Mut und Bekenntnis zur eigenen Geschichte – 1. Folge
Sonntag, 17. Juli 2016 von Adelinde
Von Gerhard Bracke
Eine vielleicht etwas ungewöhnlich erscheinende Fragestellung drängt sich auf,
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sobald das ehrliche Bestreben, Problemen der Zeitgeschichte umfassend auf den Grund zu gehen,
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trotz allem vom Standpunkt offenkundigen Halbwissens in Zweifel gezogen,
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mehr noch: verdächtigt wird.
Inwiefern, so lautet die Kernfrage, besteht ein Widerspruch zwischen
- der Warnung General Ludendorffs vor dem NS-Regime und einer durch Hitlers dynamische Außenpolitik riskierten Kriegsgefahr einerseits
- und der kritischen Auseinandersetzung mit dem offiziellen Geschichtsbild andererseits?
Anders formuliert: Ist es nach
Ludendorffs Gespräch mit Hitler 1937
und seiner düsteren Prognose –
Dieser Mann wird Deutschland ins Unglück stürzen(1)
– überhaupt noch erforderlich, sich mit den Forschungsergebnissen der letzten Jahrzehnte um die Ursachen und die diplomatische Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges ernsthaft zu befassen?
Sind nicht vielmehr seit dem Nürnberger Prozeß für alle Zeiten die Deutschland einseitig belastenden Ergebnisse festgelegt?
Nun, so wenig außer Frage steht, daß Erich Ludendorff mit seiner Voraussage leider recht behielt, so wenig darf die wissenschaftliche Frage nach den multiperspektivischen Gründen der Katastrophe vernachlässigt werden.
In Wahrheit handelt es sich nur um einen scheinbaren Widerspruch,
- denn die Verurteilung der NS-Diktatur mit den kriminellen Auswirkungen der Gewaltherrschaft
- und die kritische Hinterfragung des vom Nürnberger Siegertribunal verordneten Geschichtsbildes
sind zwei ganz unterschiedliche Seiten einer Medaille.
Wer Geschichtsforschung als ergebnisoffene Wahrheitsforschung begreift,
kann unmöglich eine aus Sorge um Deutschland getroffene Aussage von 1937
als eine Art Präjudizierung
des dogmatisch zu Lasten Deutschlands festgeschriebenen Geschichtsverständnisses
oder als vorweggenommene Stütze desselben betrachten.
Bekanntlich hat auf Wunsch des Diktators am 30. März 1937 die Besprechung zwischen Hitler und Ludendorff im Wehrkreiskommando München stattgefunden.
Bei den außenpolitischen Fragen des Gespräches warnte General Ludendorff den Führer und Reichskanzler eindringlich:
Wenn Sie nicht das Unheil heraufbeschwören, einen Krieg anzufangen – der sich sehr bald zu einem Weltkrieg ausweiten wird, und das wird jeder Krieg –, dann können Sie noch manches erreichen […].
Ich warne Sie aber sehr ernst davor, einen Krieg zu beginnen. Wir müssen uns überhaupt aus jeder kriegerischen Verwicklung heraushalten. Nur ein Verteidigungskrieg kommt für Deutschland in Frage, sonst nur strikte Neutralität.
Die neue Armee braucht sowieso noch Jahre, bis sie diese Aufgabe erfüllen kann.
Nach allem, was ich über den Aufbau der neuen Wehrmacht erfuhr, wird Ihnen zu Beginn des Krieges großer Erfolg sicher sein … Der weitere Krieg wird aber zur völligen Niederlage führen.
Die Vereinigten Staaten werden diesmal in noch ganz anderem Ausmaß eingreifen, und Deutschland wird schließlich vernichtet.
Darauf erwiderte Hitler:
Ich bin weit davon entfernt, an einen Krieg zu denken. Als Frontsoldat des Weltkrieges will ich meinem Volk den Frieden erhalten.
Aber die Demokratien sind morsch. Ich werde meine Ziele ohne Krieg erreichen.
Ludendorffs Worte
Ich glaube Ihnen nicht, Herr Hitler,(2)
scheinen nur eine einzige Interpretation zuzulassen, vor allem im Hinblick auf den bereits zitierten zusammenfassenden Ausspruch.
Was ergibt sich daraus für den Historiker?
- Heißt das nun, daß Erich Ludendorff im Sinne der heute selbstverständlichen Lesart vom absoluten Kriegswillen und „Stufenplan“ Hitlers vollkommen überzeugt war?
- Könnte er, im Kontext betrachtet, nicht vielmehr seine berechtigten Zweifel an Hitlers Fähigkeit oder auch nur an der Möglichkeit ausgedrückt haben, die Revisionsziele zur Befreiung von den Fesseln des Versailler Vertrages auf Dauer friedlich zu erreichen ?
Zum historischen Kontext gehört immerhin die Tatsache, daß Ludendorff – trotz grundsätzlicher Ablehnung des NS-Regimes –
- die Wiedererlangung der Wehrhoheit für Deutschland vom 16. März 1935 als „große völkische Tat“ freudig begrüßte,(3)
- ebenso die Besetzung der Rheinlande im darauf folgenden Jahr, denn damit
war Deutschland wiederum Herr in seinem Hause und hatte seine strategische Lage unendlich verbessert.(4)
In seiner Schrift Weltkrieg droht auf Deutschem Boden (1930) hatte der Feldherr auf
Deutschlands vollständige Wehrlosigkeit gegenüber den Militärstaaten, die es einkreisen,
hingewiesen (S.33).
Die Anhäufung der belgischen, französischen, tschechischen und polnischen Truppen an unserer Grenze,
ihre Ausstattung mit Kavallerie, Luftstreitkräften und Panzerwagenformationen beweisen, was die feindlichen Generalstäbe wollen und warum sie uns entwaffnen mußten,
wie sie ihre Heere bereitstellen und ausrüsten, um im besonderen jedes Rüsten des Deutschen Volkes im Kriegsfalle im Keime zu ersticken.
Die Manöver, die Frankreich im September 1930 an unserer Grenze abhielt … bestätigen dies nur zu sehr. (S. 38)
Nur ein Vierteljahr nach Ludendorffs Tod „erreichte“ Hitler den
Anschluß Österreichs
̶ heute meist als „Eroberung“ deklariert ̶ ohne einen Schwertstreich, aber unter dem unbeschreiblichen Jubel der Menschen in Linz und Wien und im ganzen Land. Sogar der Sozialdemokrat Karl Renner erklärte zur Wiedervereinigungsfrage am 3. April 1938:
Ich habe als erster Kanzler Deutsch-Östereichs am 12. November 1918 in der Nationalversammlung den Antrag gestellt und zur nahezu einstimmigen Annahme gebracht: „Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“.
Ich habe als Präsident der Friedensdelegation zu St. Germain durch viele Monate um den Anschluß gerungen ̶
- die Not im Lande,
- die feindliche Besatzung der Grenzen
haben die Nationalversammlung und so auch mich genötigt, der Demütigung des Friedensvertrages und dem bedingten Anschlußverbot uns zu unterwerfen.Trotzdem habe ich seit 1919 in zahllosen Schriften und ungezählten Versammlungen im Lande und im Reiche den Kampf um den Anschluß weitergeführt.
Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St. Germain und Versailles.
Ich müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutsch-österreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der Deutschen Nation nicht mit freudigem Herzen begrüßte.(5)
Zu den engagiertesten Befürwortern des Anschlusses gehörte in den 20er Jahren ebenso der sozialdemokratische Präsident des Deutschen Reichstages, Paul Löbe, nach dem Kriege Mitglied des Parlamentarischen Rates und Alterspräsident des Bundestages.
Die „Sprengung der Fesseln von Versailles und den Zusammenschluß Österreichs mit dem Reich“ forderte 1925 ̶ wer hätte das gedacht? ̶ auch die KPD.
Da erübrigt es sich eigentlich, an die offizielle Stellungnahme des Wiener Kardinals Innitzer vom 18. März 1938 mit dem klaren Bekenntnis zum Deutschen Reich zu erinnern.
Ungeachtet der inneren Distanz zu den vorstehend aufgeführten Stimmen unterschiedlicher politischer Richtungen hätte General Ludendorff, wenn er noch lebte, aus tiefster Überzeugung nicht anders entschieden!
Wie hätte der Feldherr sich gefreut,
schrieb deshalb Walter Löhde,
das gewaltige geschichtliche Geschehen, die Entwicklung zur Gestaltung Großdeutschlands erleben zu können.
Die Welt steht staunend vor diesen Ereignissen und dem Aufstieg des Deutschen Volkes unter der Führung Adolf Hitlers. Die Einmütigkeit, mit der die Abstimmung erfolgte [in Österreich wie im „Altreich“] … ist ein Beweis für die erwachte Deutsche Volksseele …(6)
Das Ergebnis sprach auf eindrucksvolle Weise so für sich, daß von Kriegsgefahr keine Rede sein konnte. Unwillkürlich erinnert man sich der gewagten Frage Sebastian Haffners („Anmerkungen zu Hitler“):
Wie würde die Nachwelt heute über die Außenpolitik des Diktators urteilen, wenn Hitler 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre? Darauf gab Haffner in seinem vielbeachteten Buch allerdings eine klare Antwort.
Unter der Überschrift „Schranken fielen – Großdeutschland Wirklichkeit!“ schrieb Frau Dr. Mathilde Ludendorff:
An dem ersten Geburttag des Feldherrn Erich Ludendorff, den wir ernst im Gedenken an den großen Toten feiern, jubelt unser Deutsches Volk, und wir tragen innige Freude an sein stilles Grab, weil seinem sehnlichsten Wunsch, den er in den Kampfzielen in die Worte faßte
„Ich erstrebe ein wehrhaftes und freies Großdeutschland“,
durch die kühne und geschichtliche Tat des Führers und Reichskanzlers die Erfüllung naht. […]
In der Nationalversammlung in Wien … hat Österreich gleich nach der Revolution mit 98 % Stimmen für den Anschluß an das Mutterland gestimmt.
Gerade dieser Umstand aber war es, der dann in dem Frieden von St. Germain unseren Volksgeschwistern in Österreich unter dem gleißnerischen Deckmantel „Unabhängigkeit“ Sklavenketten in der wichtigsten Frage des Völkerabstimmungrechtes auferlegte …(7)
In ihrem Beitrag „Der Sieg der Volksseele bei dem Werden Großdeutschlands“(8) zitiert Mathilde Ludendorff aus einem an sie gerichteten Brief eines Wiener Ludendorff-Verehrers, der in der Zeit des Austrofaschismus unter Dollfuß und Schuschnigg schweren Verfolgungen ausgesetzt war:
Daß uns der Führer mit seinen Truppen zu Hilfe eilen wird, das haben wir gar nicht gewußt.
Einmalig auch die Tatsache, daß unter der austrofaschistischen Diktatur Nationalsozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten in gleicher Weise mit KZ-Haft verfolgt worden waren.
Doch über die Verhaftungen politisch Andersdenkender nach vollzogenem Anschluß konnte „Ludendorffs Halbmonatsschrift“ natürlich nicht berichten, selbst wenn die negativen Begleitumstände damals allgemein bekannt gewesen wären.
Stattdessen erinnerte Walter Löhde in einem historischen Rückblick an die heute gänzlich ausgeblendeten zeitnahen Hintergründe und Zusammenhänge:
Ja, es war zweifellos der Augenblick gekommen, wo die Deutschen Österreichs ins Deutsche Reich eingegliedert werden konnten.
Besonders, da ja die Erklärungen Wilsons, der Ententemächte und des Völkerbundes von Selbstbestimmungsrecht und Unabhängigkeit der Völker nur so trieften.
Die vorläufige Nationalversammlung beschloß daher am 12. 11. 1918 als Grundgesetz der Republik Deutsch-Österreich:
„Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“
Dieses Gesetz wurde durch die konstituierende Nationalversammlung am 12. 3. 1919 bestätigt.
Am 21. 2. 1919 hatte die reichsdeutsche Nationalversammlung dem Anschluß ebenfalls zugestimmt und in der Weimarer Verfassung vom 11. 8. 1919 im Artikel 61, Abs. 2 bestimmt:
„Deutsch-Österreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Österreichs beratende Stimme.“
Somit hatten also Deutsch-Österreich und das Reich nach dem zugesicherten Selbstbestimmungsrecht der Völker … den Anschluß vollzogen.(9)
Und weiter heißt es in dem Aufsatz:
Trotz diesem zum Gesetz erhobenen eindeutigen und völlig zweifellos freien Beschlusse ̶ die i. J. 1921 vorgenommenen Abstimmungen in Österreich ergaben über 98 % der Stimmen für den Anschluß ̶ wurde Deutschland die Annahme des Artikels 80 des Schandpaktes von Versailles gegen jedes Menschen- und Völkerrecht aufgezwungen.
[…] Entsprechend hieß es in dem am 10. September 1919 Deutsch-Österreich aufgezwungenen Vertrag von St. Germain, daß die Unabhängigkeit Österreichs unabänderlich sei.(9)
Durch ein Gesetz vom 22. September 1919 mußte Österreich seinen selbstgewählten Namen „Deutsch-Österreich“ wieder ablegen,
und die Reichsregierung wurde ebenfalls am 22. September 1919 unter Androhung von Gewaltmaßnahmen gezwungen, die Ungültigkeit des Artikels 61, Abs. 2 der Weimarer Verfassung zu erklären.
Gegen den Willen der Bevölkerung wurde aus Deutsch-Österreich der „Bundesstaat Österreich“. General Ludendorff nannte es
das unglücklichste Gebilde der Schandpakte. (A. Hl. Q. Folge 5/36 S. 169).
Walter Löhde erinnerte daran:
Immer wieder hat der Feldherr auf diese ungeheuerlichen, durch den Schandpakt von Versailles geschaffenen Zustände hingewiesen. (ebd.)
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wird fortgesetzt
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Anmerkungen
1 Erich Ludendorff, Meine Lebenserinnerungen 1933-1937, Pähl 1955, S. 165
2 a. a. o., S. 153 f. Darauf beschränkt sich offenkundig die Kenntnis jenes Kritikers, der einmal meinte: “Einerseits hatte man das Wissen um Ludendorffs radikale Opposition gegen Hitler, andererseits hat man außenpolitisch und insbesondere in der Kriegsschuldfrage versucht, ihn (Hitler) blütenweiß zu waschen (tut leider auch immer wieder der von mir sonst sehr geschätzte Gerhard Bracke …). Das ist für mich alles so widersprüchlich.”
3 Ludendorff am 18.3.1935 in einem Sonderblatt des “Am Heiligen Quell” vom 20.3.1935
4 Ludendorff, Meine Lebenserinnerungen 1933-1937, S. 142
5 Der Österreich-Anschluß 1938. Zeitgeschichte im Bild, hrsg. von Heinz Grell, 2. Aufl., Leoni o. J., S. 142
6 Am Heiligen Quell Deutscher Kraft, Folge 2 vom 20.4.1938, S. 44
7 Am Heiligen Quell Deutscher Kraft, Folge 1 vom 5.4.1938, S. 1
8 a.a.O., Folge 2, S. 46 ff.
9 Walter Löhde, Der Feldherr und Deutsch-Österreich, Am Heiligen Quell Deutscher Kraft, Folge 1/1938