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Der Naturwissenschaftler Karl Grampp

veröffentlichte in der Zeitschrift „Die Deutsche Volkshochschule“, 9/18, den nachfolgenden Beitrag, mit dem er anschaulich sowohl aus naturwissenschaftlicher als auch philosophischer Sicht den Übergang zum Leben aufzeigt. Ein spannender Vorgang in der Evolution! Hier der Text:

Einleitung

Was sind Viren? Ein amerikanischer Virenforscher beantwortete diese Frage einmal so: „Viren sind schlechte Nachrichten in Eiweiß verpackt“. Damit spielt er auf die Rolle der Viren als Krankheits­erreger an.

Diese Sichtweise dürfte die Mehrheit der Menschen teilen, da sich die Viren für sie nur dann bemerkbar machen, wenn sie sie mit so lästigen Beschwerden wie Schnupfen und Herpes­bläschen oder so todbringenden Krankheiten wie Aids oder Ebola bedrohen. Inwieweit diese Sicht­weise gerechtfertigt ist, darum soll es in diesem Eintrag unter anderem gehen.

Das Wissen über Viren hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen.

Es ist für jeden an der Natur interessierten Menschen begeisternd, was für eine geheimnisvolle Welt sich hier auftut.

Viele Viren sind heute in allen Einzel­heiten, bis hinab auf die molekulare Ebene, erforscht. Dazu gehört ihr genauer Aufbau, die Art und Weise, wie sie in menschliche Zellen eindringen, sich dort vermehren und dann wieder ausgeschleust werden. Einige dieser Erkenntnisse werfen ein ganz neues Licht auf den Ablauf der Evolution und die bisher unterschätzte Rolle der Viren dabei.

Unsere Betrachtung über die Viren führt aber auch zu ganz grundsätzlichen Fragen. Viren gelten üblicherweise nicht als Lebewesen, jedoch gerät in jüngster Zeit auch dieser Standpunkt ins Wanken. Leben sie vielleicht doch?

Wodurch sind überhaupt Lebewesen als solche gekennzeichnet?

Damit ist eine weitere Frage verknüpft:

Wie erfolgte in der Evolution der Übergang zum Leben? Was haben Viren damit zu tun? Es gibt eine Philosophin, [Mathilde Ludendorff], die in enger Fühlung zur Biologie diesen Fragen nachgegangen ist. Ihr einschlägiges Werk „Schöpfungsgeschichte“ ist 1923 erstmals erschienen (1). Das ist 95 Jahre her – viel zu alt, um sich damit zu befassen? Lassen Sie sich überraschen:

Viren haben es in sich – sowohl aus biologischer als auch aus philosophischer Sicht!

Was sind Viren?

Zunächst einmal sind sie sehr sehr klein! Sie gelangen ungehindert selbst durch die äußerst fein­porigen Filter, die Bakterien zurückhalten. Die kleinsten bekannten Viren haben gerade einmal einen Durchmesser von 20 Nanometern. 1 Nanometer ist 1 Millionstel Millimeter! Daher können Viren i.d.R. nur mit einem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht werden. Nur die größten Vertreter sind gerade noch unter dem Lichtmikroskop zu erkennen.

Bild: Wikimedia Commons

Im einfachsten Fall bestehen Viren aus einer Eiweißhülle (Kapsid), welche das Erbgut des Virus umhüllt. Das Erbgut kann, wie bei den Pflanzen und Tieren als Desoxyribonukleinsäure (DNS) vorliegen oder als Ribonukleinsäure (RNS).

„Behüllte“ Viren besitzen außer der Eiweißhülle auch noch eine Membran aus sogenannten Lipiden als äußerste Schicht. Sie zeigt den gleichen Aufbau wie bei allen Tier- und Pflanzenzellen. Das Erbgut, die Gene, enthält die Information zur Erzeugung von viruseigenen Eiweißen (genauer gesagt für die Reihenfolge der Aminosäuren, aus denen die Eiweiße zusammengesetzt werden).

Die kleinsten Viren enthalten gerade einmal die Information für 2-4 Eiweiße, die größten für mehr als 2500. Das Fehlen einer bestimmten Eigenschaft ist für das Wesen der Viren von ganz entscheidender Bedeutung:

Sie haben keinen eigenen Stoffwechsel und können sich nicht aus eigener Kraft vermehren.

Sie sind dazu auf die Hilfe von Zellen anderer Lebewesen angewiesen. Um sich zu vermehren, müssen sie andere Zellen infizieren, um sie dann zu manipulieren, man könnte auch sagen umzuprogrammieren, damit die Zellen mit ihren zelleigenen Werkzeugen in den Dienst des Virus treten.

Eine kurze Definition von Viren lautet daher: Es sind infektiöse, sich ausschließlich mit Hilfe anderer Zellen fortpflanzende, Parasiten. Dies ist der wesentliche Grund, warum sie üblicherweise nicht zu den Lebewesen gezählt werden.

Vermehrungskreislauf

Die Aufklärung des Infektionszyklus, also des Kreislaufes vom Andocken des Virus auf der Ober­fläche einer Wirtszelle bis zum Ausschleusen der neu erzeugten Viruspartikel aus der Zelle ist eine Großtat der Virusforscher.

Besonders eindrucksvoll ist die Erforschung des HI-Virus, umgangs­sprachlich als Aids-Virus bezeichnet. Erst 1981 wurde Aids als eigenständige Krankheit anerkannt. Zwei Jahre später wurde das Virus erstmals beschrieben.

Innerhalb weniger Jahre gelang es, das Virus zu isolieren, seinen genauen Aufbau zu erforschen und auf dieser Grundlage hervorragend wirksame und gut verträgliche Medikamente zu entwickeln. Diese führen zwar noch nicht zu einer endgültigen Heilung, ermöglichen aber infizierten Menschen eine fast normale Lebenserwartung.

Man kennt heute alle Gene und alle Proteine des Virus.

Man weiß genau, an welchen Oberflächenstrukturen der Zelle das Virus andockt, wie es eindringt, ausgepackt wird, wie seine als RNS vorliegende Erbinformation in DNS (die Sprache der Zelle) übersetzt wird, wie dann diese DNS in den Zellkern eingeschleust und in das Erbgut der Wirtszelle eingebaut wird. Dort wird sie wie die zelleigene Erbinformation abge­lesen, erneut in Form von RNS aus dem Zellkern herausbefördert, um an den Ribosomen als Vorlage für die Erzeugung von Viruseiweißen zu dienen.

Vielfach vermehrtes Viruserbgut und zugehörige Viruseiweiße werden wieder zu vollständigen Viruspartikeln zusammengesetzt und verlassen die Zelle, indem sie ein Stück der Zellmembran als Hülle „mitnehmen“. Da man diesen Zyklus bis auf die molekulare Ebene hinab kennt, war es möglich, gezielt Medikamente zu entwickeln, die an verschie­denen Stellen diesen Kreislauf unterbrechen können.

Bedeutung als Krankheitserreger

Wir haben darüber gesprochen, daß Viren üblicherweise als Krankheitserreger wahrgenommen werden. Das kommt nicht von ungefähr. Ende 2014 waren z.B. 36,9 Mio. Menschen mit HIV infiziert. 1,2 Mio. starben alleine im Jahr 2014 daran (2). Bis heute sind ungefähr 39 Mio. Menschen daran gestorben (Wikipedia).

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, daß 71 Mio. Menschen mit HCV, dem Erreger der chronischen Hepatitis[1] C und 257 Mio. mit HBV, dem Erreger der chronischen Hepa­titis B infiziert sind. 2015 sind schätzungsweise 1,34 Mio. Menschen an einer durch Viren verursach­ten chronischen Leberentzündung gestorben (3). Der Spanischen Grippe erlagen zwischen 1918 und 1920 zwischen 25 und knapp 50 Mio. Menschen (Wikipedia).

Viren können auch Krebs erzeugen. Für die Entdeckung des Zusammenhanges zwischen Gebärmutterhalskrebs und Humanen Papillomaviren erhielt der deutsche Forscher zur Hausen 2008 den Nobelpeis für Medizin. Viren können also Krank­heitserreger sein – zweifellos trotzdem wäre unser Bild von ihnen grob verfälscht, wenn wir uns auf diese Sichtweise beschränken würden.

Viren sind viel mehr als nur Feinde von anderen Lebewesen.

Wenden wir uns daher einem neuen, spannenden und überraschenden Bild der Viren zu.

Das neue Bild der Viren

Häufigkeit von Viren

  • Wie viele Menschen gibt es? Rechnen wir der Einfachheit halber großzügig mit einer Zahl von 10 Mrd. (genau genommen sind es „erst“ 7,74 Mrd.). Das sind 1010 oder eine 1 mit 10 Nullen.

  • Wie viele Sterne gibt es am Himmel? Rund 1025, also eine 1 gefolgt von 25 Nullen.

  • Bakterien sind es noch mehr: 1031.

  • Und Viren? 1033!

Den Angaben der international bekannten deutschen Virologin Karin Mölling[2] zufolge, gibt es also mehr Viren als Bakterien und sogar mehr Viren als Sterne. Würde man alle Viren aneinanderreihen, käme man auf eine Strecke von 10 Mio. km (4). Zum Vergleich: Der Durchmesser der Sonne beträgt nur 1,4 Mio. km.

Natürlich sind das alles außerordentlich grobe Schätzungen, auf ein paar Nullen hin oder her soll es hier nicht ankommen. Der Punkt ist: Viren sind nicht ein paar exotische winzige Gebilde, die man sich zufällig irgendwo aufschnappt und an denen man, wenn man Pech hat, auch sterben kann.

Viren sind überall und man ahnt vielleicht jetzt schon, daß ihre Bedeutung eine ganz andere ist, als nur Auslöser von Krankheiten zu sein. Wenn Viren überall zu finden sind und Pflanze, Tier und Mensch i.d.R. trotzdem gesund ihr Dasein verbringen, dann heißt das: Die weitaus größte Zahl der Viren können keine Krankheitserreger sein!

Mikrobiom: Lebensgemeinschaft mit Viren, Bakterien, Pilzen

Ein überraschendes Ergebnis des “Human Genom Projektes (der vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes) war, daß das menschliche Erbgut ungefähr zur Hälfte viralen Ursprungs ist[3]! (4) Auch andere Lebewesen enthalten mehr oder weniger große Mengen an viralem Erbgut.

Auf und im Menschen lebt ein Vielfaches mehr an Bakterienzellen und noch viel mehr an Viren als wir selbst Körperzellen besitzen, und dabei sind die Pilze noch gar nicht berücksichtigt! Die Gesamt­heit aller Mikroorganismen auf einem Körper wird als Mikrobiom bezeichnet.

2012 wurden die neuen Erkenntnisse zum Mikrobiom von „Nature“, einer der führenden naturwissenschaftlichen Fachzeit­schriften, als einer der 10 wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche bezeichnet (4).

„Der Mensch ist ein Superorganismus, ein komplexes Ökosystem“, schreibt Karin Mölling. Wir leben alle weit­gehend friedlich mit diesen Mitbewohnern, die Krankheit ist der Ausnahmefall, nicht die Regel.

Und nicht nur das: Wir sind für ein gesundes Leben auf diese Mitbewohner angewiesen! An dieser Stelle möchte ich auf die philosophische Deutung solches friedlichen Zusammenlebens in der Natur hin­weisen.

In „Wunder der Biologie“ (Bd. 1) widmet Mathilde Ludendorff ein ganzes Kapitel diesem Thema (5). Es heißt „Lebensgemeinschaften bezeugen das Weltbild der Schöpfungsgeschichte“. Darin verweist sie auf die Vollkommenheit des Selbsterhaltungswillens bei allen Lebewesen außer dem Menschen. Dieser vollkommene Selbsterhaltungswillen will nur die Selbsterhaltung, nicht Vernich­tung und Beherrschung eines Gegners. Die Erscheinungswelt zeigt ein Töten unter den Lebewesen, wenn es die Selbsterhaltung erfordert, darüber hinaus herrscht jedoch Harmonie im Weltall. Mathilde Ludendorff spricht von einer Einheit der Lebewesen in der Vielheit. Eine schöne Übereinstimmung von Virologie und Philosophie!

Viren als Symbionten

Viren nicht als Parasiten, sondern als „Nützlinge“, das ist ein ungewöhnlicher Gedanke. Folgendes Beispiel zeigt die Wirklichkeit dieses neuen Bildes der Viren:

HIV ist deshalb so gefährlich, weil es in der Lage ist, das Immunsystem des Körpers zu unterdrücken. Man spricht deshalb von der Immun­schwächekrankheit Aids. Ein Unterdrücken der Immunabwehr kann aber auch sinnvoll sein, wenn es z.B. darum geht, daß eine Mutter den im Mutterkuchen (Plazenta) sich einnistenden und heranwach­senden Embryo nicht abstößt. Wie ist diese Fähigkeit in der Evolution entstanden?

Ein mit dem HIV verwandtes Virus[4] übertrug einst die genetische Information für ein Protein seiner Virushülle an seinen Wirt. Dieses Protein führt heute im Mutterkuchen zu einer örtlichen Immunschwäche und ermöglicht so das Aufwachsen des Keimes (4)!

Es gibt weitere Bespiele für solche endogenen, also fest ins Wirtsgenom eingebauten, ehemaligen Virusgene, die nun wichtige Aufgaben für den Wirt erfüllen. Dazu gehört das Keratin-Gen, das für Haut und Augen wichtig ist, Gene für das Immun­system, Gene für das Parathormon aus den Nebenschilddrüsen oder ein Gen für den Stärkeabbau (6).

Es gibt Hinweise darauf, daß auch die genetische Information für das Sehpigment in unseren Seh­zellen von Viren „erfunden“ wurde (4). Aufgrund solcher Fälle vertreten einige Forscher die Ansicht, daß Viren auch Symbionten sein können. Der Biologe und Mediziner Frank Ryan schrieb ein ganzes Buch dazu (6). Er schildert darin ein besonders eindrucksvolles Beispiel, das in der naturwissen­schaftlichen Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Ein Virus in einem Pilz in einer Pflanze: Für thermische Toleranz ist eine Dreiersymbiose nötig“, wird beschrieben, wie ein Virus einen Pilz infiziert, der wiederum eine Hirsepflanze infiziert. Dadurch erträgt die Pflanze hohe Temperaturen. Dies ist aber nur der Fall, wenn Pilz und Virus beteiligt sind!

„Springende Gene“

Ein Ergebnis des Human Genom Projects war der hohe Anteil viraler Gene in unserem Erbgut. Es gab aber noch weitere Überraschungen. Das menschliche Erbgut zeichnet sich nicht durch besonders viele Gene aus, im Gegenteil, sondern durch die größere Länge der Gene und ihre starke Kombinierbarkeit.

Ermöglicht wurde dieses Kombinieren ursprünglich durch das Springen von Genen. Es gibt tatsächlich bestimmte Gene, die an andere Stellen im Erbgut springen können! Man spricht daher auch von „springenden Genen“[5].

Da dieses Springen jedoch auch gefährlich für die Zelle sein kann, muß es streng kontrolliert werden, daher sind im heutigen Erbgut des Menschen nur noch wenige solche Elemente zum Springen fähig.

Es gibt ein schönes Beispiel für dieses Phänomen beim Mais, bei dem es auch entdeckt wurde: Die verschieden gefärbten Maiskörner an ein und demselben Maiskolben sind auf springende Gene zurückzuführen (4)! Was hat das mit unserem Thema zu tun? Es spricht vieles dafür, daß die springenden Gene ursprünglich von Viren stammen.

Die Besonderheit des mensch­lichen Erbgutes, daß verschiedene Gene miteinander kombiniert werden können, haben wir also ver­mutlich den Viren zu verdanken!

Vielfalt der Viren: Von Bakteriophagen bis Riesenviren

Bakteriophagen (Bild: Wikimedia Commons)

Die Vielfalt der Viren ist ungeheuer groß: Es gibt Viren, die nur 10 Gene besitzen (z.B. das Aids-Virus) und es gibt Viren, die bis zu 2500 Gene ihr Eigen nennen (zur Erinnerung: Der Mensch hat ungefähr 22000 Gene).

Es gibt Viren, die die Zelle überhaupt nicht mehr verlassen und solche, die nicht einmal mehr das Erbgut ihres Wirts verlassen. Sie werden als Endoviren bezeichnet.

Es ist schon lange bekannt, daß auch Bakterien von Viren befallen werden können. Man nennt diese Viren „Bakteriophagen“, was „Bakterienfresser“ bedeutet. Manche sehen aus wie Mondlandefähren.

„Ein Schluck Ostseewasser enthält 100 Mio. bis 1 Mrd. Phagen“, schreibt Karin Mölling. Im Jahr 2008 gab es eine weitere Überraschung: Es wurde erstmals ein Virus entdeckt, das andere Viren enthält! Ein Riesenvirus, Mimivirus genannt, kann viele kleine „Sputnik-Viren“ enthalten.

Damit sind wir bei einer neuen Virusgruppe angelangt, deren Entdeckung viel Aufsehen erregte: Die Entdeckung von Riesenviren oder Gigaviren (auch als Amöbenviren bezeichnet, weil sie in Amöben vorkommen).

Oben wurde erwähnt, daß Viren typischerweise Bakterienfilter ungehindert passieren können. Das konnte der niederländische Biologe Martinus Beijerinck in seinen berühmten Versuchen an Tabakpflanzen bzw. dem Tabakmosaikvirus zeigen.

Tabakmosaikviren (Bild: Wikipedia)

Heute kennt man Viren, die sogar größer sind als manche Bakterien. Ihr Erbgut enthält die Information für rund 1000 Proteine. Beim kleinsten Bakterium sind es gerade einmal 482 Proteine.

Einige dieser Gigaviren enthalten sogar Gene für die Proteinsynthese, was bisher undenkbar war (4). Wir erinnern uns: Viren besitzen zwar die genetische Information für die Reihenfolge der Aminosäuren, aus denen die Virusproteine zusammengesetzt sind, nicht aber für den Herstellungsvorgang selbst.

Um die Virusproteine zusammenbauen zu können, sind sie auf die Hilfe der Wirtszellen angewiesen. Bei den Riesenviren könnte es sich um eine Übergangs­form zu den Bakterien handeln, die schon „fast“ in der Lage sind, ihre eigenen Eiweiße herzustellen. Da Viren nach gängiger Definition nicht als lebendig gelten, hieße das gleichzeitig, daß sie am Über­gang zum Leben anzusiedeln wären. Dazu kommen wir noch.

Viren im Ökosystem

Man sieht, das bisherige Weltbild über die Viren bedarf dringend einer Erweiterung. Am Ende dieses Abschnittes zeige ich noch ein Beispiel für die Rolle der Viren in unserer makroskopischen Welt, auf der Ebene ganzer Ökosysteme.

Was haben die Kreidefelsen von Rügen mit Viren zu tun? Die Felsen bestehen aus den Gehäusen von unzähligen abgestorbenen Kalkalgen, z.B. der hübschen kleinen Alge Emiliania huxleyi. Und wer brachte sie zum Absterben? Das waren die Viren, genauer gesagt das Phycodna-Virus. Es lebt in den Kalkalgen und bringt sie unter bestimmten Umständen zum Absterben.

Ein ähnliches Phänomen kann man auch heutzutage in der Ostsee beobachten. Durch die Über­düngung des Meeres kommt es dort immer häufiger zu Massenvermehrungen von Algen und zur Bildung kilometergroßer grün-, rot- oder braungefärbter Algenteppiche. Es kommt zu Platz- und Nährstoffmangel, die Gigaviren in den Algen werden aktiviert und zerstören diese. Es bilden sich weiße Schlieren, die sogar aus dem Weltall zu sehen sind. Kleine Ursache – große Wirkung!

Bedeutung der Viren für die Evolution der Arten

Es gibt mehrere Theorien zur Entstehung von Viren. Die gängigste ist die „Zelle-zuerst-Hypothese“. Demnach wären Viren Gebilde, die in Zellen entstanden sind, ein Stück Erbgut „gestohlen“ hätten und irgendwann ausgeschleust wurden, wobei sie noch ein Stück der Zellmembran „mitgehen“ ließen, um sie sich als Mantel umzuhängen.

Karin Mölling vertritt dagegen die „Virus-zuerst-Hypothese“. Dem­nach hätten Viren mitgewirkt, die ersten zellulären Lebewesen aufzubauen. Die allgemeine Entwick­lung sei vom Einfachen zum Komplizierten gelaufen, also vom Virus zur Zelle. Erst später seien die Viren zu Parasiten geworden. Sie hätten Aufgaben an den Wirt delegiert und seien von ihm abhängig geworden. Sie schreibt:

Alle heutigen Viren brauchen eine Wirtszelle zur Vermehrung. Dabei liegt die Betonung auf heute, aber ob das immer so war, ist die Frage.

Sie meint, daß die ersten Viren und die ersten Zellen einander sehr ähnlich sahen, es waren einfache Säckchen aus Lipidmembranen, die ein paar Biomoleküle enthielten. Vielleicht erübrige sich die Frage, ob so ein Gebilde eine Zelle oder ein Virus sei?

Der amerikanische Virologe Luis P. Villarreal weist auf folgenden Punkt hin: Die Genome der Viren haben keine große Ähnlichkeit mit den Genomen der Zellen, es gibt viel mehr Virusgene als Zellgene. Die große Mehrheit der Virusgene kommt weder in Bakterien noch in Pflanzen oder Tieren oder irgendwelchen anderen Wirten vor.

Das bedeutet, daß Viren imstande sind, aus sich heraus komplexe Gene zu erschaffen. (zit. nach 4).

Das spricht gegen eine Abstam­mung der Viren von lebenden Zellen. Einer amerikanischen Forschergruppe zufolge waren die Viren ursprünglich einfache zelluläre Gebilde (7). Aus diesen gingen alle heutigen Domänen des Lebens hervor: Archäen, Bakterien und Organismen mit echtem Zellkern: Pilze, Pflanzen und Tiere.

Als die Viren zu einer parasitären Lebensweise übergingen, verloren sie immer mehr ihrer Zellausstattung, bis sie schließlich völlig auf ihren Wirtsorganismus angewiesen waren.

Die Riesenviren wären nach dieser Auffassung noch die ursprünglichsten, am wenigsten reduzierten Viren.

In heutigen Zellen ist die DNS der Speicher der genetischen Information. Die RNS hilft, diese Infor­mation verfügbar zu machen. Viele Forscher gehen heute davon aus, daß am Beginn der biologischen Evolution eine RNS-Welt bestand, d.h. zuerst die RNS da war und dann erst die DNS. Aus Platz­gründen kann dies nicht näher ausgeführt werden, wichtig ist in unserem Zusammenhang nur, daß eine solche RNS-Welt gut zu der Virus-zuerst-Hypothese passen würde.

Es gibt RNS, die sich wie ein Virus verhält, aber keine Hülle besitzt und daher traditionell nicht als Virus bezeichnet wird: Man nennt sie Viroide, also virusähnliche Gebilde. Sie können Pflanzen infizieren, sich vermehren und Krankheiten auslösen, genau wie Viren. Karin Mölling hält sie für die ältesten Vertreter und Über­bleibsel der RNS-Welt. Übrigens: Viroide sind keine seltenen Exoten: Wir essen sie täglich mit unserem Salat!

Viren sind die Evolutionsmaschinen der Zellen. Viren sind die Triebkräfte der Evolution. Sie sind Erfinder, Probierer von Möglichkeiten, sie sind Anfänger des Lebens,

schreibt die Virologin.

Dies hängt u.a. mit dem Phänomen des horizontalen Gentransfers zusammen. Gene können nicht nur an die Nachkommen derselben Art weitergegeben werden (vertikal), sondern auch an andere Arten (hori­zontal). Bei Bakterien und Viren ist dies besonders ausgeprägt.

Wir hatten schon erwähnt, daß unser eigenes Erbgut ungefähr zur Hälfte aus ehemaligem Viruserbgut stammt. Ein Beispiel wie man sich einen Beitrag der Viren zur Evolution bestimmter Arten vorstellen kann, haben wir schon kennen­gelernt:

Die Fähigkeit der Plazentatiere (die Mehrzahl der Säugetiere), ihre Embryonen nicht abzu­stoßen, stammt von Viren. Ein französischer Forscher hat aus solchen „fossilen“ Virussequenzen in unserem Erbgut ein funktionsfähiges Virus zusammengebaut. Karin Mölling:

… das zusammenge­bastelte Virus war infektiös, es konnte Zellen infizieren und sich vermehren. Dies war ein schlagender Beweis, daß die toten endogenen Retroviren im Erbgut des Menschen von richtigen Viren abstammen. Es war die Auferstehung eines „Toten“, das war unheimlich!

Es wäre einen Aufschrei der Zeitge­nossen wert gewesen, daß da ein Virus nach 35 Millionen Jahren reaktiviert worden war und wieder anstecken konnte.

Das Virus war gleichsam auferstanden aus der Asche, daher erhielt es sinniger­weise den Namen Phönix!

Eine Virusinfektion ist für das Erbgut ein großer Innovationsschub, da kommt mit einem Schwung ein Satz an Genen zum vorhandenen Erbgut hinzu. (Mölling)

Die Virus-zuerst-Hypothese und die Bedeutung der Viren für die Evolution anderer Arten sind noch nicht allgemein anerkannt, aber sie sind Gegenstand der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion.

Fortsetzung folgt

Quellenverzeichnis

  1. Ludendorff, M. (1954): Schöpfungsgeschichte. – Erstausgabe 1923. Pähl: Hohe Warte. 159 S.
  2. Hoffmann, C., Rockstroh, J.K. (Hrsg.): HIV 2016/2017. www.hivbuch.de. Hamburg: Medizin Fokus Verlag. 712 S.
  3. Global Hepatitis Report 2017, http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/255016/1/9789241565455-eng.pdf)
  4. Mölling, K. (2015): Supermacht des Lebens. Reise in die erstaunliche Welt der Viren. – München: C.H. Beck. 318 S.
  5. Ludendorff, M. (1950): Wunder der Biologie im Lichte der Gotterkenntnis meiner Werke. – 1. Band. Stuttgart: Hohe Warte. 362 S.
  6. Ryan, F. (2009): Virolution. Die Macht der Viren in der Evolution. – Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
  7. Nasir, A., Caetano-Anollés, G. (2015): A phylogenomic data-driven exploration of viral origins and evolution. – Sci. Adv. 2015;1:e1500527: 1-24
  8. https://www.colloids.uni-freiburg.de/Methoden/dispersionen
  9. http://www.weltderphysik.de/gebiet/theorie/symmetrien/kolloidale-kristalle-und-kugel­packungen/
  10. Adam, G. (o.J.): Stufen der Schöpfungsgeschichte in der molekularen Biologe. Unveröffentlich­tes Manuskript.
  11. http://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/5954/
  12. http://www.fz-juelich.de/ics/ics-2/DE/UeberUns/Organisation/organisation_node.html

[1] Hepatitis = Leberentzündung

[2] Sie forschte u.a. an der Universität von Kalifornien (Berkeley), am Max-Planck-Institut für Virologie in Tübingen und als Professorin an der Universität in Zürich. Sie entdeckte u.a. ein wichtiges Virusenzym und lieferte wichtige Beiträge zur Erforschung krebsauslösender (Virus-) Gene.

[3] Unser Erbgut enthält auch Erbgut von Bakterien, Pilzen und sogar Pflanzen! (4)

[4] aus der Gruppe der Retroviren

[5] Auch als (Retro-) Transposons bezeichnet

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sr
sr
5 Jahre zuvor

Gilt – zumindest – für das Masern Virus nicht:

Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 01.12.2016, Az. I ZR 62/16, über die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde. Damit ist das Urteil des OLG Stuttgart rechtskräftig, die Realexistenz des Masernvirus nach den verbindlichen Regeln der Wissenschaft konnte nicht durch Vorlage einer wissenschaftlichen Arbeit bewiesen werden,….

Gabriele
Gabriele
2 Jahre zuvor

Nun, da stimme ich den beiden bisherigen Kommentatoren voll zu.
Ich hatte diesen Artikel schon mal vor ein paar Jahren gelesen.
Da er mir jetzt nochmal über den Weg gelaufen ist, las ich ihn noch einmal um mir ein Bild zu machen, was darin stand.
Was mich gleich störte war, daß nicht zu erkennen ist, wer das überhaupt verfasst hat.
Mir scheint, mit diesem Artikel will die These von Karin Mölling verbreitet werden, daß wir jetzt sogar nicht nur vom Affen, sondern auch noch von den Viren abstammen.
Meines Wissens wurde doch noch nie ein Virus isoliert.
Bin verwundert, diesen Artikel hier zu sehen und verstehe nicht ganz die Beweggründe. Was will Adelinde damit ausdrücken???

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