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Johannes Brahms – 1. Teil

Für uns war er das Urbild eines aufrechten deutschen Mannes, der nie etwas andres scheinen wollte, als er war. Seine wenigen Fehler lagen an der Oberfläche. Unbekümmert trug er sie zur Schau, es der Welt überlassend, den leichten Schleier zu heben und darunter das Herz von lauterem Gold zu entdecken,

schreibt Eugenie Schumann, die jüngste Tochter Clara und Robert Schumanns, in ihrem Buch „Erinnerungen“. Sie hatte Johannes Brahms lange Jahre hindurch aus nächster Nähe erlebt.

Für uns Nachgeborene grenzt es an Vermessenheit, den Musiker darstellen zu wollen, ohne gleichzeitig seine Musik vorzuführen. Denn seine Musik ist es, die uns sein Wesen noch am ehesten zu offenbaren vermag. Gleichzeitig entlastet mich Brahms des Vorwurfs, nicht bereit zu sein, hier seine Musik zu besprechen und in eine Stilkategorie einzuordnen, schreibt er doch selbst an Clara Schumann:

Sie wissen, ich liebe es durchaus nicht, Musiker und ihre „Tendenzen“ zu besprechen, „zu analysieren“.

DIE WURZELN

Johannes Brahms wurde am 7. Mai 1833 in Hamburg geboren, in einer der ärmsten, düstersten Gegenden der Stadt,

im „Gängeviertel“, Specksgang 24.

Sein Vater Johann Jakob stammte aus Heide in Dithmarschen. Als Musiker, der mehrere Instrumente spielen konnte, übersiedelte er nach Hamburg, um sich dort als Musikant durchzuschlagen.

In der Ulricusstraße betreiben zwei Schwestern einen kleinen Kurzwaren-Laden und vermieten Schlafstellen. Die ältere von beiden, Johanna Henrike Christiane Nissen, ist nebenbei Näherin und bereitet das Essen für die Mieter. Sie hinkt ein bißchen.

Acht Tage, nachdem Johann Jakob bei den Schwestern Unterkommen und Behaglichkeit gefunden hat, macht der stets Kurzentschlossene Christiane einen Heiratsantrag. Sie ist 17 Jahre älter als er und schenkt in der Folgezeit ihren drei Kindern Elise, Johannes und Fritz das Leben.

Mit Fleiß versucht die Familie, sich über Wasser zu halten. Der Verdienst für ihre Mühen ist gering. Der Vater hat zwar 1830 eine Hornistenstelle in der Bürgerwehr erhalten und tritt 10 Jahre später als Kontrabassist in ein Sextett ein, das im vornehmen

Alsterpavillon am Jungfernstieg Unterhaltungsmusik spielt, doch die Bezahlung ist gering und unregelmäßig, denn der Lohn wird bei den Gästen eingesammelt, richtet sich also jeweils nach deren Zahl. Später steigt Johann Jakob zum Orchestermusiker auf.

Er zwingt seine Familie zu häufigen Umzügen, die jedesmal in eine komfortablere, aber auch teurere Wohnung führen. Im Specksgang verbringt Johannes Brahms nur die ersten sechs Monate seines Lebens. Die wichtige Entwicklungszeit seiner Jugend – vom 9. bis zum 17. Lebensjahr – wohnt er mit seiner Familie am Dammtorwall 29, einer lichteren Hamburger Wohngegend.

Früh erkennen die Eltern die musikalische Begabung ihres Johannes. Er bekommt Klavierunterricht bei Cossel, später bei Marxsen. Beide sind rührend um den musikalischen Fortschritt des Hochbegabten bemüht.

Ein Jahr nach dem großen Hamburger Brand tritt der zehnjährige Johannes 1843 das erstemal als Klavierspieler in einem öffentlichen Konzert auf. 12-jährig beginnt er aus eigenem Willen, sich das gesamte klassische Klavier-Repertoire einzuüben. Marxsen erteilt ihm Unterricht in Komposition und Kontrapunkt. Brahms schreibt seine ersten Stücke.

Beim Aufspielen des Vaters in den Kneipen der Umgebung springt er mit ein, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Das Milieu kann den ernsten, in sich gekehrten Jungen nicht herabziehen, wenn es seiner jungen Seele auch schwer zu schaffen macht, wie er später einmal erzählen wird. Schutzschild seiner Seele werden die Gemütstiefe und Herzensgüte seiner Mutter gewesen sein. Die zahlreichen Gedichte, die sie kennt, legen den Grund zu seiner Liebe zum Volkslied. In Übereinstimmung mit dem Jugendfreund, Dirigenten und Komponisten Albert Dietrich meint der Biograf Malte Korff:

Das Brahms’sche Werk ist generell vom deutschen Volkslied, seiner Schlichtheit, seiner tiefen Innigkeit und Naturverbundenheit inspiriert.

Und Dietrich fand, daß dies „Volksliedartige“ der Brahms’schen Musik den „herzgewinnenden Zauber“ verleihe, den auch Wilhelm Furtwängler später empfinden wird. Er spricht von Brahms’ Fähigkeit,

mit und aus der großen überindividuellen Gemeinschaft des Volkes heraus zu leben und zu fühlen.

Zu seiner Mutter hat er zeitlebens ein ganz besonders inniges Verhältnis bewahrt.

Clara Schumann wird später – Brahms ist längst ein berühmter Komponist und Klaviervirtuose – in ihr Tagebuch schreiben:

Die Frau ist so prächtig! Sie gibt’s, wie sie’s hat, so einfach und gemütlich, macht gar kein Hin- und Herredens, und so hab ich’s am liebsten.

Deswegen hat sie sie als wahre Freundin auch immer einmal wieder in Hamburg besucht und bei ihr einige Tage gewohnt. Die Mutter spricht von ihr als dem „Engel“ und der „herrlichen Frau Schumann“. Und Brahms berichtet Clara Schumann später aus Hamburg:

Von Dir sprechen wir viel, sie lieben Dich alle so sehr.

Die heitere, humorvolle Mutter verbringt in Brahms Jugendzeit gern mit ihrem Johannes als ihrem lieben Gesprächspartner die Abende, wenn die Geschwister schon schlafen und der Vater auswärts musiziert.

Später wird Johannes an Clara Schumann schreiben:

Es ist so herrlich, bei den Eltern sein. Die Mutter möchte ich immer mitnehmen können.

Sein Biograf Kalbeck erhält später (1894) im Gespräch mit Brahms ein wenig Einblick in dessen Seele und hält fest:

Auch der eigenen Jugend gedachte Brahms in abgerissenen, aber innigen, aus der Tiefe des Herzens herausgeholten Worten … wie seine Eltern ihn, und wie er sie geliebt habe, wie sauer es ihnen und ihm geworden sei, sich anständig durchzubringen, welchen Demütigungen und Kränkungen er und sie in seiner Vaterstadt ausgesetzt gewesen seien …

Doch tiefer und offenbarer kommt seine Liebe zu seiner Mutter und seine Trauer um sie in seiner Musik zum Ausdruck wie im Adagio mesto des Horntrios op. 40, das noch 1865, in ihrem Todesjahr, entstand, und ergreifend im nachkomponierten Satz des „Deutschen Requiems“ mit dem Sopran-Solo „Ihr habt nun Traurigkeit“, zu dem der Chor leise singt:

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

Als die Mutter alt geworden ist, kommt es zur Scheidung vom Vater, und wenige Monate danach stirbt die vereinsamte Frau.

Der Vater

Johann Jakob findet sehr schnell eine neue Frau, die Witwe Karoline Schnack. Noch im Todesjahr Christianes heiraten sie. Brahms ist recht froh über die Wahl seines Vaters und behält ein herzliches Verhältnis zu seiner Stiefmutter bis zu ihrem Tode.

Die wahre Bedeutung ihres Sohnes und Bruders, des Musikers Johannes Brahms, vermag die kleinstbürgerliche Familie nicht einzuschätzen, bedauert Clara Schumann:

Wie kann es mir so leid tun, Johannes gerade von den Seinigen am wenigsten verstanden zu sehen! Mutter und Schwester ahnen nur das Außergewöhnliche in ihm, aber Vater und Bruder können nicht einmal das!

Brahms sieht das genau so, schreibt den Eltern in seinen zahlreichen Briefen kaum jemals etwas von seinen Werken, Konzerten, Erfolgen, Mißerfolgen. Gustav Jenner gegenüber kennzeichnet er seines Vaters Verständnis 1888 – wohl eher schmunzelnd:

Wenn mein Vater heute noch lebte, und ich säße etwa im Orchester am ersten Pult der zweiten Geige, so könnte ich immerhin zu ihm sagen, ich sei etwas geworden.

HINAUS IN DIE WELT!

Am 19. April 1853 begibt sich der introvertierte Johannes Brahms das erste Mal auf Reisen. Sein Begleiter ist der temperamentvolle ungarische

Geiger Eduard Reményi alias Hoffmann,

der 1849 den Revolutionswirren seiner Heimat entflohen und nach Hamburg gelangt ist. Von dessen Zigeunerweisen ist Brahms hingerissen. Sie bilden den Grundstock seiner sogenannten Ungarischen Tänze.

Die wirklich ursprüngliche ungarische Volksmusik ist jedoch mit der Zigeunermusik nicht gleichzusetzen. Erst Kodály und Bartók werden sie später entdecken und aus der Verborgenheit hervorholen.

Nach Winsen an der Luhe, Lüneburg, Celle, wo sie jeweils konzertieren, steuern die beiden Musiker Hannover an. Dort wirkt der berühmte Geiger Joseph Joachim als Hofkonzertmeister des Königs Georg V. Am 8. Juni spielen sie dem blinden König vor. Der Hofpianist Ehrlich berichtet:

… der Geiger gefiel sehr, der Pianist weniger; sein Scherzo war kein Hofkonzertstück.

Doch Joachim erkennt in dem befangenen Brahms das Genie. Eine lebenslange Freundschaft nimmt ihren Anfang.

Reményi und Brahms reisen weiter zu Franz Liszt nach Weimar. Der amerikanische Pianist William Mason ist Zeuge der Begegnung:

Dann endlich kam Liszt herunter. Nach allgemeiner Unterhaltung wandte er sich an Brahms und sagte: „Es interessiert uns sehr, etwas von Ihren Kompositionen zu hören. Haben Sie wohl Lust, etwas vorzuspielen?“ Doch Brahms, der offensichtlich sehr nervös war, versicherte, es sei ihm völlig unmöglich, in einer solchen Verwirrung zu spielen, und er war trotz Zuredens von Liszt und Reményi nicht bereit, ans Klavier zu gehen. Liszt sah, daß so kein Weiterkommen war und ging zu dem Tisch, nahm das erste Stück, jenes unleserliche Scherzo, in die Hand und sagte: „Nun, so werde ich es spielen müssen.“ Er legte die Noten auf das Pult … Ich zitterte förmlich, als Liszt das Scherzo auflegte. Er jedoch spielte es wundervoll vom Blatt und machte gleichzeitig kritische Anmerkungen zu dem Gespielten, daß Brahms verblüfft und begeistert war.

Die Reise endet mit dem Zerwürfnis des Musikerduos. Brahms wendet sich nach Göttingen, wo

Joseph Joachim

sich von seinen Konzertaktivitäten erholt und an der Universität Sommervorlesungen hält. Die Freunde wandern miteinander und sprechen über die verschiedenen Entwicklungsrichtungen in der Musik der neuen Zeit. Joachim nimmt Brahms mit zu studentischen Zusammenkünften, wo über Demokratie, Liberalismus und die Einheit der Nation gesprochen wird. Die Studentenlieder, die er hier hört, wird er später in seiner „Akademischen Festouvertüre“ verarbeiten.

Bei den Musizierabenden des Göttinger Musikdirektors Arnold Wehner treffen sie auch den Dichter des Liedes der Deutschen, Hoffmann von Fallersleben. Dessen Texte „Liebe und Frühling“ I und II hat Brahms schon vertont.

Nach erfolgreichem Konzert mit Joachim und Wehner legen ihm Freunde nahe,

Robert und Clara Schumann in Düsseldorf

aufzusuchen. Der schüchterne Brahms zögert, doch dann macht er sich Ende Juli auf den Weg, der ihn zur entscheidenden Wendung seines Schicksals führen wird. Joachim hält auch hier seine schützende Hand über ihn: Er empfiehlt, bei der Kölner Bankiersfamilie Deichmann einzukehren, die auch gute Beziehungen zu Schumanns unterhält.

Bei Deichmanns wird er freundlich aufgenommen und bekommt erstmals Partituren Robert Schumanns zu Gesicht, die er „kennen und lieben“ lernt, wie er Joachim begeistert schreibt.

In dem schlichten Düsseldorfer Haus der Schumanns wird er von der 12-jährigen Marie, der ältesten Tochter der Schumanns, empfangen und beim Vater Robert angemeldet. Wortkarg führt der ihn an den Flügel und fordert ihn auf zu spielen. Nach kurzer Zeit verläßt Robert das Zimmer und kommt mit seiner Frau Clara zurück:

Hier sollst du Musik hören, wie du sie noch nie gehört hast.

In dieser Atmosphäre taut der junge Mann auf. Clara Schumann schreibt in ihr Tagebuch:

Da ist wieder einmal einer, wie eigens von Gott gesandt. – Er spielte Sonaten, Scherzos etc. von sich, alles voll überschwenglicher Phantasie, Innigkeit der Empfindung und meisterlich in der Form … Es ist rührend, wenn man diesen Menschen am Klavier sieht mit seinem interessanten jugendlichen Gesicht, das sich beim Spielen ganz verklärt, seine schöne Hand, die mit der größten Leichtigkeit die größten Schwierigkeiten besiegt …

Brahms zieht in die Nähe der Schumanns und ist nun häufiger Gast bei ihnen. Robert Schumann sieht Brahms’ Kompositionen durch. In einer Chorprobe kündigt er den Gast an:

Da ist jemand gekommen, von dem werden wir alle Wunderdinge erleben.

Schumann will dem jungen Komponisten „seinen ersten Gang in die Welt erleichtern“ – wie er Vater Brahms schreibt, um dem eine Freude zu machen – und lobt Brahms in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ in seinem berühmt gewordenen Artikel

„Neue Bahnen“

in den höchsten Tönen:

… Ich dachte, die Bahnen dieser Auserwählten mit der größten Teilnahme verfolgend, es würde und müsse nach solchem Vorgang einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion spränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend …

Am Klavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Sinfonien. Lieder, deren Worte man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, … einzelne Klavierstücke, teils dämonischer Natur … dann Sonaten für Violine und Klavier, – Quartette für Saiteninstrumente, – und jedes so abweichend von anderen, daß sie jedes von verschiedenen Quellen zu entströmen schienen …

Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möge ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt …

Robert Schumann hat zwar die Zukunft des Künstlers richtig vorausgesagt, aber gerade dessen Bescheidenheit ist es, die ihn ob der Vorschußlorbeeren erschrecken läßt, ja, sie werden dazu beitragen, seine schöpferischen Kräfte für Jahre zu lähmen. Für „Massen“ hat er überdies bisher nichts komponiert, obwohl seine Werke für kleine Besetzung bereits teilweise enorme Dramatik und gewaltige Ausmaße aufweisen und geradezu nach großer Besetzung rufen. Er schreibt an Robert Schumann:

Sie haben mich unendlich glücklich gemacht … Gebe Gott, daß Ihnen meine Arbeiten bald den Beweis geben könnten, wie sehr Ihre Liebe und Güte mich gehoben und begeistert hat. Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich denselben einigermaßen gerecht werden kann …

Brahms studiert nun gemeinsam mit Joachim Kontrapunkt und beim Göttinger Musikdirektor Grimm Instrumentierung, wovon er seiner Meinung nach bisher keine Ahnung gehabt hat.

Clara!

Robert Schumann leidet zunehmend an Kopfschmerzen, Dauerton im Ohr, Halluzinationen. Am 27. Februar 1854 stürzt er sich von der Rheinbrücke, wird gerettet und in die Heilanstalt Endenich bei Bonn eingeliefert.

Brahms eilt zur unglücklichen Familie Schumann, um zu helfen. Er hütet die Kinder, hört zu, tröstet – ist aber längst tief ergriffen von seiner Liebe zu Clara Schumann. Ist er von ihr getrennt, empfindet er „tiefe Wehmut im Herzen“.

Ich sehne mich unendlich, Sie wiederzusehen, teuerste Frau, lassen Sie uns nicht länger als nötig warten.

Seit ich diesen herrlichen Sommer mit Ihnen verlebte …

… jedes Buch, jedes Heft, das ich von Ihnen habe, ist mir doppelt lieb, es ist mir heilig, und Sie müßten sehen, wie zärtlich ich die Bücher anfasse!

Wie lange und wie bange habe ich Ihren Brief erwartet …

O, Sie Beste der Frauen!

So singt und klingt es – voll Schmerzen – aus seinen Briefen an Clara Schumann in dieser Zeit, und mit jedem Freund möchte er über Clara „schwärmen“. Tagelang kann er nichts anderes denken als „Clara“.

Clara Schumann hat ihre Briefe aus dieser Zeit später vernichtet, wie mit Brahms verabredet. Marie hat sie in der Vernichtungsaktion aufhalten können, aber viele Briefe waren schon verloren. In ihrem Tagebuch jedoch finden sich Eintragungen, die ihre Gefühle für Brahms aufzeigen:

Dann scheint mir beim Künstler nicht das Alter, sondern, wie überhaupt bei allen Menschen, der Geist maßgebend, und so denke ich im Zusammensein mit Brahms nie an seine Jugend, sondern fühle mich durch seinen Geist immer in schönster Weise angeregt.

Oder:

Ich muß doch recht dem Himmel danken, daß er mir in meinem großen Unglück einen solchen Freund geschickt, der mich geistig nur erhebt … und mit mir fühlt, was ich leide.

Zu ihrer „innigsten Freude“ fährt der sehnsuchtsvolle Brahms der Konzertreisenden nach. Als Clara Schumann im August 1855 alle Hoffnung für Roberts Rückkehr aus der Heilanstalt aufgeben muß, zieht sie in eine Etagenwohnung um, in der auch Johannes ein Zimmer erhält.

Er übt fleißig Klavier, kommt aber in seinem kompositorischen Schaffen nicht voran. Selbstzweifel martern ihn, er fühlt den „Riesen“ Beethoven und – nach Schumanns überschwenglicher Ankündigung seiner Genialität – den Erfolgszwang „im Rücken“. Er beginnt mit der Arbeit an seiner 1. Sinfonie, deren endgültige Form er erst 1876 gefunden haben und erst dann „guten Gewissens“ der Öffentlichkeit präsentieren wird. An Clara Schumann schreibt er:

Wundere Dich nie, daß ich nicht von meinen Arbeiten schreibe. Ich mag und kann das nicht … Ich bin nie, oder nur ganz selten etwas zufrieden mit mir … Ich habe aber so wenig Lust …, über meinen Mangel an Genie und Geschick zu anderen zu lamentieren …

Robert Schumann stirbt am 29. Juli 1856 und wird tags drauf beerdigt. Clara Schumann ist nach allen seelischen und körperlichen Anstrengungen der letzten Jahre urlaubsreif. Zu fünft – mit zweien ihrer Söhne und Brahms mit seiner Schwester – geht die Reise in die Schweiz. Am Ende des Urlaubs im Oktober trennen sich ihre Wege. Clara bringt Johannes zum Zug.

… als ich zurückging, da war mir’s, als kehrte ich von einem Begräbnis zurück.

Dennoch: Sie bleiben Freunde bis ans Ende ihres Lebens. Brahms gehört zur Familie, in die er immer wieder aus der Fremde heimkehrt. Eugenie Schumann berichtet:

Wir ließen ihn mit uns leben, ohne ihn gerade viel zu beachten.

Marie, die älteste Schumann-Tochter, hatte sich zur Lebensaufgabe gemacht, der Mutter den Haushalt zu führen. Eugenie berichtet weiter:

Ihr freundlich gleichmäßiges Wesen, das Wohlwollen, welches sie jedem Gast entgegenbrachte, schufen eine Atmosphäre, in der alle sich wohl fühlen mußten. Und nun gar für Brahms, den geliebten Freund der Mutter, sorgte sie von der Zeit der Badener Sommer her bis zu seinem letzten Besuch in Frankfurt im Jahre 1895 mit nie erlahmender Aufmerksamkeit, ihm jedes Bedürfnis an den Augen ablesend. Er sei in bescheidenen Haushaltungen der einfachste und anspruchsloseste Gast gewesen, den man sich denken könne, sagte sie mir noch kürzlich.

… wir … waren dem Himmel dankbar, der ihr Brahms als Weggefährten geschickt hatte. Auch wußten wir, daß er trotz aller Schroffheit mit ganzer Seele an unserer Mutter hing, daß er sie liebte und verehrte wie niemanden sonst in der Welt. Über alle Verstimmungen hinüber reichten sie sich immer wieder die Hände, konnten es, weil ihre Freundschaft auf dem felsenfesten Grunde der Seelengemeinschaft, des innigsten Verständnisses in allen wichtigen Fragen der Kunst und des Lebens ruhte.

Die Verstimmungen hatten ihren Grund meistens in Brahms’ schroffem Wesen und führten bei der vielleicht übergroßen Empfindsamkeit meiner Mutter manchmal zu Mißverständnissen. Sie war ihr ganzes Leben hindurch von Liebe verwöhnt worden und hatte ein so weiches, zärtliches Herz, daß sie Unfreundlichkeit und Schroffheit von denen, die sie liebte, nicht ertrug.

Wohl verstand sie gerade in bezug auf den Künstler die Stimmungen, denen sie entsprangen, sie wußte davon aus jahrelanger Erfahrung; „sie hatte das Eisen brennen sehen“, wie Brahms ihr einmal schrieb. Sie war auch stets bereit gewesen, den Preis zu zahlen, den der Schaffende als geringen Dank für seine Gaben von der Welt zu fordern berechtigt ist, nämlich Nachsicht in den Stunden des Schaffens. Sie verstand größeres Insichgekehrtsein, Schweigsamkeit, Gereiztheit, nicht aber verstand sie, weil es ihrem eigenen Wesen so fremd war, wenn solche Stimmungen sich in persönlich kränkender Weise äußerten.

Clara Schumann leidet tief unter seinen Kränkungen.

Ich nahm, schon um sie zu trösten und zu beruhigen, bei Gelegenheit Brahms in Schutz, und da erwiderte sie mir jedesmal: „Du weißt nicht, wie er früher war, so zart und liebevoll, ein idealer Mensch.“

Eugenie versucht zu verstehen:

Wer vermag, sich in die Seele eines schaffenden Künstlers zu versetzen, der wird ihm viel verzeihen können. Ein Leben ewigen Hangens und Bangens ist es, ein Abhängigsein von der launenhaften Göttin der Inspiration; nie wird ihm Ruhe; so Herrliches er der Welt schenkt, selten darf er frei aufatmen. Kaum hat sich ein Werk dem Aufruhr seines Innern entrungen, so regen sich neue Gedanken und verlangen gebieterisch nach Luft und Licht. Und kommen dann gar Stunden des Zweifels an dem eigenen Genius, wie sie Brahms so wenig wie andern erspart geblieben sind, dann ist das Leben des Künstlers eine wahre Höllenpein.

Vielleicht übertreibt sie. Aber sie zeigt ein tiefblickendes Auge, wenn sie schreibt:

… beglückt hat ihn solche Schroffheit nicht; denn sie tat seinem eigenen Herzen wehe. Sie hielt ihn dauernd im Zustand der Abwehr gegen vermeintliche Eingriffe in sein Dasein und seine Unabhängigkeit … Ja, Brahms hat viel gelitten, er war eben Mensch und der menschlichsten einer unten den Menschen, aber deshalb hatten ihn auch wiederum die Menschen so lieb.

Dennoch sagten „wir Schwestern“ aus Mitgefühl für die Mutter „ihm öfters tüchtig unsere Meinung.“ Wenn jedoch jemand anderes Clara Schumann kritisierte, setzte er sich sofort für sie ein.

Ich sah Brahms so gerne an, wenn er: „Ihre Mutter“ sagte. Sein Auge leuchtete dann so blau, so rein und innig. – Wir Kinder liebten an Brahms seine jugendfrische Männlichkeit, sein urdeutsches Wesen, seine Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit, die Klarheit seines Geistes, der die Dinge so hell sah und sehen ließ, vor allem aber liebten wir an ihm seine Liebe zu unserer Mutter.

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fritzen
14 Jahre zuvor

Brahms: er ist für mich – trotz allen menschlichen Unzulänglichkeiten – der Komponist, der meinem seelischen Empfinden am nächsten kommt. Selbst unter Himmel-hoch-jauchzend verbirgt sich in seinen Werken eine abgrundtiefe Traurigkeit.

Für mich das Schlüsselerlebnis – für das mein lieber Mann damals kaum Verständnis hatte – war Brahms‘ 1. Sinfonie im Berliner Titania-Palast. Ich glaube unter Furtwängler. (J.F. war später ein ebenso begeisterter Brahms-Anhänger!) Ich sehe mich noch, im gemeinsamen Gespräch mit einem ganz jungen Freund, nach dem Konzert, heiss diskutieren. „Empfindest Du denn nicht, was in dieser Sinfonie ausgedrückt wird,“ fragte ich beinahe empört. Aber wahrscheinlich empfanden wir „anders.“ J. schwärmte damals für Strawinsky, Bartok, Hindemith und die moderneren Komponisten, die ich erst noch kennen lernen musste. Brahms‘ Musik ist im Grunde eine tiefempfundene traurige Musik mit vielen elegischen Zügen.

Ich bin nicht Psychoanalytikerin, um den Ursachen nachzuspüren, aber letztlich war er wohl ein Leben lang „unglücklich“ verliebt. Clara Schumann! Vielleicht unser und sein Glück, dass diese „liaison“ das geblieben ist, was sie war. Die idealisierte Clara wird in Dieter Kühn „Clara Schumann, Klavier – Ein Lebensbuch „(Fischer-Verlag) einmal ganz anders beleuchtet. Auch lesenswert, aber ernüchternd.

Haben Sie sich schon mit Mahler oder Bartok so intensiv beschäftigt? Lohnt sich auch. Und ich werde mir jetzt Schubert-Lieder auflegen.
MF

Helmut Wild
Helmut Wild
14 Jahre zuvor

Was fuer ein wundervoller Beitrag. Ich habe beide Teile mit Faszination gelesen. Da wird so vieles an „empirischem Material“ geboten, was der heutigen Bewusstseinsforschung gewiss zur Anregung dienen kann. Ich bin begeistert von der Einfuehlsamkeit, mit der dieser Beitrag geschrieben und zusammengestellt ist.

Ich moechte das Beispiel von Robert Schumanns Preislied auf den jungen Brahms herausgreifen. Beim ersten Blick ist sicherlich jeder beeindruckt von der Faehigkeit und Sicherheit dieses kongenialen Komponisten, die Begabung und die schoepferische Kraft des jungen Brahms zu erkennen. Und ueberdies die voellige Erhabenheit ueber primitives Konkurrenzdenken oder gar Begabungsneid.

Meine beiden Toechter, die beide kuenstlerisch hochbegabt sind – (wer schon kann sich als Vater ein solches Urteil anmassen!!) – haben mir und meiner Frau oft ein Lied gesungen ueber solch erlebte seelische Niedertracht. Das zeichnet ein solch lebendiges Bild von dem schoepferischen Aufbruch, der sich damals in Deutschland vollzogen hat und der vom ersten Weltkrieg an einer systematischen kriegerischen und propagandistischen Vernichtung ausgesetzt ist.

Immerhin, das Lobeslied von Robert Schumann hatte keine gute Wirkung auf Brahms selbst. Die Kuenstlerseele bedarf eben, wie die Philosophin Mathilde Ludendorff das einmal ausgedrueckt hat, einer ganz spezifischen Mischung aus Anerkennung und Verkennung. Die Weisheit dieser Aussage, die sich huetet, ein Rezept sein zu wollen, kommt in der Lebensbeschreibung von Brahms wunderbar zum Ausdruck – implizit gewissermassen.

Nochmals vielen herzlichen Dank.

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[…] schrieb die berühmte Lobeshymne über den Neuankömmling in der Welt großer Musik mit dem Titel „Neue Bahnen“ in der Neuen Zeitschrift für Musik. Und: Das ist der, der kommen […]

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