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Ilse Behrens (3)

Den Brief für Günther hat Ilse Behrens geschrieben, und sie sitzt auch an seinem Bett, als er aus der Narkose aufwacht.

Nun ist sein Bein amputiert.

Der 19-jährige Junge schaut die Rotkreuzschwester mit einem Blick an,

Buchtiteldaß mir das Herz weh tut. Doch plötzlich bäumt sich etwas in ihm auf, zu lange hat er sich beherrscht, und der Zorn, der Zorn entleert sich auf mich.

“Sehen Sie mich doch nicht so mitleidig an!” stößt er außer sich hervor. Oho! Mitleidig, mein Lieber? Ich habe mich schnell gefaßt. “Ich werde Dich einmal durch die anderen Säle führen. Blind, mein Junge, keine Augen, keine Hände, die Gesichter ohne Kinn, ohne Kiefer, ohne Nasen. Verstümmelt! Kameraden von Dir, Jungen wie Du. Du wirst zur Uni gehen, wirst lernen, lernen, wirst eine Zukunft haben. Und sie werden in Heil- und Pflegeanstalten gebracht werden, die sie nie wieder verlassen – zukunftslos und hoffnungslos!” – Günther ist wieder ruhig geworden. (…)

Eines Tages packe ich seine kleine Habe und geleite ihn bis zum Sankra. Er läßt meine Hand nicht los. “Ich werde Sie nie vergessen!” – Nein, sowas vergißt man wohl nicht. – “Grüße Deutschland!” sage ich leise. Wir sagen es jedesmal, wenn sie abfahren in die Heimat.

Ilse Behrens wird nun selbst krank. Bei hohem Fieber genießt sie ihre Apathie.

Ruhe – Stille – Stille.

Charkow 1942

2. Mai.

Es ist Frühling geworden in Rußland. Unser Lazarett ist fast leer. Laufend haben Lazarettzüge unsere Verwundeten in die Heimat geholt. An der Front herrscht Ruhe. Die Stille vor dem Sturm. Charkow steht im Zeichen der zu erwartenden Frühjahrsoffensive. Hier scheint sich nun die ganze sechste Armee zu konzentrieren. Das Straßenbild ist überflutet von Einheiten aller Waffengattungen. Panzer rollen schwer und dröhnend pausenlos in die Stadt hinein. Die ungeheuren Truppenansammlungen, das milde Frühlingswetter und die ersehnte Ruhe geben uns alle Hoffnung und allen Frohsinn wieder. Ach, einmal wird der Krieg zu Ende sein, und dann wird alles gut werden.

Leni und ich schlendern jetzt öfter durch die Stadt (…) und suchen sehnsüchtig nach irgend einer verborgenen Schönheit, einem unentdeckten Stückchen Wunder. Aber wir finden nichts.

Gestern waren wir im Zoo. Es war die Vorstellung von Büschen und Bäumen, von schwellenden Knospen und ein paar Vogelstimmen, die uns zu diesem Ausflug verleitete. Wären wir nur nicht hingegangen. Es waren noch Tiere im Zoo. Ein wohl sehr alter, bis auf die Rippen abgemagerter Bär lag an einer Kette hinter den verrosteten Gittern eines Käfigs. In seinen trüben kranken Augen lag der dumpfe und gequälte Ausdruck der gefesselten Kreatur. Ich riß Leni zurück, wir liefen aus dem verwahrlosten Park und mußten doch noch an dem kleinen Affen vorbei, der fast ohne Fell, halbtot im dunkelsten Winkel seines engen Käfigs hockte. Das Ganze war wie ein böser Angsttraum. Maßlos niedergeschlagen gingen wir dem Stadtkern zu. –

Nitschewo!

Die Einwohner kommen jetzt in der Wärme der ersten Frühlingstage langsam aus ihren Wohnlöchern heraus. Sie hocken, in Lumpen gehüllt, manchmal stolz und manchmal bettelnd auf den Treppenstufen oder lehnen sich gegen die Hauswand. Er sind meistens Frauen. Ihre Haare haben sie unter einfachen Kopftüchern schmucklos verborgen, ihre Füße stecken in unförmigem, häufig zerrissenem Schuhzeug.

Um sie herum scharen sich die Kinder. Sie tragen meistens ausgedientes Militärzeug und sind blaß, so blaß, wie Kinder niemals sein dürften. Mit fremden, ernsten Augen blicken die meisten um sich. Sie spielen nicht, sie toben nicht. Wie kraftlose kleine Puppen hocken sie auf dem Gestein, und nur ihre Hände, die schmutziges Brot halten, verraten etwas Leben.

Manchmal halten die Mütter sie zum Betteln an. Sie setzen sie auf ein warmes Stückchen Erde ins Sonnenlicht und gehen ihrer Arbeit nach. Die Kleinen aber bleiben unbeweglich hinter der schmutzigen Pelzkappe sitzen, die mit der Öffnung nach oben die Almosen auffangen soll.

Der Krieg ist grausam und das Leben ist grausam, und was wir sehen, ist noch wenig genug davon. Was alles mag sich noch in den endlosen Häuserkasernen verbergen. Wieviel Hunger und Krankheit, wieviel Sorgen und Leid auch um Vermißte, Verschleppte, Verurteilte des eigenen Regimes?

Fast alle unsere russischen Lazarett-Helferinnen haben irgendeinen Angehörigen, der nach Sibirien verbannt ist, oder einen lieben Menchen, der ihnen schon bis Kriegsbeginn vor den Augen verschwand und nicht wieder auftauchte. Sie senken ihre Stimmen, wenn sie davon erzählen, aber ihre schmalen Augen über den breiten Backenknochen blicken über uns hinweg in die unermeßliche Weite ihres Landes hinein.

Das Gespräch endet jedesmal mit jenem bezeichnenden Achselzucken und dem einen Wort, das ihre ganze Lebenseinstellung charakterisiert: Nitschewo.

(…)

Ich kann nicht mehr an das “Später” glauben. All die vielen, die ich sterben sah, die Tausende, die an den Fronten fielen, glaubten doch auch so fest wie ich an ihre Pläne, ihre Liebe und an das Leben. Und dann kam der Tod. Wir sind dem Krieg und seinem Schicksal gnadenlos ausgeliefert. Hoffen, ja hoffen können wir noch – aber glauben nicht mehr. –

Die Front rückt näher

21. Mai 42.

Am 8. Mai begann die Offensive auf der Krim. Am 13. Mai kam es zur Gegenoffensive im Raum von Charkow und traf die unvorbereiteten Stellungen hart. Schwere Verluste auf unserer Seite. Das Lazarett, das völlig geräumt war, ist innerhalb von achtundvierzig Stunden überfüllt. Diese achtundvierzig Stunden haben wir durchgearbeitet mit entschlossenen Gesichtern.

Am 13. Mai ist die russische Panzerspitze nur noch 12 km von Charkow entfernt. Einige Verwundete schleppen sich zu Fuß hierher. Die meisten befinden sich noch im Schock. In ihren Angst- und Fieberdelirien erleben sie noch einmal das wahnsinnige Entsetzen, das sie anpackte, als sie die ungeheuren Massen von russischen Panzern gegen die deutschen Linien anrollen sahen.

Ja, das Ungeheuer, der unendlich tiefe, unheimliche Raum Rußlands, hat seinen Rachen geöffnet und speit nun pausenlos Panzer aus, die in breiter Front Tod und Vernichtung bringen. Am Abend und in der Nacht kommen die Ratas und werfen Bomben über der Stadt ab. Krachend ertönen die Detonationen in unserer Nähe. Die Verwundeten sind unruhig.

Es kommt ein Geheimbefehl für die Sanitätsoffiziere, Alarmstufe I! Wir laufen, helfen, trösten, verbinden morgens, mittags, abends, nachts und wieder morgens. Und Qual, Verzweiflung, Stöhnen und Sterben erfüllen das Lazarett von Neuem.

Die Bombenangriffe werden stärker. Einige Dienstgrade lassen nervös die Verwundeten im Stich und eilen nach dem Keller. Ich verbinde einen jungen Offizier, der seinen Arm verloren hat und mit blassem Lächeln mir den Stumpf hinhält. In dem Augenblick krachen mehrere Einschläge in nächster Nähe. Der Luftdruck preßt die Türen ein, Glas zerschellt auf dem Boden, Mauerwerk poltert herab. Das Licht löscht aus.

Irgend jemand im Parterre schreit gellend und anhaltend, daß es durch das ganze Haus hallt. Ich bin fertig mit Verbinden und lausche einen Augenblick unbeweglich auf das Schreien hinaus. “Haben Sie Angst?” Tiefes Befremden klingt aus der Stimme des jungen Leutnants. “Angst?” wiederhole ich.

Ja vielleicht habe ich Angst. Nun ist es also soweit, daß ich auch schon Angst habe. Aber plötzlich steigt ein Zorn in mir hoch. Darf ich denn schließlich nicht auch einmal Angst haben? Bin ich denn eine Maschine oder siebzig Jahre alt, daß es gleich ist, ob ich heute oder morgen davongehe! Ich möchte noch ein bißchen leben, Herr Leutnant! – (…)

Frühling

(…) meine Füße sind angeschwollen, daß mir das Gehen schwer fällt. Drei Tage und drei Nächte voll ununterbrochener Arbeit liegen hinter uns, und in diesen drei Tagen hat sich im Garten ein Wunder vollzogen: Alle Knospen sind aufgesprungen, alle Hecken blühen, süßes zartes Birkengrün rieselt zu silbrigen Stämmen herab. Osterglocken haben ihre Kelche geöffnet, und die Luft ist so weich und mild, daß sie mich taumelnd macht.

In den drei Tagen, in denen sich das Donnern der Geschütze, die Detonationen der Bomben mit dem Schreien und Stöhnen tausender Verwundeter und Sterbender vermischte, in denen die Steppe zur Hölle wurde, Ströme von Blut die fremde Erde durchtränkten, in denen Hoffnungslosigkeit, Angst und Verzweiflung, Gefangenschaft und Tod das Maß des Leides übervoll machten, in diesen drei Tagen ist der späte, blühende Frühling über die russische Erde gekommen. Er hat das häßliche Stückchen Gartenland in die flimmernde, schimmernde Pracht des Lenzes getaucht.

Ich muß die beiden holen, daß sie es mit ansehen, es ist zuviel, zu überwältigend für mich allein. Ich suche Dr. P. und Leni, die müde im Ope sitzen. “Draußen ist alles grün”, sie schauen mich verwundert und ungläubig an. “Ja, auch die kleine Birke hat Blätter bekommen!” “Aber sie war doch vor einigen Tagen noch ganz kahl!”

Leni glaubt es einfach nicht. Aber ich bringe sie doch dazu, mit hinunter zu kommen. Und dann stehen sie da: schweigend, aufs Tiefste betroffen und beinahe wie lauschend, als seien geheimste und zarteste Saiten in ihnen zum Schwingen gebracht. Und voller Andacht vor diesem beglückenden Frühlingswunder von fast göttlicher Deutung.

Leni schmiegt ihr blasses, übernächtigtes Gesicht an den Stamm der kleinen Birke. Ich neige mich zu einer Ostergocke herab und umfasse sanft ihren gelben Kelch, Dr. P. aber löst mit sachten Fingern ein Stückchen rostigen Drahts, der sich im Gezweig der jungen Hecke verschlungen hat. Wir sind so bewegt, daß wir uns voreinander schämen und allein nacheinander ins Lazarett zurückgehen. (…)

Unsere Gedanken gehen nach Westen – nach Westen.

14. Juni.

Charkow ist tiefste Etappe geworden. Unsere Truppen marschieren schon jenseits des Dons – immer tiefer in das unermeßliche Land hinein, immer weiter fort von Deutschland. Eines Tages werden wir ihnen folgen. Die Straßen sind angefüllt mit Soldaten, weiblichen Wehrmachtsangestellten, Staub und Hitze. Wir sind müde und unlustig. Unsere Gedanken gehen nach Westen – nach Westen.

Leni erkrankt an Ruhr, Ilse Behrens an Diphterie. Sie hat Anspruch auf  Genesungsurlaub.

25. Juni.

Oh, wenn ich zu Hause bin, dann werde ich nur Obst essen, und baden, baden und Obst essen. Vielleicht werde ich auch beides zusammen tun, damit ich über das eine das andere nicht versäume!

“Wirst Du wiederkommen?” fragt Leni. Ich gucke sie erstaunt an – wie blaß und schmal sie geworden ist! Irgendwie hat diese Krankheit ihr einen Stoß versetzt. Etwas Unfrohes liegt über ihr, was fremd ist. (…) “Wenn Du Diphterie gehabt hast, kannst Du in der Heimat eingesetzt werden!”

Sie sagt es beinahe überredend und versinkt dann tief in Gedanken. Was ist nur mit ihr! “Ich käme nicht wieder.” “Ach Leni, Du kämest auch wieder. Du bist ja viel zu treu, als daß Du irgendetwas im Stich ließest!” “Außerdem” – ich setze es abwägend und nicht ganz überzeugt hinzu, “haben wir uns einmal freiwillig gemeldet.” –

“Aber wann fährst Du auf Urlaub?” Wenn sie doch etwas froher würde. “Sobald ich Nachricht von Rolf habe.” Rolf ist ihr Verlobter, ein junger Arzt, der auf einem Verbandsplatz im Mittelabschnitt eingesetzt ist. “Wir wollen heiraten!” Auch das klingt so weit, weit weg. “Und dann bleibst Du zu Hause und wischst jeden Morgen Staub! Und wir siegen inzwischen”, lache ich sie an. Nun lächelt sie doch: “Vielleicht komme ich wieder?” Dann nickt sie mir müde zu und geht. Nein, mit Leni ist nichts mehr los. Und irgendwie habe ich Angst um sie.

16. Juli.

Ich fahre nach Deutschland!

Der Zug rollt durch die Ukraine. Hoher Sommer liegt über dem grenzenlosen Land. Der Duft des reifen Kornes und der Erde kommt beglückend zum Fenster herein. Unendliche Kornfelder heben sich hell und ruhevoll von der satten Bläue des Himmels ab. Unermeßlich ist der Reichtum der schweren Ähren, die sich leise hin und her wiegen. (…) Und dann kommen Sonnenblumen, Millionen von Sonnenblumenköpfen heben ernsthaft und fromm ihre Blumengesichter der Sonne entgegen. –

Und es ist, als schwinge aus ihren Blumenkelchen ein “Credo” zum Lichte empor. Ihre dottergelben Blumenblätter, die wie Sonnenstrahlen das warme Braun ihrer Mitte umkränzen, beben leise. Kräftig und saftig leuchtet das Grün ihrer großen Blätter. Ach, ist das schön – wie ist das alles schön! Gibt es noch diese entsetzliche Stadt, diese Stadt, die keine Seele und kein Antlitz hat? Die schattenlos und gnadenlos der unbarmherzigen Hitze des Hochsommers ausgeliefert ist? Ach, ich will nicht mehr an Charkow denken, drei Wochen mit keinem Gedanken in Rußland sein!

Zurück an die russische Front

25. August im Zuge.

Glühender Mittag über Rußland. Wir fahren und fahren. Längst liegt Charkow hinter uns. Weiter nach Osten – der Wolga zu – liegt unser Ziel. Müde sitzen Mannschaften und Offiziere in allen Stellungen auf den kurzen Holzbänken. Müde vom Fahren, von Rußland, vom Krieg.

Als ich in Charkow auf der Frontleitstelle nach meiner Einheit fragte, hielt ein älterer Feldwebel mich auf dem Gang an. “Kehren Sie um, Schwester”, sagte er, “Ihr Lazarett liegt fast 500 km östlich von hier. Dort gehören keine deutschen Mädchen mehr hin.” Ich blickte den Mann verständnislos an. Er gab den Blick fest und mit einem fast düsteren Ernst zurück. “Aber ich komme aus dem Urlaub, das ist meine alte Einheit dort”, versuchte ich zu erklären. “Ja, ja”, plötzlich sah er alt und müde aus und ging grußlos davon. Mehr bestürzt als empört verließ ich die Dienststelle. Was sollte das? Ich begriff es nicht. –

Es ist mir dieses Mal so schwer geworden, von Hamburg wegzufahren. Immer wieder sehe ich die Stadt vor mir, wie ich sie am letzten Tage erblickte: grün schimmert das Patina der alten Türme im Sonnenlicht, die Ziffern der großen Uhr des Rathauses funkeln und sprühen alle Sonnenstrahlen wider. Das Wasser der Alster gluckst leise an das Ufer und hat ein Stückchen blaßblauen Großstadthimmel eingefangen. Blumenrabatten in der ganzen fröhlichen, hochsommerlichen Farbenpracht leuchten hier und dort inmitten des flutenden Verkehrs.

Und Sosch! Sie steht auf dem Bahnhof und winkt und winkt! Sosch – Gefährtin, Freundin, Kameradin, Schwester. – Wie soll ich sie nennen? Ach, sie ist mir mehr als das alles. Sie ist der Inbegriff der Heimat.

Und nun fahren, fahren, fahren wir nach Osten: 500 km noch einmal tiefer in das Land hinein. Zum Rande Europas! Gibt es von da noch einen Weg zurück?

Fortsetzung folgt.

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