Ostdeutschland! 5. Teil
Dienstag, 23. April 2024 von Adelinde
In diesem letzten Teil seiner Geschichtsbetrachtung und Aufklärung über die Veränderungen in unseren verlorenen Ostgebieten bringt
Thomas Engelhardt
einen Nachtrag
zu den ehemaligen preußischen Provinzen Posen und Westpreußen:
Westpreußen. Im Jahr 1905 hatte Westpreu-ßen 1.641.746 Einwohner, davon waren 567.318 Kaschuben, Masuren und Polen (insgesamt 35,5 %).[1] Nach anderen Anga-ben: 1.645.874 Einwohner (1905), davon 1.061.803 Deutsche (64,51 %) und 567.328 Slawischsprachige (34,47 %). Im Jahr 1825 hatte der slawischsprachige Bevölkerungs-anteil noch bei 50 % gelegen.
Aus Sprachenkarten des damaligen Deut-schen Reiches (z. B. Andree’s Handatlas 1881) geht hervor, daß das spätere Korridor-gebiet (Polnischer Korridor, ab 1922 Pome-rellen) mehrheitlich slawisch-sprachig war (Kaschuben, Polen). Dieses kaschubisch-polnische Sprachgebiet reichte von einer westlichen durch die Städte Kolmar i. Posen, Schlochau, Bütow und Neustadt in Westpreu-ßen gebildeten Linie östlich bis zur Weichsel.
Politisch spielte das Polentum in der Provinz Westpreußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur eine geringe Rolle. Die Städte – bis auf Kulm a. d. Weichsel – waren völlig oder ganz überwiegend deutsch. In weiten Teilen der Provinz, z. B. im Danziger Werder, in den rechts der Weichsel liegenden Kreisen und im Gebiet der einstigen Neumark mit Deutsch-Krone, Schlochau und Flatow war auch die ländliche Bevölkerung rein deutsch oder doch mehrheitlich deutsch-sprachig.
Die Kaschuben grenzten sich darüber hinaus bewußt von den Polen ab und fühlten sich in keinster Weise dem Polentum, von den Ka-schuben abschätzig Kongreß-Polen genannt, zugehörig.
Bevölkerungsanteile in der polnischen Woje-wodschaft Pomerellen (Korridorgebiet) 1772/1773 (Zahlenangaben unter Ausschluß der Städte):
Kreis Neustadt 25% Deutsche
Kreis Karthaus 20 % Deutsche
Kreis Berent 37 % Deutsche
Kreis Dirschau 35 % Deutsche
Kreis Tuchel 25 % Deutsche
Kreis Konitz 25 % Deutsche
Kreis Schwetz 50 % Deutsche
Kreis Pr. Stargard 20 % Deutsche
Kreis Graudenz 50 % Deutsche
Kreis Kulm 50 % Deutsche
Kreis Thorn 30 % Deutsche
Kreis Briesen 20 % Deutsche
Kreis Neumark 5 % Deutsche
Kreis Strasburg 15 % Deutsche
Posen. Im Jahr 1910 hatte die Provinz Posen (28.991 km²) 2,1 Mill. Einwohner, davon waren 806.400 Deutsche (38,4 % ) und 1,27 Mill. Polen (60,9 %).
Im Regierungsbezirk Bromberg war der jeweilige Anteil etwa gleich hoch (je 49,7 %, 379.500 Deutsche und 379.000 Polen), im Regierungsbezirk Posen lag der Anteil der Deutschen (427.000) bei 32 %, der der Polen (900.000) dagegen bei 67,4 %.
In Westpreußen (25.554 km²) lebten im Jahr 1910 1,64 Millionen Einwohner, davon waren 1,05 Mill. Deutsche, etwa ein Drittel Kaschu-ben, Masuren und Polen (insgesamt ca. 567.000) (1910: Anteil der Slawischspra-chigen 35,5 %) (im Jahre 1825 hatte dieser Anteil noch bei 50 % gelegen).
1919/1920 erfolgte die Vierteilung West-preußens. Der größte Teil, das sog. Korridor-gebiet[2] fiel an Polen, Danzig (1.893 km²) wurde „Freistaat“ (unter polnischer Kontrolle). Der zunächst Regierungsbezirk Marienwer-der genannte bei Deutschland verbleibende Teil Westpreußens wurde als neuer Regie-rungsbezirk Westpreußen (2.926 km²) an Ostpreußen angegliedert und damit der vierte Regierungsbezirk der Provinz.
Im Westen der früheren Altprovinz Westpreu-ßen wurde aus den Restgebieten der bei Deutschland verbleibenden Gebietsteile der beiden Provinzen Posen und Westpreußen die Grenzmark Posen-Westpreußen gebildet (7.695 km², später 7.715 km²) (1938 aufge-löst und an Pommern angegliedert).
Die klar mehrheitlich deutschsprachigen Randgebiete im Westen Posens verblieben weitgehend innerhalb dieser neu gebildeten preußischen Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen bei Deutschland. Einige über-wiegend deutschsprachige Gebiete im Süden und Nordosten einschließlich der mehrheit-lich deutschsprachigen Stadt Bromberg mußten 1920 dagegen an Polen abgetreten werden.
Die beiden preußischen Provinzen Posen und Westpreußen umfaßten (bis 1919) insgesamt 54.545 km², an Polen wurden 42.000 km² abgetreten. Dieses Gebiet entspricht nahezu dem Territorium des heutigen Bundeslandes Niedersachsen. Der Anteil der Polen lag je-doch insbesondere im Posenschen Gebiet bei etwa 61 %.
In Westpreußen lebten neben Polen haupt-sächlich die slawischen Kaschuben, die sich allerdings bewußt von den von ihnen auch als Kongreßpolen bezeichneten Polnischsprachi-gen abgrenzten und ihre Zugehörigkeit zum Deutschen Reich überwiegend nicht infrage gestellt hatten. Der Anteil der Polen und Kaschuben in Westpreußen lag (1910) bei etwa einem Drittel.
Ebenfalls abgetreten wurden 1920 3.200 km² Oberschlesiens. 1945 wurden dann noch einmal 103.000 km² deutsches Territorium durch Polen annektiert.
Mithin setzt sich der heutige polnische Staat zu nahezu 50 % aus ehemaligen deutschen Gebieten zusammen (Polen jetzt 322.575 km², davon 148.200 km² bis 1919/1920 bzw. bis 1945 deutsches Staatsgebiet):
Im Jahr 1919 lebten noch etwa 1 Mill. Deut-sche in den von Polen annektierten deutschen Provinzen Posen und Westpreußen (Anteil = 38,6 % der Gesamtbevölkerung beider ehe-maliger Provinzen).[3]
Bereits 1921 aber war etwa die Hälfte entwe-der freiwillig ausgewandert oder wurde bis zu diesem Zeitpunkt vertrieben. Etwa 503.000 waren noch in der Heimat verblieben. Ihre Zahl sank bis 1931 bis auf 370.000 in Posen und Pommerellen (polnische Bezeichnung des sog. Korridorgebietes der früheren Provinz Westpreußen).
Bis 1918 waren mit Ausnahme der Stadt Posen alle größeren Städte in den Provinzen Posen und Westpreußen mehrheitlich von Deutschen bewohnt, aber bereits zu Beginn der 1920er-Jahre stellten sie in den Städten nur noch eine kleine Minderheit.
Die folgenden Zahlen sollen diese dramatischen Veränderungen belegen (Vergleich 1910 zu 1925):
Graudenz: 85 % 11 %
Bromberg: 77 % 12 %
Dirschau: 62 % 13 %
Kulm[4] : 42,8 % 9 %
Pr. Stargard 53 % 17 %
Thorn: 66 % 6 %
Posen: 41 % 2 %
Das gesamte Ostdeutschland umfaßte bis 1945 114.125 km² (ohne die bereits 1920 einvernahmten bzw. annektierten Gebiete!).
Ostpreußen 36.966 km²
Schlesien 34.529 km² (Ober- und Niederschlesien ohne den westlich der Neiße liegenden Teil Niederschlesiens)
Pommern 31.301 km² (Hinterpommern, Stettin, das Gebiet um Stettin westlich der Oder[5] und die Odermündungen Swine und Dievenow).
Ostbrandenburg 11.329 km² (Regierungsbezirk Frankfurt/Oder ohne den westlich der Neiße gelegenen Teil desselben)
Anm.: Darüber hinaus annektierte der polnische Staat den östlich der Lausitzer Neiße gelegenen Teil der sächsischen Oberlausitz (mit Reichenau (poln. Bogatynia) und Umgebung) in einem Umfang von 142 km².
Polen annektierte im Jahr 1945 etwa 97.000 km², einschl. des Terr. der bis 1939 existie-renden Freien Stadt Danzig 99.025 km², an die UdSSR fiel der nördliche Teil Ostpreußens mit 15.100 km².
Mithin fielen allein im Jahr 1945 etwa 25 % des deutschen Gebietes (bezogen auf den Gebietsstand der Zwischenkriegszeit) an die Annexionsstaaten.
Die Gebietsverluste Deutschlands werden erst im Vergleich deutlich:
Deutsches Reich (1918) 540.858 km² (= 1000 x der Bodensee)
Deutsches Reich (Weimarer Republik), 468.787 km²
Deutsches Reich (31.12.1937), 470.545 km²
Westdeutschland („BRD“ bis 1990) 248.207 km²
Deutsche Demokratische Republik 108.875 km²
Schweiz, 41.285 km²
Österreich (2020), 83.871 km²
Niedersachsen, 47.614 km²
Bayern, 70.541,57 km²
Nordrhein-Westfalen, 34.098 km²
Hessen, 21.115 km²
Sachsen, 18.416 km²
Thüringen, 16.171 km²
Sachsen-Anhalt, 20.452 km²
Mecklenburg-Vorpommern, 23.174 km²
Schleswig-Holstein, 15.763 km²
Zur Verdeutlichung seien nachstehend Ent-fernungsangaben zwischen den deutschen Städten genannt (Grundlage sind die Entfer-nungsangaben der in den 1930er- und 1940er-Jahren projektierten Reichsautobah-nen; die Nummern beziehen sich auf die Streckennummern der geplanten Autobah-nen):
55 Stettin-Falkenburg (Złocieniec)-Bärwalde (Barwice)-Schlochau (Człuchów), 230 km
Stettin-Falkenburg 115 km, Falneburg-Bärwalde 40 km
93 Bärwalde (Barwice)-Bütow (Bytow)-Danzig, 200 km
56 Danzig-Elbing-Königsberg i. O.-Insterburg, 250 km
103 Frankfurt/Oder-Vietz (Witnica)-Falkenburg (Złocieniec), 200 km (in Falkenburg Anschluß an Strecke Nr. 55 bzw. 93, siehe oben)
59 Frankfurt/Oder-Bentschen (Zbaszyn)-Posen, 175 km – Frankfurt/Oder-Bentschen 107 km
59 Posen-Bromberg (Bydgoszcz)-Danzig, 280 km
138 Wien-Brünn-Glatz-Breslau (Protektorats-Autobahn) 375 km
138 Breslau-Posen-Bromberg (Bydgoszcz)-Danzig, 415 km
Berlin-Königsberg-Tilsit, 700 km
Berlin-Königsberg-Memel, 715 km
98/99 Stettin-Frankfurt/Oder-Görlitz-Reichenberg (Liberec), 345 km
Teilstrecke 99 Stettin-Frankfurt/Oder 140 km
Teilstrecke 98 Frankfurt/Oder-Görlitz 160 km
61 Forst (Neiße-Linie)-Bunzlau (Bolesławiec), 105 km
62 Bunzlau Bolesławiec)-Breslau, 123 km
63 Breslau-Gleiwitz, 164 km
64 Gleiwitz-Beuthen, 20 km
Qu.: https://www.bauwerk-reichsautobahn.de/
https://www.reichsautobahn.de/html/strecken.html
Nachtrag: historische Waldgebiete Alt-Deutschlands
Tucheler Heide (jetzt Bory Tucholskie) war (bis 1920) das mit Abstand größte Waldgebiet (3.200 km²).
Johannisburger Heide (jetzt Puszcza Piska), ca.1.005 km² Waldgebiet in Masuren. Bis 1945 war es der größte geschlossene Forst im Deutschen Reich.
Rominter Heide, 200 km² groß.
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Quellen und Literatur:
Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Hannover 1965.
III. Zur gegenwärtigen Lage in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie https://www.ekd.de/lage_der_vertriebenen_3.htm
Völkerrechtliche Fragen https://www.ekd.de/lage_der_vertriebenen_4.htm – https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ostdenkschrift_1965.pdf
Richard Breyer u. Joachim Rogall: Die Deutschen im polnischen Staat. In: Land der großen Ströme. Hrsg. von Joachim Rogall. Berlin: Siedler, 1996. S. 378-408; ebda. S. 380f.
Wolfgang Kessler: Die deutsche Bevölkerung Pommerellens und Großpolens nach dem Ersten Weltkrieg (1919 – 1929): Einführung zu Hermann Rauschnings „Die Entdeutschung Westpreußens und Posens.“ In: Rauschning, Hermann (1887-1982). Die Abwanderung der Deutschen aus Westpreußen und Posen nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen 1919-1929. Essen : Hobbing, 1988. (Nachdruck der Ausg. 1930)
Jochen Oltmer: Deutsche Zuwanderung aus den nach dem Ersten Weltkrieg abgetretenen Gebieten in Deutschland. In: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. Von Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen, Jochen Oltmer. Paderborn, Schöningh und München, Fink 2007. S. 525-529.
Otto Heike: Die deutsche Minderheit in Polen bis 1939. Ihr Leben und Wirken- kulturell, gesellschaftlich, politisch. Eine historisch-dokumentarische Analyse, Leverkusen 1985.
Hermann Rauschning: Die Entdeutschung Westpreußens und Posens: zehn Jahre polnischer Politik. Struckung: Verlag für Ganzheitliche Forschung und Kultur. (Nachdruck der Ausgabe von 1930).
ders.: Die Abwanderung der Deutschen aus Westpreußen und Posen nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen 1919 – 1929, Berlin 1930. (Hobbing: Essen: Hobbing, 1988; Nachdruck der Ausgabe von 1930).
Marek Stażewski: Zwischen Freiwilligkeit und Abwanderungsdruck. Die Migration von Deutschen aus dem nach dem Ersten Weltkrieg Polen zuerkannten Teil Westpreußens.
In: Zwangsmigrationen in Nordosteuropa im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg. Nordost-Archiv N.F., Bd. 14, 2005. S. 483–506.
[1] Qu.: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, 20. Band, Leipzig und Wien 1909, S. 567–568.
[2] Pommerellen (Korridorgebiet), 1920 polnisch, ab 1922 Woiwodschaft Pommerellen (die polnische Woiwodschaft Pommerellen umfaßte mit 16.386 km² ca. 62 % des Gebietes der ehem. Prov. Westpreußen). Das Gebiet wurde mit dem Inkrafttreten des Versailler Zwangsvertrags am 20.01.1920 von Polen annektiert.
[3]Qu.: Albert S. Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939, Wiesbaden 1998, 52-57.
[4] Kulm a. d. Weichsel (Culm): 10.500/4.500 Deutsche (1895) (Qu.: Neumanns Ortslexikon 1905) 1905: 11.600 Einw., 1921: 11.700/1.060 Deutsche (Qu.: Der Große Brockhaus. 15. Auflage, Band 4, Leipzig 1929).
[5]Dieser sog. ‚Stettiner Zipfel‘ mit Gebieten der ehem. Kreise Randow und Ueckermünde umfaßt etwa 930 km².