Ein Schicksal, das das sowjetische Militärregime in seiner ganzen Grausamkeit kennzeichnet – 2. Teil
Freitag, 21. März 2025 von Adelinde
Wolfgang Lehmann
berichtet weiter aus seiner Jugendzeit unter stalinscher Gewaltherrschaft:
Im Sowjet-KZ Ketschendorf
Wir Insassen
Etwa Mitte November wurde ich zusammen mit anderen Häftlingen, zu denen auch Ulli gehörte, auf Lastkraftwagen verladen. Nach längerer Fahrstrecke wurden wir ausgeladen und waren – was ich erst viel später erfuhr – im Speziallager (so nannten es die Sowjets und die ganz Genauen unter den Deutschen heutzutage auch) Ketschendorf. Ich nenne es dagegen KZ, denn nur darunter verstehen unbefangene Leser heutzutage, was sich dahinter verbarg.
Heinz Liebscher war nicht mit uns nach Ket-schendorf gekommen. Er tauchte nie mehr auf. Vermutlich ist er in Cottbus umgebracht worden. Eine andere Erklärung gibt es nicht! 2016 erzählte mir bei einem Besuch in Groß-räschen mein Schicksalsgefährte Alfred Hubein (*1927), daß in Cottbus Todesurteile vollstreckt wurden.
Im Laufe der Zeit fanden sich immer mehr Jungen aus Großräschen im Lager ein. Die ersten waren schon im Sommer 1945 ver-haftet worden, die letzten im Frühjahr 1946. Nach meiner Übersicht wurden damals in Großräschen 90 % der Jungen zwischen 15 und 18 Jahren verhaftet. Mehr als die Hälfte kehrte nicht zurück.
Die Errichtung und Funktionsweise des Lagers
Dieses Lager war von den Sowjets schon im April 1945, also noch kurz vor Ende der Kampfhandlungen, in der Wohnsiedlung der Deutschen Reifenwerke in Fürstenwalde ein-gerichtet worden. Sie war 1940 für ca. 500 Einwohner errichtet worden. Im Frühjahr 1946 waren etwa 10 500 Menschen darin eingepfercht.
Wie bereits angemerkt, mußten im April 1945 die Bewohner auf der Stelle ihre Wohnungen verlassen. Gerade was sie tragen konnten, hatten sie mitnehmen dürfen. Mit dem Mobi-liar wurde ein Panzergraben, das waren etwa 4 m tiefe Gräben mit schrägen Böschungen, welche die Fahrt der Panzer verhindern soll-ten, zugefüllt. Es wurde erzählt, ein Häftling habe seine eigene Wohnung auf diese Weise freimachen müssen.
Die Siedlung bestand aus Mehrfamilien-Wohnhäusern und Reihenhäusern. Umgeben war das Lager mit einem hohen Bretterzaun, in dem in Abständen Wachtürme eingeglie-dert waren. Stacheldrahtzäune davor und dahinter dienten zur weiteren Absicherung, wobei im äußeren Zwischenraum scharfge-machte Hunde liefen. Nachts waren die Ab-sperrungen durch Scheinwerfer angestrahlt. Jegliche Flucht sollte unmöglich sein.
Im Lager waren einige kleine Häuser noch einmal mit hohen Stacheldrahtzäunen um-geben, das war der ‚Frauenzwinger’, in dem Mädchen und Frauen eingesperrt waren. Darunter war Marianne Simson, eine bekann-te Filmschauspielerin, die ich selbst dort gesehen habe. Sehen konnten wir uns, aber miteinander zu sprechen, war strengstens verboten.
Wir Jugendlichen waren in einem 8-Famili-enhaus untergebracht, das im Höhepunkt der Belegung etwa Anfang 1946 ungefähr 1200(!) Jungen aufnehmen mußte. Die jüngsten wa-ren 12 und 13 Jahre. Es gab zwei Eingänge, nach denen gleich eine Treppe zum Keller führte. Meine erste Schlafstätte war im rech-ten Eingang auf der Kellertreppe die 3. Betonstufe von oben.
Mein Trauma
Als ich im August 1991 zum ersten Mal wieder das Lager besuchte (in der DDR wäre das sehr gefährlich gewesen, weil man das Bestehen eines solchen Lagers leugnete, nach dem Mauerfall hatte ich nicht gleich die Kraft dazu) und mich auf diese Stufe setzte, bekam ich einen Nervenzusammenbruch. Das Trau-ma meiner Gefangenschaft werde ich wohl nie loswerden.
Im Laufe der Zeit starben aus dem angren-zenden Keller immer mehr Jungen weg, so daß ich in den Keller nachrücken konnte. Wir lagen auf dem Betonboden und in etwa 70 cm Höhe auf einer hölzernen Pritsche so eng aneinandergepreßt und auf der gleichen Seite, daß sich alle gemeinsam umdrehen mußten, wenn einer es in der Stellung vor Schmerzen nicht mehr aushalten konnte.
Es gab ja keine Matratzen oder andere Unter-lagen zum Liegen, auch zum Zudecken gab es nichts. Die keinen Mantel wie ich hatten, lagen sich bald die Haut über den Becken-knochen durch, zumal wir wegen der völlig unzureichenden „Ernährung“, die diesen Namen nicht verdiente, immer mehr abma-gerten.
So behandelten sie uns – die Zustände in Ketschendorf
Unter der Pritsche auf dem Betonboden kam noch hinzu, daß nachts Wanzen aus den Ritzen der Pritschenbretter auf die Schläfer fielen. Da lernte ich, daß Wanzen nach Mar-zipan riechen. Auch mit Läusen und Flöhen waren wir verseucht. Um die dadurch ent-stehende Seuchengefahr zu mildern, wurden uns alle Körperhaare abgeschoren.
Da die dazu benutzten Maschinen stumpf waren, schmerzte es sehr. Es war für mich auch seelisch belastend, als mir die Scham-haare abgeschnitten wurden. Die Glatze empfand ich ebenfalls als äußerst demüti-gend, was neben dem Hygienegrund von den Sowjets sicherlich beabsichtigt war.
In Abständen von einigen Wochen durften wir ins „Bad“. Das warme Wasser aus der Dusche wurde so sparsam gewährt, daß man oft nicht einmal die Seife abspülen konnte.
In dieser Zeit kam unsere Kleidung in die „Entlausung“. Dabei wurden die Sachen in Kammern mit heißer Luft behandelt, ohne daß die Wirkung allerdings durchgreifend gewesen wäre. Als Nebenwirkung fingen unsere Sachen an, langsam zu zerfallen.
Seit meiner Verhaftung hatte ich keine neue Wäsche bekommen. Gewaschen wurde sie auch nicht. Sicherlich rochen wir dadurch nicht appetitlich. Da aber alle „stanken“, fiel es nicht auf.
Irgendwie hatte ich ein Stück dünnen Kup-ferdraht aufgetrieben, den ich auf einer rauhen Betonfläche an einem Ende zu einer Spitze anschliff. Am anderen Ende gelang es mir, ein Loch zu machen. Wie ich das fertig gebracht habe, weiß ich nicht mehr, denn Werkzeuge durften wir ja nicht haben. Nun konnten wir mit dieser „Nähnadel“ unsere Wollsocken „stopfen“.
Da die Leichen nackt verscharrt wurden, kamen deren Sachen „unter die Leute“, so auch Wolle aus aufgetrennten Pullovern. Die „Löcher“ in den Socken waren inzwischen so groß geworden, daß die Instandsetzung nur am Fuß erfolgen konnte.
Krankheiten und Sterblichkeit
Durch die starke Überbelegung der Häuser waren die Sanitäreinrichtungen bald un-brauchbar geworden. So baute man vor dem Jugendhaus eine lange hölzerne Rinne, über die horizontal ein Rohr verlief, in dem in Abständen kleine Löcher waren, aus denen Wasser lief.
Bei Frost war diese „Waschanlage“ allerdings nicht benutzbar, so daß wir uns in dieser Zeit nicht waschen konnten. Zähneputzen war so-wieso nicht möglich, da niemand eine Zahn-bürste hatte. Für die Notdurft gab es den „Donnerbalken“, eine langgestreckte Grube, an deren Rand ein Rundholz etwa 60 cm über dem Boden angeordnet war, worauf man sich setzte. Papier oder andere nützliche Sachen zum Abwischen gab es nicht.
Durch diese völlig unzureichenden hygieni-schen Verhältnisse, wozu noch die äußerst karge Verpflegung kam, entwickelten sich bald Krankheiten, die zu einer hohen Sterb-lichkeit führten. Im Sommer 1946 wurden mitunter täglich mehr als 50 Tote aus dem Lager gefahren. Etwa 12.000 Menschen sind während seines Bestehens, vom April 1945 bis April 1947, durch das Lager gegangen. Man konnte sich fast ausrechnen, wann man „dran“ sein würde.
So blieb ich vom Schlimmsten verschont
Die Toten wurden nur anfangs in Einzelgrä-bern bestattet, indes bald im sogenannten Wäldchen, direkt neben der Autobahn, in Massengräbern würdelos nackt verscharrt. Eine Schicht kam auf die andere.
Benachrichtigungen an Angehörige gab es nicht, auch keinen sonstigen Nachrichten-austausch. Das blieb sogar nach der Auf-lösung des Lagers im April 1947 so.
Ich bekam zwischen den Fingern und den Zehen kleine Bläschen, deren zunächst helle Flüssigkeit sich schnell zu gelblichem Eiter verwandelte, verbunden mit sehr starkem Juckreiz. Bei dem stumpfsinnigen Vorsichhin-Dösen hatte ich nur einen Wunsch:
Wenn ich entlassen sein würde, wollte ich mich zu Hause mit der größten Lust völlig blutig kratzen! Im Lager habe ich allerdings mit eisernem Willen das Kratzenwollen unter-drücken können, denn leicht wurden die Keime auch auf andere Körperstellen übertra-gen und bildeten dann große Geschwüre.
Vom Gedenken an die Ketschendorfer in der DDR und nach dem Mauerfall
In der DDR-Zeit wurde das Lager selbstver-ständlich verschwiegen. Als man 1952 beim Bau von Garagen auf die Knochen der Mas-sengräber stieß, hieß es von offizieller Seite, das seien Kriegstote.
Durch den Einsatz des damaligen Pfarrers Ernst Teichmann wurden die Gebeine von mehr als 4600 Toten auf den großen Kriegs-opferfriedhof in Halbe umgebettet, auf dem inzwischen mehr als 28.000 Tote ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Erst im Mai 2004 wurden dort 49 Granittafeln mit den Namen von 4621 Toten des Ket-schendorfer Lagers in einem Festakt feierlich geweiht. Sie haben damit ihre Namen wieder-bekommen, die Angehörigen einen Platz zum Trauern. Allerdings ruht im „Wäldchen“ nach wie vor eine unbekannte Anzahl von Toten.
Die Folter des Nichts-tun-Dürfens
Die Insassen des Lagers waren vollständig von allen Nachrichtenverbindungen nach und von außen abgeschnitten. Einzig das Glok-ken-geläut der nahegelegenen Kirche war eine Verbindung von außen, die von den Sowjets nicht auch noch unterbunden wurde.
Von den Erwachsenen durften einige inner-halb, seltener auch außerhalb des Lagers, dann aber unter strenger abschirmender Bewachung, arbeiten. Außer einem war allen Jugendlichen das Arbeiten verwehrt. Er hieß Adolf Lebküchler (*1929), stammte aus Lemberg und sprach perfekt russisch. Somit wurde er als Melder zur sowjetischen Kom-mandantur außerhalb des Lagers eingesetzt.
Zudem durften wir täglich nur eine Stunde auf einem freien Platz umhergehen, und zwar nur wir allein. Die Männerhäuser hatten zu anderer Zeit „Ausgang“. Mit den Frauen und Mädchen kamen wir sowieso nicht zusam-men.
Dieses Nichts-tun-Dürfen war neben dem Hunger und Durst sowie den katastrophalen hygienischen Verhältnissen mit das Schlimm-ste. Jegliche Schreibsachen waren strengstens verboten. Die meisten der Jungen dämmerten so dahin. Meinen Freund Ulli bewunderte ich ob seiner Balladenkenntnisse. Er konnte nicht nur Schillers „Glocke“ vollständig aufsagen, sondern noch viele andere Gedichte.
Das Ketschendorfer Schicksal einiger Kameraden
Durch Zufall erfuhr ich, daß ein guter Freund meines Vaters, Erich Wilde aus unserem Nach-barort Grube Ilse, auch im Lager war. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, warum er verhaftet worden war. Eigentlich ist das aber auch unwichtig, denn um in einem sowjetischen KZ zu sein, bedurfte es keines Grundes.
So war der Jüngste im Jugendhaus 12 Jahre alt und hatte nur eine kurze Hose und ein kurzärmliges Hemd an, als er im Sommer 1945 von der Straße weg verhaftet wurde. In dieser Kleidung mußte er die täglichen stun-denlangen Zählappelle überstehen, auch im Winter bei starker Kälte. Wenn wir ihn dabei nicht zwischen uns genommen hätten, wäre er erfroren.
Man hatte ihn mitgenommen, weil in einem Transport einer geflohen war. Nun stimmte die Zahl wieder, und nur darauf kam es an.
Günter Ziegenhorn, ein Junge in meinem Alter aus unserem Nachbardorf Bückgen, fuhr im Sommer 1945 mit dem Fahrrad nach Cottbus, um nach seinen Großeltern zu schauen. Er ist dort nicht angekommen und nach Hause auch nicht zurückgekehrt. Am 31. Juli 1946 ist er in Ketschendorf umgekommen.
Todesmeldungen an Angehörige gab es nicht. Viele haben erst nach dem Zusammenbruch der DDR vom Tode ihres Angehörigen erfah-ren. So nahm ich im Frühjahr 2001 an der Ge-burtstagsfeier meines Studienfreundes Lothar Wildau in Finsterwalde teil.
Am Tische sitzend sprach mich eine Frau vorsichtig von hinten an, sie habe von mei-nem Schicksal gehört. Der ältere Bruder ihres Mannes sei 1945 auch abgeholt worden. Bis heute haben sie keine verläßliche Nachricht über seinen Verbleib. Ob ich mich mit ihrem Mann unterhalten wolle. Selbstverständlich habe ich das gern getan.
In den mir vorliegenden Totenlisten des Ketschendorfer Lagers, die nach dem Zu-sammenbruch der DDR an die damals ge-gründete Lagergemeinschaft gelangten und übersetzt wurden, fand ich den Eintrag über Hans-Dieter Liefring, Jahrgang 1929, in Ketschendorf umgekommen am 12. Mai 1946.
Der Vater hatte sich in der DDR-Zeit verge-bens um Aufklärung bemüht. Dabei war er in einer Gastwirtschaft einmal mit zwei Volks-polizisten aneinandergeraten, die ihn an-zeigten. Daraufhin wurde er zu 1 Jahr Ge-fängnis verurteilt.
Nach der Hälfte legte man ihm nahe, ein Gnadengesuch zu stellen. Er aber lehnte ab und saß seine „Strafe“ hocherhobenen Hauptes bis zum Ende ab. Leider hat er die Gewißheit über das Schicksal seines Sohnes nicht mehr erlebt.
2003 vermittelte ich einer weiteren Familie in Finsterwalde ebenfalls aus den Totenlisten das Sterbedatum ihres Angehörigen. Im Zu-sammenhang mit der Ketschendorf-Ausstel-lung im Februar 2009 in Rimbach konnte ich zwei Männern das Schicksal ihres umgekom-menen Vaters erhellen. Diese Schicksale scheinen uns bis zu unserem Lebensende zu begleiten.
Erich Wilde aus Grube Ilse
Erich Wilde aus unserem Nachbarort Grube Ilse-Bückgen war seit 1919 von Anfang an der Vorsitzende unseres Fußballvereines „FC Alemannia“ in Großräschen und nach meiner Erinnerung in keiner NS-Gliederung Mitglied gewesen. Irgendwie hatte ich, wie erwähnt, erfahren, daß er sich ebenfalls im Lager be-finde. Ich wollte ihn unbedingt sehen, obwohl es uns Jugendlichen streng verboten war, uns unter die Männer zu mischen.
Mein Vater war Vorstandsmitglied gewesen, und ich hatte selbstverständlich auch dort Fußball gespielt. Wo ein Wille ist, ist meistens auch ein Weg. Also schlich ich mich immer aus unserem Haus, wenn sein Haus „Aus-gang“ hatte.
Etwa je fünf Personen in einer Reihe gingen dabei in einem großen Kreis auf einem Sandplatz hinter den Männerhäusern umher. Etliche Männer hatten Decken über die Schultern gehängt, so daß ich kleiner Knirps darunter verschwinden konnte.
Dabei schmiedeten wir Pläne, was wir alles unternehmen wollten, wenn wir wieder in die Freiheit gelangen sollten. Denn daß dies kommen werde, dessen waren wir uns sicher, war doch nicht ein einziger „Ketschendorfer“ verurteilt.
Wir stellten uns vor, was wir wann und wie kochen wollten, lernten eifrig Kochrezepte auswendig; bei unseren stets knurrenden Mägen eine besonders verlockende Aussicht. Erich Wilde sagte, wir würden jeden Feiertag nachholen und dabei sagen, heute sei dieser und morgen jener Feiertag.
Leider gingen seine Pläne nicht in Erfüllung, denn am 20. April 1946 brachte ein furcht-bares Leiden, das durch keine Medikamente gelindert wurde, in Ketschendorf seinem Leben das Ende. Selbst mir als Beteiligtem fällt es schwer, mir heute vorzustellen, in welch einer entsetzlichen Lage sich die Menschen befanden, bis der Tod sie erlöste.
Selten konnte jemand Trost spenden, weil alle ums Überleben kämpften. Oft war der nebenan liegende Nachbar früh tot, wurde vor die Tür gelegt, wo ihn das Leichenkom-mando einsammelte.
Meine Begegnung mit Hans Blücher
Weil ich mich unerlaubterweise in den Män-nerrundgang geschlichen hatte, wurde ich verhaftet. Ein Mitgefangener hatte mich ver-raten, um welchen Preis weiß ich nicht. Nach kurzem Verhör – ich konnte ja nichts zu meiner Entlastung vortragen – wurde ich zu 3 Wochen verschärftem Karzer verurteilt.
Ich kam in einen Keller, in dem schon etliche Männer waren, wo wir auf dem Betonboden lagen und schlafen mußten. Einmal am Tag gab es Wassersuppe, eine Scheibe Brot, einen Eßlöffel Zucker und einen Becher Tee.
Wenn ich heutzutage immer lese und höre, man solle am Tag mindestens 2 Liter trinken, möglichst 3, dann frage ich mich, wie wir das damals ausgehalten haben, denn auch außer-halb des Karzers gab es nicht einmal 1 Liter zu trinken, und auf der späteren Fahrt nach Sibirien erst recht nicht.
Meine drei Wochen wären wohl schier un-erträglich geworden, wenn unter den Män-nern nicht Hans Blücher aus Spremberg gewesen wäre. Unermüdlich erzählte er uns aus seinem unglaublich interessanten Leben.
Ich vermute, er wird um 1900 geboren sein. Denn nach Ende des ersten Weltkrieges, als in Deutschland durch die Schikanen des Versail-ler Diktates die Wirtschaft sich nur langsam erholen konnte, schickte ihn sein Vater nach Südamerika, damit er dort versuchen sollte, Geschäfte anzubahnen.
Er war damals ein noch sehr junger Mann mit wenigen Lebenserfahrungen. Das bunte Le-ben in einer Hafenstadt mit seinen verfüh-rerischen Verlockungen zog ihn in seinen Bann. Da gesellte sich ein älterer deutsch-sprechender Mann zu ihm, der ihn wie ein Schatten begleitete.
Jung wie er war, hatten es Hans Blücher die „leichten“ Mädchen angetan. Aber er kam nie „zum Zuge“. Immer war sein Begleiter irgend-wie im Wege. Später war ihm klar geworden, daß der ihn durch sein Verhalten davor be-wahrt hatte, sich eine böse Geschlechts-krankheit einzufangen.
Dann erinnere ich mich genau, wie uns Hans Blücher von seinen Erfahrungen in exotischen Gaststätten berichtete. Von solchen Sachen hatte ich noch nie gehört. Es war für mich so spannend, daß ich alle Einzelheiten im Ge-dächtnis behalten habe.
Er hatte in so einer ein Gericht bestellt, ohne zu wissen, was es war. Da kam dann der Kellner und forderte ihn auf mitzukommen. Inmitten der Gaststätte gab es eine Art The-ke, hinter der Köche die bestellten Speisen zubereiteten. Das war eigentlich eine gute Sache, denn man konnte zusehen, was einem dann vorgesetzt wurde.
Mulmig zumute wurde es ihm aber, als er sah, wie für ihn aus einem Körbchen Raupen herausgenommen wurden, die sich als Sei-denraupen herausstellten. Der Koch nahm eine mit der linken Hand, setzte mit der rechten ein Holzstäbchen an deren Kopf, und mit einem Ruck wurde die Raupe umgedreht und das Innere nach außen gekehrt. Die Hülle wurde gesäubert und mit einer pikanten Fül-lung versehen, ehe die Raupe dann geröstet wurde.
Da alles sehr sauber zugegangen war, über-wand er seine Abneigung und langte zu. Es schmeckte vorzüglich, wie er uns versicherte.
An diese Begebenheit mußte ich immer den-ken, wenn ich viel später in die Gelegenheit kam, auch einmal für mich ausgefallene Speisen zu essen. Ich habe mich dann leichter überwunden und fast immer die gleiche Er-fahrung wie Hans Blücher gemacht.
Mit seinem nicht unterzukriegenden Lebens-mut hat er uns nicht nur den Karzeraufenthalt erträglicher gemacht, sondern auch Mut mit-gegeben, die gesamte Gefangenschaft zu überstehen.
Damals war ich ein bißchen stolz, mit so einem bedeutenden Mann zusammen im Karzer zu sein. Erst 2004 habe ich erfahren, daß Hans Blücher die Gefangenschaft über-lebt hat und nach seiner Entlassung in die Bundesrepublik gegangen war.
Er war beim damaligen Familienminister Würmeling als Fahrer tätig; er, der einst Besitzer einer bedeutenden Fabrik gewesen war.
Das hier geschilderte deckt sich, in vielen Einzelheiten, in erschreckender Weise mit den Erzählungen meines Vaters (geb. 11.05.1928), denn auch er durfte die „Segnungen“ der
„Befreiung“, wie sie heute von gewissenlosen Politikern genannt wird, leidvoll ertragen.
1945, noch als Angehöriger der Marine HJ, er wollte unbedingt zu den U-Booten, zum Endkampf nach Berlin befohlen, hatte er und seine Hundertschaft das Glück, von einer versprengten Einheit der Waffen-SS nach Hause geschickt zu werden, nachdem diese den anführenden Goldfasan erschossen. (Ich berichtete hier bereits darüber).
Seine Verhaftung erfolgte 1946 aus heiterem Himmel, als Grund wurde später angegeben „Wehrwolftätigkeit und antisowjetische Einstellung“.
Die Stationen waren der GPU-Keller in der Rostocker St. Georg Straße, das Haus steht heute noch, dann nach Schwerin. Die Unterbringung in feuchten, unter Wasser stehenden Kellern und die Verhör-Methoden decken sich Haar genau mit den oben geschilderten.
Vater hat nie etwas zugegeben, er wurde dann ins KZ Sachsenhausen verbracht.
(Der Schauspieler Heinrich George war auch dort „interniert“, er ist dort verhungert.)
Mein Vater bekam nach einiger Zeit sein Urteil, 10 Jahre Besserungshaft in Sibirien.
Bei einem Zählappell erkannte ihn zufällig eine ehemalige russische Fremdarbeiterin wieder, welche dort als Dolmetscherin tätig war. Sie hatte ihn wiedererkannt, hatte er doch in jugendlicher Schwärmerei damals, während des Krieges mit ihr angebandelt und sie mit Nahrungsmitteln versorgt, ihr Name war Vera.
Nur ihrer nachdrücklichen Fürsprache verdankt mein Vater sein Leben, die nochmalige Bearbeitung seines Urteils sollte noch bis Ende 1948 dauern. Entlassen wurde er mit 38 Kilogramm.
Vater wurde Fischer, so wie es immer sein Wunsch war, erst Hochsee, später Küstenfischer in Warnemünde. Studieren durfte er nicht … „politisch unzuverlässig“ stand in seiner Akte.
Sein Freund, Jürgen Frohriep, nicht der gleichnamige Schauspieler!, welcher damals auch am selben Tag verhaftet wurde, hatte nicht dieses Glück, er starb 1951 in Workuta, wie ich unlängst erfahren habe. Mit dessen Bruder, Wilhelm Frohriep, habe ich vor kurzem Kontakt aufgenommen. (Internet macht’s möglich)
Vater ist mit fast 95 Jahren friedlich eingeschlafen, ohne krank zu sein. Täglich war ich bei ihm, wir waren (und sind) ein Herz und eine Seele.
Diesen Eintrag zu Günter Frohriep, dem Freund meines Vaters, entdeckte ich zufällig im Netz, leider zu spät, um es ihm noch zu zeigen. Im Tagebuch meines Vaters aus dieser Zeit steht genau wie bei Günter Frohriep untenstehende Eintragung:
„Nur nicht im Hafen liegen und schlafen!
Sei es bei Glück, sei es bei Weh,
Leben ist nur auf offener See.“
Es zeigt auf, wie sehr sie befreundet waren und die gleiche Sehnsucht hatten.
Eintrag: „Wie ein lebenslanges Suchen nach Günter Frohriep doch noch ein Ende findet.
Günter Frohriep starb am 12. September 1951 in Workuta.
Als Wilhelm Frohriep diese Nachricht am 25. Oktober 2023 telefonisch von Frau Dr. Richter von der Bürgerberatung beim Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur übermittelt bekam, fiel eine zentnerschwere Last von seinen Schultern. Für ihn und seine Schwester Herta war eine Jahrzehnte andauernde Ungewißheit nach 76 Jahren beendet. Zwei in Zivil gekleidete Männer mit roten Armbinden hatten Günter Frohriep „abgeholt“. Herta erinnerte sich noch, wie sie ihrem fünf Jahre älteren Bruder eine Packung Zigaretten in die Hand drückte, die sie in allerletzter Minute von ihrem wenig Ersparten gekauft hatte, bevor er spurlos verschwand.
Günter Frohriep, geb. am 4. Juni 1928 in Groß Renzow bei Schwerin, war das älteste von fünf Kindern von Werner und Luise Frohriep, geb. Hahn. Der Vater war Feuerwehrmann und wurde ca. 1943 eingezogen. Seinen letzten Feldpostbrief erhielten sie im Jahr 1944 aus der Nähe von Guben. Danach verlor sich seine Spur, obwohl die Mutter auch unter den Flüchtlingen mit Foto nach ihm gesucht hatte.
1936 war die Familie Frohriep mit ihren drei Kindern von Schwerin nach Rostock in die Robert-Schumann-Straße gezogen. Die nahe gelegene Kaserne bezog nach Kriegsende die Rote Armee.
Günter Frohriep begann 1943 bei der Handelsmarine als Schiffsjunge. In seinem Tagebuch schrieb er „24. Mai 1943. Endlich habe ich es geschafft. Mein Wunsch und Traum ist in Erfüllung gegangen. Ich habe die Schule hinter mir und beginne mein Leben. Das Leben eines Seemanns.“
Die Lehrlingszeit endete am 19. Mai 1945. Nach Kriegsende war er kurz Arbeiter beim Reichsausbesserungswerk RAB in Wittenberge als Heizer, danach Arbeiter bei der „Derutra“, der Deutsch-Russischen Transport-Aktiengesellschaft.
Aus Gutmütigkeit half er einer Familie, deren Fotoapparat gegen Lebensmittel einzutauschen. Nie hatte er die Absicht, Spionage zu treiben. Günter Frohriep wurde jedoch gesehen und denunziert, woraufhin eine Kontrolle vor Ort erfolgte und Günter Frohriep im Frühjahr 1947 verhaftet und auf das sowjetische Kommissariat verbracht wurde. Die Mutter wurde aufgefordert, einen Wintermantel für ihren Sohn Günter im Schweriner Gefängnis am Demmlerplatz abzugeben. An die kalte und abweisende Haltung der sowjetischen Soldaten erinnert sich der damals siebenjährige Bruder Wilhelm noch gut. Seine Mutter hatte ihn zum Gefängnis mitgenommen, eine Besuchserlaubnis für Günter erhielten sie natürlich nicht.
Die Not in der Bevölkerung war nach Kriegsende groß. Mutter Frohriep mußte nun alleine für ihre drei minderjährigen Kinder sorgen. Günters Zimmer war mittlerweile von einem sowjetischen Soldaten namens Viktor beschlagnahmt worden. Die Rest-Familie kam gut mit ihm klar. Viktor war höflich und hatte der Mutter eine Arbeitsstelle in der Kaserne besorgt, so daß sie und ihre Kinder versorgt waren. Durch seine Vermittlung wusch Mutter Frohriep zudem Uniformen der sowjetischen Soldaten und Offiziere. Damit diese zum nächsten Tag wieder trockneten, bekam sie ausreichend Kohle zum Heizen. Nur Viktors Saufkumpanen bereiteten Ärger. Im Suff zerdepperten sie schon mal Glasfenster oder Möbelstücke.
Später arbeitete Mutter Frohriep als Schreibkraft auf der Neptunwerft. Nachdem auch Wilhelm Frohriep geheiratet hatte, reiste sie im April 1961 nach Hamburg. In Hamburg war sie geboren, und hier lebten auch ihre Geschwister. Beim Abschied am Bahnhof wußten ihre Kinder schon, daß sie nicht zurückkommen würde. Erst Ende der 1960er-Jahre traute sie sich erstmals wieder in die DDR zu ihren Kindern. Diese durften ihre Mutter dann aber auch erst ohne ihren Ehepartner zu ihrem 70. Geburtstag 1979 in Hamburg besuchen. Mutter Frohriep verstarb im Jahr 2009 fast 100-jährig.
Günter Frohriep starb am 12. September 1951 in Workuta.
Diese Information lag all die Jahre im Archiv des DRK-Suchdienstes und wartete darauf, gefunden zu werden. Alle Behördenanfragen von Wilhelm Frohriep nach seinem Bruder Günter waren bislang vergeblich. Er war seit 1947 spurlos verschwunden, obwohl zunächst Mutter Frohriep und dann vor allem sein Bruder Wilhelm nach Günter Frohriep suchten.
Ab dem Jahr 2014, als in Schwerin die GULag Ausstellung im Marstall gezeigt wurde, suchten die Angehörigen verstärkt nach Günter Frohriep. Doch dauerte es noch bis zum Jahr 2023, bis die Nachricht vom Tod Günter Frohrieps zu Wilhelm und seiner Schwester Herta Grannemann, geb. Frohriep, gelangte.
Im Stacheldraht Nr. 7/2023 war ein Foto vom GULag-Zeitzeugen Mike Müller-Hellwig, der auf seinen Schacht 40 in Workuta zeigt, abgebildet. Die Bildunterschrift erklärt die Geste: „Süffisant lächelnd erzählt er, wie er drüben zwei Friedhöfe kenne, auf denen er hätte liegen können bzw. sollen. Denn, wer nach Workuta kam, der kam nicht nach Deutschland zurück. Hierhin kam man, um für immer zu bleiben.“ Daneben stehen die Kontaktdaten des Sprechers der Lagergemeinschaft Workuta / GULag Sowjetunion .
Dieses Foto mit dem Hinweis auf zwei Friedhöfe in Workuta ließen Wilhelm Frohriep nicht mehr los. Überhaupt las er alles über Workuta. Innerlich aufgewühlt nahm er umgehend Kontakt zu mir als Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta auf. Helfen konnte ich ihm leider nicht direkt. In meinen Unterlagen tauchte der Name des Häftlings Günter Frohriep nirgendwo auf. So nahm ich Kontakt zum Leiter der Dokumentationsstelle (Dresden), Herrn Dr. Pampel und zum neuen Landesbeauftragten (Schwerin) Herrn Bley, auf. Kaum 14 Tage später, am 27. September 2023, konnte Herr Dr. Pampel folgendes berichten:
„Günter Frohriep, geb. 1928, wurde von der Sonderberatung beim MGB (OSO) am 07.05.1947 nach den Artikeln 121 (Sammlung und Weitergabe von Nachrichten) und 58-14 (Sabotage) StGB RSFSR zu zehn Jahren ‚Besserungsarbeitslager‘ verurteilt. Als Haftorte sind das Speziallager Torgau sowie ab dem 8. Dezember 1947 WorkutLag angegeben. Er starb am 12.09.1951 in Workuta. (Quellen: Datenbank DRK-Suchdienst München, Datenbank Hannah-Arendt-Institut).“
Das Schicksal Günter Frohrieps war geklärt und eine Jahrzehnte lange nagende Unsicherheit und vergebliche Suche fand ein zwar nicht glückliches, aber doch ein Ende.
Günter Frohrieps Tagebuch
Viele Fragen bleiben offen und werden wohl nie beantwortet werden. Beispielsweise die Frage, wer wann dem DRK-Suchdienst das Todesdatum von Günter Frohriep übermittelt hat. Waren es Spätheimkehrer gewesen? Oder hat ein Häftling in einer Postkarte an seine Lieben darüber berichtet? In welchem Lager starb Günter Frohriep? Vielleicht sind weitere Informationen auf seiner ‚Kartoschka‘ (Häftlingskarteikarte) festgehalten. Aber das kurze Zeitfenster, in dem Einsicht in die Akten in russischen Archiven beantragt werden konnte, ist bis auf weiteres geschlossen.
Günter Frohriep starb am 12. September 1951 in Workuta.
1947 war Günter Frohriep zu 10 Jahren Haft verurteilt worden. 1951 hatte er bereits vier bittere Jahre im Gulag hinter sich gebracht, und er hatte erst seinen 23. Geburtstag begangen. Sechs weitere Jahre lagen noch vor ihm. Woran er gestorben ist, werden wir nie erfahren. War es ein Grubenunglück, die so häufig sich ereigneten? Hatte eine Lore ihn zu Tode gequetscht? Ging eine Sprengung schief oder stürzte ein Flöz ein? Hatte ein russischer Blatnoi ihn getötet?
Oder war es körperliche Schwäche, Ausgezehrtheit verbunden mit Mangelernährung (Hungerdystrophie)? Starb er an TBC oder einer schweren Lungenentzündung in der Krankenbaracke? Oder war er einfach an der Sehnsucht nach Zuhause und an Hoffnungslosigkeit gestorben? Fragen, die Angehörige martern, aber auf die sie wohl nie eine Antwort erhalten werden.
Und wo ist er begraben? Haben Kameraden ihn in die Tundra hinausgetragen? Hat die Wachmannschaft auch ihm einen Pickel in den Schädel und in die Brust gejagt, damit sichergestellt war, daß nicht ein Lebender aus dem Lager entwischt? Wie tief hatten sie das Grab gegraben im ewigen Eis von Workuta? Und hatte sein Grab ein Kreuz? Wilhelm Frohriep und Herta Grannemann, geb. Frohriep, November 2023, Rostock
Die Geschwister Wilhelm und Herta erzählen gerne von ihrem Bruder. Auf dem Tisch steht ein Foto, das Günter und seine älteste Schwester Christa im Alter von ca. 15 und 16 Jahren zeigt. Vor allem Herta hat Günter noch gut in Erinnerung. Die beiden hätten eine Wellenlänge gehabt. Günter hatte ein frohes Gemüt und war ein gutmütiger Mensch ohne ein Luftikus zu sein. Er war ein sensibler junger Mann, der bei seinen Besuchen immer eine positive Stimmung verbreitete.
Woher die Geschwister wußten, daß ihr Bruder nach Workuta verschleppt wurde? Wilhelm hebt entschuldigend die Schulter. So habe man es damals geflüstert… Wer weg kam, kam nach Workuta. Über den Tod ihres Bruders machten sie sich keine Illusionen. „Er ist dort krepiert“.
Aber irgendjemand hat die Nachricht von seinem Tod in die Heimat gebracht. Und auch wenn es Jahrzehnte dauerte, bis sie gefunden wurde, so ist es doch, als ob die Seele von Günter Frohriep ein wenig Ruhe gefunden hat, weil er zwar einsam aber dann doch nicht alleine gestorben ist.
Wir werden Günter Frohriep ein ehrendes Andenken bewahren.