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Wo liegt die „schöne alte Wunderstadt“ Vineta, und wer ist Martha Müller-Grählert?

Karl-Heinz Requard

ist dem Rätsel „Vineta“ nachgegangen und hat Schätze gehoben, von denen wohl nur wenige von uns jemals gehört haben. Seine diesbezügliche Abhandlung erschien in der Zeitschrift „Mensch und Maß“ 12/21*.

„Wo de Nordseewellen trecken an den Strand“

– wer kennt nicht dieses Lied, bei dem es sich so schön schunkeln läßt? Sein Text aber stammt nicht vom Nordseestrand! Folgen wir Karl-Heinz Requard. Er nimmt uns auf dem Weg zum Ursprung des Liedes an die Hand:

Es stammt aus Pommern!

Wo de Ostseewellen trecken an den Strand

Und die geheimnisumwobene Stadt Vineta – ist sie womöglich auch eine pommersche Stadt?

Hören wir Wilhelm Müller, den Dichter so zahlreicher Lieder von Franz Schubert! Requardt läßt Müller als ersten zu Wort kommen:

 

Wilhelm Müller (Bild: http://www.autorenkreis-wilhelm-mueller-dessau.de/)

Vineta

von Johann Ludwig Wilhelm Müller

Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
klingen Abendglocken, dumpf und matt,
uns zu geben wunderbare Kunde
von der schönen, alten Wunderstadt.

Eine schöne Welt ist da versunken,
ihre Trümmer blieben unten stehn,
lassen sich als goldne Himmelsfunken
oft im Spiegel meiner Träume sehn.

Danach teilt Requard mit:

Diese Zeilen schrieb der deutsche Dichter Johann Ludwig Wilhelm Müller (1794-1827), der uns heute bekannt ist mit dem Lieder-zyklus „Die schöne Müllerin“, vertont von Franz Schubert. Zu dem Müllerschen Gedicht „Vineta“ schrieb Johannes Brahms eine Melo-die (3 Gesänge: Chor a capella in 6 Stimmen – Opus 42.2).

Erinnert wird mit dem Stück an eine sagen-hafte Stadt, die vor etwa 1000 Jahren an der vorpommerschen Ostseeküste untergegangen sein soll.

Wo ist aber diese „Wunderstadt“ zu finden? Diese Frage wird wohl noch lange ein Ge-heimnis bleiben, denn genaue Angaben feh-len. Und so werden ein halbes Dutzend Orte genannt, von denen man vermutet, daß Vineta da oder dort zu suchen sei.

Am wahrscheinlich-sten sind mir die An-gaben des Chronisten Adam von Bremen, der (wohl vor 1050 – 1081/1085 aus der näheren Umgebung von Würzburg stam-mend) im Hochmittel-alter lebte und mit seiner „Hamburgi-schen Kirchenge-schichte“ berühmt wurde.

Das Werk enthält die älteste schriftliche Auf-zeichnung mit Angaben zur Entdeckung „Vinlands“ (Nordamerika) durch die Wikinger.

Über Vineta (auch Vimne, Jomsberg oder Julin genannt) steht geschrieben, es sei ein reicher Ort auf einer Insel an der Ostsee, in der Nähe der Odermündung, gewesen. Hier betrieben Slawen, Griechen, Sachsen u.a. Handel, und hier fand dereinst Harald Blauzahn (König von Dänemark und Norwegen) Zuflucht.

 

Karte von Darß-Zingst-Barth (Bild: “Ferien an der Ostsee”)

Neuere Erkenntnisse sprechen davon, daß Vineta im Schlick des Boddens vor dem Ost-seebad Barth zu suchen sei; bisherige Aus-grabungen und schriftliche Überlieferungen wären wohl falsch beurteilt worden.

Deutungen von Ortsnamen geben hingegen genügend Hinweise auf das sagenumwobene Vineta; und die Oder habe vor 1000 Jahren ohnehin einen ganz anderen Lauf genommen.

 

“Vineta-Stadt” Barth (Bild: barth.kuesten-fans.de)

Die Forschungen vor Ort dauern zur Zeit noch an, und wir müssen uns nicht an Spekulatio-nen beteiligen. Wir freuen uns vielmehr darü-ber, was wir mit Augen und Ohren selbst er-fassen können:

Eine besondere Lage am Meer berechtigt Barth, sich mit dem Beinamen „Tor zur Ost-see“ zu schmücken – einer der schönsten Hä-fen empfiehlt sich gleichermaßen für Strand-urlauber, Wassersportler und Naturfreunde … wenn in der Morgenfrühe die ersten Sonnen-strahlen das Meer zum Funkeln bringen, ist man geneigt zu glauben, aus der Tiefe der Ostsee die Glocken von Vineta zu hören.

Am 20. Dezember 1876 wurde in Barth die vorpommersche Heimatdichterin

Martha Müller-Grählert

geboren. Kindheit und Jugend verbrachte sie im nahegelegenen Zingst, einem ehemaligen Seefahrerdorf auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Umgeben von Ostsee, Bodden und einem wildreichen Waldgebiet (Natio-nalpark Vorpommersche Boddenlandschaft) hat Zingst sich heute zu einem stattlichen „Ostseeheilbad mit modernem Charme“ herausgeputzt.

Martha Müller-Grählert besuchte in Franz-burg (Mecklenburg-Vorpommern) das Leh-rerseminar und verdiente sich ihren Lebens-unterhalt als Hauslehrerin. Schon bald be-gann sie, Gedichte zu schreiben, ging mit 22 Jahren nach Berlin und arbeitete als Schrift-leiterin für das „Deutsche Familienblatt“. Hier – fern der Heimat im fremden Berlin – schrieb sie in vorpommerschem Plattdeutsch das Ge-dicht „Mine Heimat“, das 1907 im Sammel-band „Schelmenstücke“ erschien und mit den Worten beginnt: „Wo de Ostseewellen trecken an den Strand“.

Die pommersche Dichterin Martha Müller-Grählert (Bild: Wikipedia)

Im Jahr 1911 – die Schriftstellerin war inzwischen verhei-ratet – ging sie mit ihrem Mann, der in Sapporo eine Gast-professur erhalten hatte – nach Japan. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrten die beiden zurück nach Deutschland.

Die Ehe ging auseinander, Martha Müller-Grählert geriet in wirtschaftliche Not und versuchte, ihr Einkommen mit Vorträgen und Leseabenden zu bestreiten.

Es erschien ein weiteres Buch: „Mudder Möllersch‘ Reis na Berlin“, aber für ein gere-geltes Auskommen konnte es auf Dauer nicht reichen.

So ging sie zurück nach Zingst, schrieb wei-tere Gedichte und arbeitete wieder für die Zeitung.

In der Zwischenzeit hatte

das Gedicht „Mine Heimat“

eine wahrlich große Bekanntheit erlangt: Ein wandernder Geselle aus Flensburg hatte einen Zeitungsausschnitt mit den sehn-suchtsvollen Zeilen bis nach Zürich gebracht, und so landeten diese schließlich bei Simon Krannig (1866-1936), dem Dirigenten eines Männergesangsvereins. Krannig schrieb eine sanfte, wiegende, einfühlsame Melodie für das Ostseewellen-Lied.

Der aus Detmold stammende Schriftsteller Friedrich Fischer-Friesenhausen (1886-1960) veränderte den Text und machte aus „Mine Heimat“ das „Friesenlied“: „Wo de Nordsee-wellen trecken an den Strand“.

Wenn Fischer-Friesenhausen im Weltnetz auch als völkisch gesinnter Nationalsozialist und gar als Judenhasser bezeichnet wird, so müßten hier die Hintergründe der Angaben einmal näher untersucht werden.

Tatsache ist: Das „Friesenlied“ erreichte einen weltweiten (!) Bekanntheitsgrad; und auch heute noch wird das beliebte Heimatlied – oft mit angepaßten Textänderungen – immer wieder und überall gern gesungen.

Fischer-Friesenhausen machte 1930 daraus:
„Wo die Fuhren rauschen auf dem Heidesand“.

Unbekannte Verfasser schrieben zur Ostseewellen-Melodie für ihre Heimat:

  • „Wo die grünen Wiesen leuchten weit und breit“ (1930 – Mecklenburger Land)

  • „Oberfranken ist mein schönes Heimatland“ (1950 – Frankenland)

  • „Wo die Kiefern raunen leis‘ ihr heimlich Lied“ (1951 – Jägerlied)

In Australien, Kanada und Brasilien, in Frank-reich, England, Spanien, Dänemark, in den Niederlanden … fast überall auf der Welt wird zu der Melodie des „Ostseewellen-Liedes“ gesungen. In Südtirol kann man sogar eine ladinische Version hören.

Die Tantiemen für das Lied flossen reichlich. Fischer-Friesenhausen weigerte sich aber, diese mit den eigentlichen Urhebern zu teilen. –

Martha Müller-Grählert lebte indes in höch-ster finanzieller Not. Trotz jahrelanger, kräftezehrender Gerichtsverhandlungen gelang es ihr und Krannig nicht, Urheber-rechte für das Ostseewellenlied geltend zu machen. Erst 1936 wurden der Dichterin und dem Komponisten Tantiemen zugestanden.

… Doch nun war es zu spät; zu Lebzeiten haben die beiden keine Ehre und auch keinen finanziellen Lohn erhalten: Krannig verstarb 1936; und bevor das Urteil rechtskräftig wurde, verstarb am 18.11.1939 Martha Müller-Grählert – arm, einsam und fast erblindet im Altersheim zu Franzburg.

 

Grab auf dem Zingster Friedhof (Bild: Wikipedia)

Auf ihrem Grabstein in Zingst lesen wir die Inschrift: „Hier is mine Heimat, hier bün ick tau Hus“.

Wieviele deutsche Dichter und Musiker teilten mit ihr dies Schicksal: Während die Verkäufer ihrer Werke gewinnbringende Geschäfte mit den Kostbarkeiten machten, fristeten die genialen Autoren ihr Dasein in Armut: Mozart, Schiller, Schubert …

Mine Heimat

Martha Müller-Grählert

Wo de Ostseewellen trecken an den Strand,
wo de gele Ginster bleuht in´n Dünensand,
wo de Möwen schriegen, grell in´t Stormgebrus, –
da is mine Heimat, da bün ick tau Hus.

Well- und Wogenrunschen wir min Weigenlied,
un de hogen Dünen seg´n min Kinnertied,
seg´n uch mine Sehnsucht un min heit Begehr,
in de Welt tau fleigen öwer Land un Meer.

Woll het mi dat Leben dit Verlangen stillt,
het mi allens geben, wat min Herz erfüllt,
allens is verswunden, wat mi quält un drew,
hev nu Frieden funden, doch de Sehnsucht blew.

Sehnsucht na dat lütte, stille Inselland,
wo de Wellen trecken an den witten Strand,
wo de Möwen schriegen grell in´t Stormgebrus,
denn da is min Heimat, da bün ick tau Hus.

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Anmerkungen
*) Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hohe Warte hier wiedergegeben.
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Markwart Cochius
2 Jahre zuvor

Das Glück? Ist es das Thema?
Der eine – Theodor Storm – hatte Glück? Weil er ein Mann war und Marthe Müller-Grählert eine Frau?
Die eine – Hamburg – aus dem Sumpf empor gekommen, stand und wurde reich; war das Glück? Die andere – Vineta – ist heute sagenhaft, war sie wirklich reich?
Spanuth, hatte der Glück? Er entdeckte wirklich unterm Wasser eine Stadt. Vineta? Andere suchten in der Odermündung Vineta; sie hatten kein Glück.
Vielleicht aber ist Vineta viel älter und wurde seinerzeit von der Riesenflutwelle, die die Stadt, die Spanuth bei Helgoland unterm Wasser entdeckt hat, von dieser Flut auch unters Wasser gedrückt. Denn diese Flut damals ging wirklich übers holsteinische Land bis in die heutige Ostsee hinein. Diese Flut war wohl so riesig, daß der Rückfluß mehr Zerstörung angerichtet haben mag als das Hineinstürmen ins Land.
Als meine Tochter 10 Jahre alt war, kam sie zu mir mit dem Rätsel um Vineta. Damals stand ich ratlos da, konnte nur Lösungen anbieten, wie sie Storm in der Sturmflut im Schimmelreiter beschrieben hat.
Gott sei Dank, daß es noch solche Rätselgeschichten gibt, sie rufen die Geschichte wach.

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