen?
Als die Semgallen ihre Roggen- und Weizenfelder zertreten und verbrannt, ihre Schlösser in Asche verwandelt, ihre Frauen und heiligen Haine geschändet sahen, verließen sie alle – waren es tausend oder zehntausend oder hundertausend, wer vermag das heute genau festzustellen – jedenfalls alle, die noch gehen, wandern oder eine Bürde tragen konnten, ihre Heimat und begaben sich freiwillig ins Exil – nach Litauen und Preußen.
Besser in der Fremde als ein freier Mensch darben, als in der Heimat Sklavendienste tun.
Den deutsch-christlichen Kolonisten folgten andere Besatzer:
… auch die Russen, Polen und Schweden wollten unsere Erde an sich reißen, um das Baltische Meer zu beherrschen.
Als 1577 Iwan der Schreckliche mit einem gewaltigen Heer, in dem die Tataren und Russen einander an Gewalttaten übertrafen, Livland verwüstete und bis nach Riga vordrang, meinte man, der Antichrist sei gekommen. Jungfrauen wurden vergewaltigt, skalpiert und zerstückelt, neugeborene Kinder von Hunden zerrissen …
Diese Erzählungen der Marta Jura setzten sich allabendlich fort, und der jungen Schülerin Zenta Maurina kam es zum erstenmal zum Bewußtsein,
daß ich nicht nur mein Ich erlebte, sondern ein unlösbarer Teil eines kleinen, machtlosen, leidgeprüften Volkes war, das wie Laokoon gegen die schrecklichen Hydren, gegen die Würger im Osten und Westen kämpfte.
…
Die gewaltgierigen Nachbarn haben uns zu ihrem Kettenhund gemacht, den sie bald auf den einen, bald auf den anderen Rivalen ihrer Macht hetzen. Das Zähnefletschen haben sie uns gelehrt.
Sie düngen unsere Erde mit Menschenleibern, sie verpesten die Luft mit dem Geruch vergossenen Blutes, sie verstümmeln unsere Seele, und das ist vielleicht das Schlimmste …
Sie kamen im Namen Christi, aber die Saat, die sie säten, hieß Zwietracht und Haß.
Und nun schließt sich der Kreis,
wenn Marta Jura ihrer Schülerin erklärt, warum das lettische Volk nicht untergegangen ist:
Weil unser Volk die Sonne im Herzen trägt. Man kann tausend, man kann zehntausend hinmorden, aber die Sonne kann niemand auslöschen. Bisweilen ist sie von den Wolken der Trägheit verdunkelt, vom Dunst des Neides verdeckt, bisweilen geht sie unter, nie aber ganz verloren.
Die Sonne ist für uns nicht nur Himmelslicht, sie ist uns Waisenkindern Mutter und Freiheit, Lied und Schönheit.
Das Volkslied aber verstummte
am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, als die Leibeigenschaft gesetzmäßig eingeführt wurde. Ist eine Pein maßlos, wird die Seele stumm. Aus Tränen und ertragbaren Schmerzen macht man Lieder, in einem Ozean von Schmerzen ertrinkt auch der größte Sänger,
gibt Maurina die Worte ihrer Lehrerin wieder. Ausgerechnet einem deutschen Humanisten verdankte Lettland ein solches Gesetz von 1599:
Im Auslande und auch in den deutschen Kreisen unseres Landes war er ein hochgebildeter, geachteter Humanist, für uns aber war er ein Satan. Sein Name ist Hilchen, merk dir das … die Letten sollten ausnahmslos dem deutschen Adel unterworfen sein.
Wenn Marta Jura nun meint, dies Schicksal sei ein spezifisch lettisches, so irrt sie. Im ″Heiligen Römischen Reich deutscher Nation″ hatte sich das Gleiche abgespielt: Aus den germanisch-heidnischen Edelingen war nach der Unterwerfung durch Rom der mit Sonderrechten an Land und Volk ausgestattete „Adel“ hervorgegangen.
In den baltischen Ländern spielte sich der gleiche Vorgang nur einige Jahrhunderte später ab, hier allerdings zusätzlich in der besonders beleidigenden Form, daß die herrschende Schicht des ″Adels″ einer anderen Nation angehörte, der deutschen.
″Die Söhne der deutschen Barone und Pastoren fuhren nach Königsberg und Jena, um dort die idealistische Philosophie zu studieren. Aber in ihre Heimat zurückgekehrt, was taten sie da?″
Ich sah im Geist die weißen Schlösser, zu denen kilometerlange Ahorn- und Lindenalleen führten. In verwunschenen Parks spazierten über große Rasenflächen goldne Fasane. Vor meinem inneren Auge standen Rosenbeete, Spalierobst, alte, getäfelte Bibliotheksräume.
″Ihre Köpfe waren gebildet, aber ihr Herz war verwahrlost. In unser Land zurückgekehrt, waren und blieben sie die machtberauschten Tyrannen, sie verkauften ihre Bauern wie Haustiere, trennten Mann und Weib, trennten Eltern von ihren Kindern.
Und das zu einer Zeit, da Kant die Kritik der reinen Vernunft und die Metaphysik der Sitten längst veröffentlicht hatte …″
Und das in der lettischen Hauptstadt Riga! 1781 erschien hier die Erstausgabe der ″Kritik der reinen Vernunft″ von Kant!
″Die Deutschen bildeten einen Staat im Staate und hatten das Recht, mit lebenden Menschen zu zahlen. Dies war für sie, die immer in Geldnot waren, eine große Ersparnis. Unsere Vorfahren waren für sie nichts anderes als lebendige Arbeitsmaschinen.
Nicht einmal die Neger in Amerika waren so billig! Aber die lettische ,Onkel Toms Hütte‘ hat noch niemand geschrieben. Ein Deutscher – ja es gibt wohl überall wunderbare Ausnahmen – versuchte es. Er hieß Merkel …″
Glücklicherweise wirkten die Deutschen in Lettland, namentlich in Riga, nicht nur zerstörend, sondern hinterließen den Letten eine Hochkultur, an der sie sich heute erfreuen können. Die Unterdrückung des lettischen Volkes zu Zeiten der deutschbaltischen Adelsherrschaft ist jedoch unverzeihlich.
Marta Jura schildert das weitere Drama der Unterdrückung durch Polen, Schweden und Russen:
Der russische Zar Peter hieß wohl darum der Große, weil seine rohe Faust so groß und stark war, daß sie alles, was sie ergriff, zerdrückte. Unser Vidzeme, das die Fremden Livland nennen, riß er 1721 an sich.
Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts knallte die russische Nagaika über das gesamte Bernsteinland (die Nagaika ist eine aus Lederstreifen geflochtene Peitsche der Kosaken und Tartaren).
Und so zwingen uns noch heute diese kriegerischen Eindringlinge, mit denen uns weder Bluts- noch Geistesbande verbinden, zu fremden, einem ackerbauenden Volke widerwärtigen Gebräuchen, und zu einer Sprache, die mit der unserigen nichts gemeinsam hat.
Ein Lette, dem keine Erde gehört, verkümmert wie ein entwurzelter Baum. Eine Schande ist es, geliehene Kleider zu tragen, eine noch viel größere, in geliehenen Sprachen sein Herz auszuschütten. Wer das tut, entfremdet sich seinem eigenen Herzen und wird zu einem Halbmenschen.
Jahrhunderte hat man uns gezwungen, als Halbmenschen, entwurzelte Bäume und Kettenhunde unser eigenes Leben zu schmähen und zu verunstalten.
Marta Juras Untergang
In den Revolutionswirren von 1905 brannten über hundert Schlösser in Lettland,
diese kleinen Zitadellen bornierter Grausamkeit und starrer Tyrannei …
So auch das Schloß des Barons, bei dem Martas Vater als Kutscher arbeitete. Er wurde der Brandstiftung angeklagt, in den Keller gesperrt und ausgepeitscht. Martas Bruder hatte dabeigesessen, als sein Vater abgeführt wurde, und die Drohung zugerufen erhalten, am nächsten Tag als ″Ungeziefer″ auch noch geholt zu werden. Er erhängte sich und hinterließ einen Zettel mit der Aufschrift:
Besser der Tod als ein Leben ohne die Sonne der Freiheit.
Nun wandte sich der Haß gegen die Schwester.
Kurz vor ihrem Abitur hatte Marta sich auf den Weg nach Hause gemacht, um Bruder und Vater persönlich die freudige Botschaft von der Preisverteilung zu bringen. Aber sie fand nicht einmal die Leiche des Bruders.
Erregte Nachbarn schilderten ihr, was vorgefallen war, erwähnten auch die ″sehr gefährliche, staatsumstürzlerische Proklamation″ auf dem Zettel des Bruders, die
von Hand zu Hand, von Mund zu Mund gegangen
war.
Noch in derselben Nacht floh sie zu Fuß durch den Wald, wo es ihr weniger bang war als auf dem verwüsteten Gut: die Flammen des Hasses brannten unter ihren Fußsohlen. Sie floh durch den Wald zurück in die Stadt, und immer weiter heimlich über die Grenze ins Ausland, in die Schweiz.
Dort hatte auch das Dichterpaar Rainis und Aspasia Asyl gefunden. Beide unterstützten Marta, die sich bald in der Universität von Zürich immatrikulierte. Sie studierte fleißig und erfolgreich,
bis sie an der schrecklichen, unheilbaren Krankheit, die trotz allen Fortschritts heute wie zu Empedokles Zeiten gerade die stärksten und edelsten Menschen dahinrafft, am Heimweh erkrankte. Trotz der Warnungen des leiderfahrenen Dichters fuhr sie nach Kurland zurück.
Man sperrte sie nicht ein, aber sie war gezeichnet. Man stellte ihr ein Papier aus mit dem Vermerk: politisch unzuverlässig. Die Folge davon war, daß sie nirgends, weder an einer Volksschule noch sonstwo eine Anstellung bekam.
Eines Tages fand man ihre Leiche. Sie war im Meer ertrunken.
Marta Jura war wegen staatsfeindlicher Spionage von der russischen Geheimpolizei verhaftet und verhört worden. Die Folgen dieses Verhörs hatten sie ins Gefängnisspital gebracht.
Von dort war sie in einer dunklen Herbstnacht nur im Hemd und Gefängniskittel auf unbegreifliche Weise durch das Fenster des W.C. entflohen, bis zum Meer geschlichen und von den Molen ins Wasser gesprungen.
Ein Stück ihres Hemdes hatte sie abgerissen und auf die Mole gelegt. Darauf hatte sie mit Tintenstift geschrieben:
Besser der Tod als ein Leben ohne die Sonne der Freiheit.
Dieser Beitrag erinnert mich wieder sehr an mein eigenes Lesen vor Jahren: diese wunderbare geistige Klarheit der Marta Jura. Welch ein Glücksfall für Zenta Maurina, dass sie gerade sie als Lehrerin bekommen hat!
Das wunderschöne Bild der untergehenden Sonnengöttin, von der man schließlich nur noch ihre goldenen Haarspitzen sieht, macht einem die Letten richtig vertraut.
„Saule … sieht alles, was auf Erden geschieht“ – ist eine Parallele zum christlichen Gott: Was war zuerst da?
„Der Rautenkranz … symbolisiert die Verknotigung mit der Götterwelt“ erinnert mich an die skandinavischen Knotenmuster. Weißt Du, ob die auch so interpretiert werden?
„Ist eine Pein maßlos, wird die Seele stumm.“ Dieses und andere Lebensweisheiten von Z.M. und auch von ihrem Lebensgefährten habe ich längst in meine Sammlung aufgenommen. Man sollte sie ab und zu verbreiten, z.B. an die Zitante schicken.
Was zuerst da war, Saule oder JHWH? Wer weiß, auf jeden Fall ist die Saule plausibler als Allessehende, denn sie bescheint – für das Auge klar erkennbar – die ganze Erde, der JHWH jedoch ist ein Phantasie-Produkt, Herrscher in menschlicher Gestalt weit außerhalb der Welt. Und die Saule als Mütterchen ist auf alle Fälle die um Jahrzehntausende Ältere, aus matriarchaler Zeit Stammende.
Bei Betrachtung der Rautenmuster der lettischen Frauen und der Runensteine von Gotland könnte man einen Zusammenhang lettischen Stils mit skandinavischem Stil vermuten, die ja beide aus vorchristlicher Zeit stammen. Vielen Dank für diesen Hinweis, Elke!
„Besser der Tod als ein Leben ohne die Sonne der Freiheit.“ das würde ich nicht so unterschreiben. hat nicht jeder mal in seinem leben dunkle seiten, die dem obigen entsprechen. viele kommen durch hoffnung wieder aus diesen situationen raus und die sonne geht auf.
Da geb ich Dir im Grunde Recht. Aber hier handelt es sich um den Kampf für die Freiheit, für den das Leben eingesetzt wurde. Was damals durch den Stalinismus über die osteuropäischen Völker und halb Deutschland gekommen ist, war so schrecklich und schien so aussichtslos, daß man lieber sein Leben in die Schanze warf, als diese Rechtlosigkeit, diese Erniedrigung, diese Bosheit zu ertragen.
Heute ist die Lage von damals mit der von den Frauen z. B. in Somalia zu vergleichen. Einige haben alles gewagt, auch das Leben, um der somalischen Hölle der Willkür zu entkommen. Ayaan Hirsi Ali z. B. hat dann auch im westlichen Asyl ihre Freiheit eingebüßt, weil die Glaubensfanatiker ihres Herkunftlandes – Heimat kann man so etwas ja wohl nicht nennen – sie hier verfolgen.
An solche furchtbaren Lebenslagen muß man denken, wenn man den Spruch nachvollziehen will: „Besser der Tod als ein Leben ohne die Sonne der Freiheit.“