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Wes das Herz voll ist

Nach seinem Gespräch mit Alice Schwarzer und Chantal Louis in der EMMA-Redaktion im Frauenmediaturm in Köln war es Sven ein Bedürfnis, noch in der Nacht eine E-Mail an die Redakteurinnen zu senden:

206_01_800.jpgIch möchte einfach noch mal sagen, daß das Treffen mit euch einer der wirklich beeindruckenden Tage in meinem Leben war. Entgegen dem, was so manch einer vielleicht erwartet hätte und was euer symbolträchtiger Wehrturm zuerst für mich ausstrahlte, habe ich das Innere als einen Hort der Warmherzigkeit und Menschlichkeit empfunden. Ich sah an diesem Tag Eigenschaften an euch, die mich einfach fasziniert haben: Selbstbewußte Frauen, die aus gutem Grund für die gute Sache kämpfen!

alice-schwarzer-sven.jpg

Alice Schwarzer und Chantal Louis mit ihrem Gesprächspartner “Sven”
aus: EMMA Mai/Juni 2009

Den gutaussehenden Sven (Name geändert) hatten der

Amoklauf

von Winnenden und die Berichterstattung darüber umgetrieben. Denn er war selbst vor ein paar Jahren nahe daran gewesen, ein Amokläufer zu werden. pfeiffer.jpgWenige Tage nach der furchtbaren Untat in Winnenden, bei der 11 junge Frauen und 1 junger Mann getötet worden waren, wandte Sven sich an den in den Medien zur Zeit sehr präsenten, angesehenen Kriminologen Prof. Christian Pfeiffer, um ihm die Innenansicht eines solchen Täters zu präsentieren, nämlich sich selbst als Beinahe-Amokläufer, und damit der Forschung über Jugendgewalt weiterzuhelfen:

Einen toten Amokläufer kann man nicht fragen,

schrieb Sven. Prof. Pfeiffer, der seit vielen Jahren mit EMMA zusammenarbeitet, leitete Sven an die EMMA-Redaktion weiter. Der erzählte dort mit erstaunlicher Offenheit:

Erste Ursache zu der Beinahe-Tat war, keinen “Stich bei Frauen” zu haben. Mit ebenso abgewiesenen Freunden baute er dann seinen Haß auf Frauen auf. Um seinem seelischen Druck zu entkommen, ging es alsbald

los mit den ersten Ego-Shootern … Man konnte sich den ganzen Haß vom Leib spielen … Das besondere an Ego-Shootern ist ja, daß man immer durch irgendwelche Gänge rennt und alle Menschen abballert, die aus den Türen kommen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, daß es doch toll wäre, an unsere Schule zu gehen und sich mal so richtig an allen zu rächen!

Und nun kommt ein entscheidender Satz:

Wir wollten immer nur die Frauen abballern. Vielleicht noch ein paar Alphamännchen dazu. Aber richtig interessant waren die Frauen. Die Frauen, von denen man sich gedemütigt gefühlt hat und abgestoßen.

Auf die Frage “Warum?” erklärt er:

Na, weil die Mädchen einem einen Korb gegeben hatten. Oder eben Lehrerinnen, die … ja … diese ganz Taffen, so’n Tick maskulin … also die klassischen Emanzen. Die waren uns auch ein Dorn im Auge. Bei den Schülerinnen waren es eher die Unemanzipierten, die wir im Visier hatten, die, die nur auf den Starken standen und mit Riesenausschnitt und Supermini rumgerannt sind. Bei den Lehrerinnen waren es im Gegenteil eher die besonders Emanzipierten, die, die einen in die Schranken wiesen.

Alice Schwarzer

zitiert die Pressesprecherin Claudia Krauth der zuständigen Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf Anfrage von EMMA:

Das Geschlecht hat für den Täter nach unseren bisherigen Erkenntnissen keine Rolle gespielt.

Der Täter kam kostümiert im schwarzen Kampfanzug, richtete mit Kopfschuß acht Schülerinnen und drei 24 bis 26 Jahre junge Lehrerinnen gezielt hin. Darüber hinaus tötete er einen bei den Mädchen beliebten Jungen, den er vor der Erschießung niederknien ließ.

Wer so gezielt junge Frauen und einen “Frauenflüsterer” hinrichtet, bei dessen Tat soll das Geschlecht keine Rolle gespielt haben? Schwarzer:

alice_schwarzer-_romy_2009.jpgReden wir also nicht länger drumrum und warten wir nicht auf die Erkenntnisse von Ermittlern, die sich die zentralen Fragen noch nicht einmal stellen. Selbstverständlich hat die Tat von Tim K., dem Mädchenmörder, etwas mit seiem Verhältnis zu Frauen zu tun! Genauer: Etwas mit seiner Art, ein Mann werden zu wollen, woran er gescheitert ist.

In ihrem in der Welt, dem Zürcher Tages-Anzeiger und dem Wiener Standard erschienenen Artikel vom 13.3.09 stellt sie die Tatsache heraus,

daß der unauffällige Tim K. wie viele Jungen seiner Generation Porno- und Gewaltvideos konsumierte und täglich Stunden im Internet surfte. Seit er das tat, soll er sich verändert haben. Auf seinem Rechner fand die Polizei 200 Pornobilder, darunter 120 so genannte Bondage-Inszenierungen: Das sind Fotos, auf denen man nackte gefesselte Frauen sieht, die vergewaltigt und gefoltert werden, manchmal zu Tode.

Schwarzer weist auf internationale Studien hin, die

seit Jahren, ja Jahrzehnten etwas (belegen), was nicht überraschend ist: Der Konsum von Pornografie – also von Bildern und Texten, in denen die sexuelle Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt verknüpft wird – prägt nicht nur das Bild von Frauen, sondern stumpft die Empathiefähigkeit dieser Pornokonsumenten gesamt ab, und je jünger umso beeinflußbarer.

Auch diese Jungen müßten vor der dank moderner Medien allgegenwärtigen Gewaltpornografie geschützt werden. Sie laufen sonst Gefahr, sich bei Verunsicherung in Dominanzphantasie gegen Frauen zu flüchten, was ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht nicht gerade besser macht.

Der jahrtausendealte Männlichkeitswahn –

also die verunsicherte Männlichkeit verbunden mit einem unrealistischen Größenwahn –

hat eine neue Dimension erreicht. Wie sollen diese Jungen vor sich selbst geschützt werden, wie die möglichen Opfer dieses Irrwahns von angeblicher Männlichkeit?

Wie kann verhindert werden, daß diese “Verlierer” zu Verbrechern werden? Ganz sicher nicht durch ein Mehr an Männlichkeit, wie Professor Lenzen es fordert, sondern nur durch das Gegenteil: durch ein Mehr an Menschlichkeit!

Wer Alice Schwarzer noch nie leiden konnte, hat hier einen Satz zugeworfen bekommen, mit dem sein alter Haß neue Nahrung erhält, falls er ihn aus dem Zusammenhang herausreißt und isoliert zitiert.

Es ist – für Wohlwollende klar ersichtlich – eine “Männlichkeit” gemeint, die sich über Gewalt definiert und in dieser Art selbstverständlich auf gar keinen Fall hinnehmbar ist.

Was alle Jungen und Mädchen hingegen zu lernen haben, ist Menschlichkeit. Wer wollte ein solches Erziehungsziel in Frage stellen? Um es zu erreichen, muß den Tatsachen ins Auge geschaut werden. Wegsehen, schon um empfindliche Männerseelen nicht zu verletzen, löst keine Probleme. Es muß nichts mit Männerhaß zu tun haben, wenn Schwierigkeiten heranwachsender Jungen ins Blickfeld gerückt werden, um mögliche schlimme Auswirkungen zu verhindern.

Mit dem Sozialpsychologen an der Universität Hannover mit Schwerpunkt “Männlichkeitsforschung”

Prof. Rolf Pohl

sprach Chantal Louis. Er erklärte u. a:prof.jpg

In unserer Gesellschaft ist Männlichkeit nach wie vor stark mit Gewalt verknüpft. Und daher müssen wir an die Wurzeln der Männlichkeitsproblematik: nämlich den Wunsch, lebensgeschichtliche Krisen durch Etablierung eines Männlichkeitsbildes zu lösen, das Gewalt, Dominanz und Heldentum beinhaltet. Um das zu ändern, müssen wir an die gängige Konstruktion von Männlichkeit heran …

Chantal Louis fragte nach den Computer-Spielen,

die gewalttätige Männer und verfügbare Frauen zeigen.

Pohl:

An diesen Spielen zeigt sich, wie stark Gewaltfantasien mit einer feindseligen Abwertung von Weiblichkeit verknüpft sind. Aber sie erzeugen diese Bilder nicht. Sondern: Sie satteln nur auf diesen inneren Einstellungen auf … Wenn es diese Spiele nicht gäbe, dann würden sich die bereits vorgeprägten Jungen für ihre frauenfeindliche Haltung und ihre Verherrlichung von Männlichkeit andere Bilder suchen. Die Medien bieten hier ja genug an.

Zum Fall Prof. Lenzen, der fordert, in der Jungenerziehung die Frauen durch mehr Männer zu ersetzen, damit die Jungen zu einer “ausgereiften Geschlechtsidentität” gelangten, sagte Prof. Pohl:

Ich halte diesen Zusammenhang für konstruiert. Hinter diesem Ruf nach mehr männlichen Vorbildern wird ein negatives Bild von Frauen reproduziert, die als Mütter, Erzieherinnen und Lehrerinnen pauschal für das Versagen der späteren Männer verantwortlich gemacht werden. Da wird suggeriert: Wenn Männer die ersten 15 bis 20 Jahre von Frauen umgeben sind, dann könnten sie keine ordentliche männliche Identität ausbilden. Das ist Unsinn.

Prof. Pohl hat das männliche Selbstbewußtsein, gelassen auszusprechen:

Ich möchte sogar die gegenäufige These aufstellen: Wenn es darum geht, Weiblichkeitsbilder einzuüben, die nicht feindselig getönt sind, können Jungen gerade von Erzieherinnen und Lehrerinnen eine ganze Menge lernen. Außerdem sind beliebige männliche Vorbilder noch keine Garantie für eine positive Entwicklung von Jungen. Die Männer, an denen sich die vorherigen Generationen orientiert haben, das waren überwiegend die autoritären Väter. Und die haben uns, sehr verkürzt gesagt, auch im Zeichen von Männlichkeitswahn in zwei Weltkriege geführt.

Louis:

Lieber Herr Pohl, was ist denn nun eigentlich ein Mann?

Prof. Pohl unter anderem:

…  alle Männer vereint …: männlich sein heißt nicht-weiblich sein. Jungen erwerben ihre Geschlechtsidentität vor allem über die Abgrenzung von Frauen und die Abwertung von Weiblichkeit. Sie unterliegen dabei dem Druck, sich nicht nur als das andere, sondern auch als das überlegene und wichtigere Geschlecht zu definieren und dies “notfalls” auch zu beweisen. Die damit verbundene Unsicherheit und Angst ist eine der wichtigsten Quellen für männliche Gewaltbereitschaft, vor allem für die Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Das Ergebnis:

Weltweit wird mindestens jede dritte Frau einmal in ihrem Leben von Männern geschlagen, vergewaltigt oder auf andere Weise mißhandelt.

Alice Schwarzer steht also nicht mehr allein auf weiter Flur. Moderne Sozialpsychologie in der Person von Rolf Pohl und moderne Kriminologie in der Person von Christian Pfeiffer bestätigen Alice Schwarzer auf der ganzen Linie.

Leserbriefe

aschwarz.jpgauf Alice Schwarzers o. a. Artikel vom 13.3.09:

Prof. Manfred Wagner:

Liebe Frau Schwarzer, an Ihrem Kommentar zu dem Thema sieht man wieder einmal deutlich, daß Sie zu den ganz wenigen wirklichen Intellektuellen Deutschlands zählen. Weil Sie “nicht mit den üblichen Gegebenheiten ins Bett gehen” (Augstein), sondern durch die Ereignisse auf den Grund zu schauen versuchen. Sie lassen sich weder von der Hysterie noch den wissenschaftlichen Partikularitäten irritieren, sondern denken wirklich nach.

Luise F. Pusch:

… in den Medien war wieder mal Alice Schwarzer die einzige, die den Mord und sein Motiv auf den Punkt brachte – auf einen Punkt übrigens, den sie seit dem Mord an Angelika B. in Köln 1991 immer wieder betont: Frauenhaß ist ein Politikum wie Fremdenhaß und gehört genau so streng geahndet, ja strenger, ist Frauenhaß doch viel weiter verbreitet. Er ist … völlig alltäglich.

Jasmin Lunar:

Herzlichen Dank für diese weisen und unmißverständlichen Worte! Alle spüren dies, doch keiner spricht es aus. Und es ist – mal wieder – EMMA bzw. Alice, die sich das traut. Das nenne ich mal angewandte Friedenspolitik.

Harry Mulisch, Niederlande:

Genialer Artikel von Frau Schwarzer … Frau Schwarzer bietet eine seltene Stimme der Weisheit in diesem aufgeregten und hysterischen Gerede.

Neben diesem Lob gab es auch die altgewohnten Haßtiraden gegen Alice Schwarzer. Die kann man in der EMMA nachlesen. Dort wird man dann Seite für Seite weitere hochinteressante Beiträge finden.

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Mithus
Mithus
15 Jahre zuvor

Eine sehr, sehr kranke Welt wird hier in mehrfacher Hinsicht geschildert. Beschränken wir uns hier auf den dargestellten angeblichen Frauenhass. Den gibt es leider auch wie das Gegenteil davon, aber beides ist zur Pauschalisierung nicht geeignet. Der Gegenstand der Abhandlung ist ein sehr kleiner – Gott sei Dank – Ausschnitt aus den milliardenfachen Möglichkeiten von Fehlentwicklungen bei Mann und Frau und mit Recht nicht nur von den Opfern zu beklagen.
Aber das Wesen der Männlichkeit beschreibt der sehr auf einen unfertigen “Blindgänger” focussierte Artikel gerade nicht, schon gar nicht in Allgemeingültigkeit. Wer nimmt denn schon die Ausnahme zum Gesetz? Wer hier nicht die schreckliche Ausnahme erkennt, sondern eine Regelmäßigkeit behauptet, sorry, dem fehlt es an der zu fordernden differenzierenden Sachlichkeit und im Ergebnis dann wohl auch leider an Menschlichkeit. Letztere sieht vom Geschlechterkampf ab und sucht nach Harmonie. Jedenfalls denke ich als Mann so. Geschlechterkampf – aus welchen Mortiven auch immer – und hier liegt genau ein solches Kampffeld vor uns, ist eben gerade keine nur männliche Domäne. Dies wird auch nicht durch den beigelegten Versuch einer Analyse bestätigt, zumal es für das Problem keine einfachen Antworten gibt, Intellekt der Frau Schwarzer hin oder her. Bei ihr wird der “Mann” allzu grundsätzlich zum Buhmann gemacht. Da darf es nicht verwundern, wenn ihre Statements sehr hinterfragbar bleiben. Rührt vielleicht der Frau Schwarzer oft nachgesagte Männerhass nicht aus derselben Wunde wie der des Amokläufers, der keinen “Stich” beim anderen Geschlecht bekam? Jedenfalls ist mir eine solche Behauptung vor Jahren schon einmal bekannt geworden.
In letzter Zeit – vorallem in den USA, zuletzt in Holland – gab’s eine ganze Menge Amokläufer, deren Beweggründe objektiv ganz andere waren (Mobbing, Arbeitsplatzverlust, schwere Traumatisierung, Kriegsfolgen, Terrorattacken etc). Es gibt eben Menschen, die mit dem immer verzwickter werdenden Leben nicht immer so klarkommen, wie wir uns das wünschen müssen, bedauerlich, nur ist es so.
Adelinde möchte ich bei der Gelegenheit danken, dass Sie mit dem Artikel den Text von Emma nachlieferte, anhand dessen man in der PAZ behauptet hatte, sie – Frau Schwarzer – setze Männlichkeit mit Unmenschlichkeit gleich.
So ganz weit weg davon wäre sie allerdings nicht, wenn sie ihre Erkenntnisse für verallgemeinerungsfähig hielte. Und dass die weibliche Dominanz in der Lehrerschaft auch ungute Begleiterscheinungen für die Entwicklung von Jungen hat, ist doch längst nicht mehr bestritten. Nur dass gerade können Frauen nicht selbst aus biologischen Gründen beurteilen, dass muß man schon männlichem Denken und Fühlen überlassen. Die wissen selbst besser, was ihnen oft fehlt: vorgelebte Männlichkeit.
Mithus

Mithus
Mithus
15 Jahre zuvor

Wie schnell doch die Wirklichkeit alle Theorien einholt und auf die Probe stellt! Als ob die Männer, die gestern das Massaker an 44 Menschen, darunter vorwiegend Frauen und Kinder, in der Südost-Türkei verübten, bei Adelinde nachgelesen hätten.

Aber das brauchten sie gar nicht, denn die Tatmotive liegen hier a) in der Eifersucht (woran Frauen zwangsläufig beteiligt sind) und b) an den archaischen Landessitten, sprich: Ehrencodex, Blutrache und Clankriege.

Um diese Hintergründe und Abscheulichkeiten überhaupt zu verstehen, sollte man das von der Bischöfin Käsmann empfohlene Buch “Die dunkle Seite der Liebe” von Rafik Schami lesen. Dann wird erschreckend klar, wie wenig nach diesen Stammessitten ein Mensch überhaupt (Geschlecht egal) wert ist. Nichts! Absolut nichts!

Und solch ein Land soll nun mit Gewalt – ausgehend von den USA als ökonomischer Konkurrent – der EU aufgezwungen werden. Tolle Idee!

Mithus

Helmut Wild
Helmut Wild
15 Jahre zuvor

Der Fall beschaeftigt mich gedanklich, wegen seiner sozialpsychologischen und sexual-psychologischen Bedeutung. In diesem Extremfall einer Erkrankung der sexuellen Identitaetsfindung eines jungen Mannes spiegelt sich der verheerende Einfluss des ideologischen und kulturellen Umfeldes wider.

Was also sind die bestimmenden ideologischen und kulturellen Segmente, die die sexuelle Orientierung junger Menschen heute praegen?

Wenn ich diese Frage stelle, dann unterstelle ich gleichzeitig, dass wir es hier nicht primaer mit einem individuellen Problem (also mit einer individuellen psychischen Erkrankung) zu tun haben, sondern mit einer kulturellen, also mit einer kollektiven psychischen Erkrankung. Wenn die Medien vor diesem kulturell-psychischen Problem die Augen verschliessen, dann tragen sie nur zur weiteren Stabilisierung und Vertiefung dieser Erkrankung bei.

Was also sind die Ursachen dafuer, dass die sexuelle Entwicklung dieses jungen Mannes in einem Blutbad endet?
Wenn Alice Schwarzer sagt:

“Selbstverständlich hat die Tat von Tim K., dem Mädchenmörder, etwas mit seinem Verhältnis zu Frauen zu tun! Genauer: Etwas mit seiner Art, ein Mann werden zu wollen, woran er gescheitert ist.” … dann hat sie nur teilweise recht. Sie macht dieses Ereignis viel zu sehr zu einem individuellen Problem eines gescheiterten jungen Mannes.

Die Frage ist: haben junge Maenner, die mit Porno-Masturbation und mit sexuellen “Befreiungs”-Phantasien erzogen werden, ueberhaupt eine Chance zu einer harmonischen maennlichen Identitaetsfindung? Eine Chance, Frauen ueber die Schoenheit ihrer Seelen kennen zu lernen, statt sie als tote Instrumente sexueller Selbstbefriedigung zu betrachten?

Ich glaube, Herr Mithus trifft einen guten Punkt mit den Vorbehalten, die er gegenueber Schwarzers Wortwahl ausdrueckt.

Nehmen wir Freud als Gegenbeispiel. Freud war vollkommen unfaehig, die wahre Natur von Frauen und die seelisch-koerperliche Natur weiblicher Sexualitaet zu verstehen. Rein empirisch kamen zu ihm Frauen in die Analyse, die den Ballast seelischer Unterdrueckung mit sich brachten, verursacht durch das Aufwachsen in einer von maennlicher Ueberheblichkeit dominierten, patriarchalischen Gesellschaft.

Statt die Ursache fuer diese Verstuemmelung weiblicher Seelen zu erkennen, nahm er deren So-Sein als Beweis dafuer, dass Frauen missratene Geschoepfe der Natur sind. Die Ur-kraenkung des kleinen Maedchens, dass der Bruder Dinge machen durfte, die ihr vervoten waren (z.B. auf Baeume klettern, usw. usw.), interpretierte er als Penisneid. Seine Schlussfolgerung: Dem Weib fehlt etwas, hat also nicht mal eine “normale”, das heisst maennliche Sexualitaet. Er betrachtete Frauen als mangelhafte Geschoepfe. (Siehe Luce Irigarays geniale Kritik an Freud.)

Einen aehnlichen Fehler macht wahrscheinlich Alice Schwarzer gegenueber dem, was sie von Maennern haelt. Sie nimmt die empirische Realitaet von seelisch Verwachsenen, von judaeo-christlich Verbildeten als die Erscheinungsformen des Wesens des Mannes schlechthin.

Trotzdem ist es natuerlich verdienstvoll, dass sie das Thema so mutig aufgreift.

Helmut Wild
Helmut Wild
15 Jahre zuvor

Liebe Adelinde,
in meinem fuenften Absatz habe ich Alice Schwarzer zitiert.
Haben Sie denn kein Verstaendnis dafuer, dass diese Wortwahl in der Tendenz als maennerfeindlich verstanden werden kann? Die todkranke Psyche eines jungen Mannes, der durch verbrecherische kulturelle Einfluesse gemeingefaehrlich verrueckt wird, wird von der Authorin zum Anlass genommen, eine gewisse Genugtuung einfliessen zu lassen, dass er in seiner Art der mann-werdung “gescheitert” ist. Ueberhaupt: ist “scheitern” die richtige Wortwahl fuer einen blutigen Exzess des Wahnsinns?
Wir verwandeln die Diskussion ueber die sozialpsychologische Erkrankung der Deutschen zu sehr in eine A.S. Diskussion. A.S. hat ihre Stimme erhoben. Die einzige ist sie ueberigens keineswegs. Ihre Stimme zaehlt genauso. Auch die meine und auch die von Mithus und von vielen anderen.

Mithus
Mithus
15 Jahre zuvor

Dem letzten Beitrag von Herrn Wild möchte ich mich gerne anschließen. Ich zitiere Adelinde:”Wie könnte sie (A.S.)….erfolgreich mit gleichgesinnten, intelligenten Männern zusammenwirken? ….die Emma lesen….und auf ihrer Seite stehen?” (Also: Die anderen Männer sind offenbar weniger intelligent?)
Gegenfrage: Wie kommt es, dass viele entgegengesetzt denkende, intelligente Frauen Frau Schwarzer völlig ablehnen, sie für eine polarisierende Hard-core-Feministin halten und ihre Auffassungen als weit über das Ziel des Gewollten hinausschießend und zerstörerisch – rückblickend – beurteilen? Die Erfolge der A. S. waren nicht durchweg positiv. Halten wir das fest! Als ehem. Scheidungsanwalt kann ich ein Lied davon singen, wie Ehen durch diese Einflüsse zerstört werden, weil etwa 85% der Frauen das, was mit Emanzipation gemeint und gewollt ist, gar nicht richtig verdaut haben. “Selbstverwirklichung” ist doch nicht das Gegenteil von Partnerschaft! Der Egoismus treibt seltsame Blüten und mit ihm das Singleunwesen. Unfähigkeit zur Partnerschaft allenthalben! Hier geht eine ganze Kultur im Interesse des gelenkten Arbeitsmarktes der neoliberalen Industriegesellschaft zugrunde. Merkt nur keine Frau. Offensichtlich haben viele Frauen noch nicht einmal begriffen, was sie (halbwegs intakte Verhältnisse vorausgesetzt) verloren haben, wenn sie sich hinter dem Fließband für geringeren Lohn als die Ernährer verdingen und zu deren Konkurrenz machen.
Nur wenige kluge Frauen haben das längst erkannt und sehen in der Verwaltung der Familie eine unternehmerische Aufgabe, die sie sogar gern freiwillig übernehmen und gestalten, weil die Erziehung und Bildung der Kinder eine wahnsinnig wichtige Aufgabe ist, die nur in Arbeitsteilung – egal durch wen – zu erbringen ist. Weil das aber die Durchschnittsfrau heute z. T. gar nicht mehr kann, selbst wenn sie wollte, ist ihr Leben abhängig von der Drittbestimmung geworden und die Jugend “verludert”, weil auch der Vater arbeiten muß. Damit schließt sich der Kreis zum Thema Amokläufe und deren Ursachen.
Frau Scharzer erlebt übrigens das gleiche Schicksal wie R. Wagner als Musiker. Auf der einen Seite die Enthusiasten, auf der anderen Seite totale Ablehnung (z.B. durch den Musiker Debussy). Dazwischen gibt es nichts Vermittelndes. Wie Debussy beweist, stehen in der Ablehnungsfront auch intelligente Menschen! Letztlich wird das zur Frage, wo man sich selbst einordnet.

Mithus

Mithus
Mithus
15 Jahre zuvor

Liebe Adelinde,
wenn ich noch etwas zu der Sache “Menschenrechte” als Oberbegriff zur “Menschlichkeit” anführen darf, so möchte ich darauf hinweisen, dass es unter den “4 Müttern (!) des Grundgesetzes” im Parlamentarischen Rat eine SPD-Abgeordnete gab, die mit nachhaltiger Hartnäckigkeit dafür sorgte, die volle Gleichberechtigung in das neue GG zu schreiben. Menschlich wäre es daher fair, dieser Dame mehr Aufmerksamkeit und gerechteren Anteil zu zollen, und zunächst ihr das Lob zukommen zu lassen, dafür, dass sie die tragende Figur war, die die Gleichberechtigung uneingeschränkt durchsetzte. Elisabeth Selbert (* 22. September 1896 in Kassel; † 9. Juni 1986 ebenda) war eine deutsche Politikerin und Juristin. Die Aufnahme der Gleichberechtigung in den Grundrechteteil der bundesdeutschen Verfassung war zum Großteil ihr Verdienst. Vorallem erkannte sie, dass der zunächst dazu eingebrachte Vorschlag einschränkend lautete: “Frauen und Männern wird grundsätzlich das gleiche Recht eingeräumt.” “Grundsätzlich” heißt bei Juristen nun aber: es gilt nur ein Grundsatz, der durch Ausnahmen jederzeit durchbrochen werden kann. Frau Selbert setzte sich dafür ein, das “grundsätzlich” zu streichen und kam damit auch durch. Seit Erlass des GG 1949 gibt es also schon die volle Gleichberechtigung in Deutschland. Danach erst wurde es erforderlich, die Zivilgesetze (Familienrecht im BGB) und anderswo anzupassen. Das zog sich zwangsläufig über Jahre noch hin und da mag auch Frau Schwarzer mitgewirkt haben. Aber: bei der viel späteren Frau Schwarzer ist also der Dank keineswegs vordringlich angebracht, zumal sie auch zerstörerische Kräfte freisetzte. Was Bestand hätte behalten können oder sollen, ist durch sie – mitverursacht – mit dem Bade ausgekippt worden.(Stichwort: Zerstörung der Familien). Das hier auszuführen ist leider kein Platz, aber sicher noch eine Notwendigkeit. Vielliecht interessierst Du Dich mal für die außerordentlich intelligente Frau Selber, auch wenn sie der SPD angehörte.
Mithus

Helmut Wild
Helmut Wild
15 Jahre zuvor

Liebe Adelinde,

Sie bringen es noch so weit, dass ich Besteller von EMMA werde. Das mit Elisabeth Selbert interessiert mich sehr.

Vielen Dank, lieber Herr Mithus, fuer den Hinweis. Ich folge dieser Diskussion mit grossem Interesse.

Mithus
Mithus
15 Jahre zuvor

Lieber Herr Wild,
Ihre bisherigen Beiträge zum Thema “Gesellschaftliche Fehlentwicklung” lassen erkennen, dass Sie das Problem zu Recht grundsätzlicher angehen wollen. Der sehr weite Raum der psycho-sozialen Aspekte wird in der Tat bei der Fokussierung auf A. S. vernachlässigt. Wer A. S. ex cathedra sprechen und wirken läßt, argumentiert in meinen Augen dogmatisch und läßt keinen Raum für differenzierte Sichten. Aber wir brauchen ja eine bessere Zukunft, da kann es nicht dogmatisch bleiben, wenn wir etwas bewegen wollen hin zur Harmonie zwischen den Geschlechtern. Abwertende Tendenzen – mal mehr, mal weniger laut – sind Gift bei diesem Bemühen. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob Ihnen die Lektüre von “EMMA” eine Hilfestellung oder Antwort geben kann, fürchte vielmehr eine Verhärtung.
Mich berührte deshalb sehr stark, was Sie von Ihren beiden Töchtern berichteten. Das ist auch das von mir beobachtete Normverhalten junger Frauen. Was ist da schon alles verloren gegangen und bleibt – hoffentlich nicht! – auf Dauer auf der Strecke? Da Frauen längst gleichberechtigt sind, müssen neue Ideen her, die die negativen Nebenwirkungen (eines notwendigen Medikamentes) wieder beheben. Darum geht es heute!
Ich liege alle 2 Tage in einer Dialyse. Dort betreuen mich ausschließlich 28 Frauen. Von diesen sind etwa 1/5 oder 20%
noch verheiratet, der Rest von 80% ist geschieden oder – die jüngeren unter ihnen – sind Single, viele ohne einen festen Partner. Zufall oder Symptom? Auf jeden Fall Realität in einer kranken Gesellschaft.
Weil ich mich gut in meine Jugend zurückversetzen kann, frage ich manchmal bei den hübschesten Schwestern vorsichtig nach, wie denn von ihnen die oft geäußerte Ablehnung der jungen Männer begründet werde und ob es da nicht naturgegeben die starke Magnetkraft zum anderen Geschlecht noch gäbe. Regelantwort: “Gehen Sie mir bloß weg mit Anziehungskraft. Die “Scheißkerle” stoßen uns ab!”
Kann man das noch objektiv gesunde Gesellschaft nennen, wenn die wertvollsten und schönsten Jugendjahre mit derartiger Begleitmusik durchlebt werden? Arme weibliche und männliche Jugend! Opfer des Geschlecherkampfes, der als längst geführt gelten sollte.
Es ist m. E. wie im Sozialismus/Kommunismus: die Gleichmacherei führt zur Verelendung und Versteppung der Kultur und Unterdrückung von Spezialbegabungen – und fähigkeiten. Angesagt ist daher die (Aus-)Bildung zur Betonung der Stärken eines jeden Geschlechts und die Fähigkeit anzuerkennen bzw. zu akzeptieren, dass sich diese ergänzen statt bekämpfen müssen. Ich will das hier – weil ich keinen Zorn erregen möchte – nicht weiter ausführen. Aber Gleichberechtigung sollten wir stets als Gleichwertigkeit in der Andersartigkeit begreifen und damit die Andersartigkeit wieder hoffähig machen. Zur Toleranz sind meistens nur (herzens-)gebildete Menschen fähig. Und da die Gesellschafts-Bildung seit den Zeiten der Summerhill-Euphorie auf der Strecke blieb, haben wir heute die Ellenbogengesellschaft, die Partnerschaften als selbstverständlich nachrangig betrachtet.
Meinen Sie, dass Frau A. S. das auch so sieht?
Mithus

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