Agnes Miegel – mehr als die „Mutter Ostpreußens“- letzte Folge
Donnerstag, 28. Mai 2020 von Adelinde
Agnes Miegel
überlebte die Vertreibung aus ihrer Heimat Ostpreußen. In diesen Tagen gedenken wir ihrer mit einer Lebensbeschreibung aus der Feder von
Gisela Stiller.
Dunkle Ahnungen
Stille Jahre waren es, immer wieder überschattet von dunklen Ahnungen und Gesichten, über
die sie vor allem der Freundin Ina Seidel berichtete.
1936 wurde ihr der Herder-Preis der Goethe-Stiftung verliehen und 1940 der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt.
Zu ihrem 60. Geburtstag erhielt sie das Ehrenbürgerrecht der Stadt Königsberg.
Zu jener Zeit schreibt sie in einem Brief u. a.:
… auf einmal überkommt mich bei aller Vorfreude auf das Reisen ein sonderbares Gefühl – als ob ich nicht mehr wiederkommen werde …
Diese Ahnung von einer bevorstehenden Katastrophe hat sie nie mehr verlassen – trotz aller Siegesmeldungen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Sie war nun über 60 Jahre alt und viel auf Lesefahrten unterwegs. Sie schrieb eine Reihe von Gedichten, die den Menschen Trost geben sollten in der harten Zeit.
Der Kriegsband „Mein Bernsteinland und meine Stadt“, 1944 im Königsberger Verlag Gräfe und Unzer erschienen, war bereits nach wenigen Tagen vergriffen.
Es heißt dort gegen Ende der Dichtung:
Wir gehen fort. Und jeder Weg in dir ist heute schon für mich ein Abschiednehmen …
Agnes Miegel sah ihre Vaterstadt leiden und sterben unter furchtbaren Bombenangriffen, die die Stätten ihrer Kinderzeit auslöschten.
Bitterkalt war es zur Adventszeit, als sie im Neuen Schauspielhaus, das dicht besetzt war von Zuhörern in Mänteln und dicken Jacken, zum letzten Mal eine Lesung in ihrer Stadt hielt. Sie schloß mit den Worten:
… daß noch in dir, o Mutter, Leben ist und daß du, Königsberg, nicht sterblich bist …
Die Flucht über See
Als die Bevölkerung Ostpreußens nach 700-jähriger Geschichte deutscher Besiedelung am Ende des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat vertrieben wurde, befand sich auch die Dichterin unter den Flüchtlingen.
Noch ehe der Morgen graut, wandern Agnes Miegel und ihre Gefährtin Elise, die ihr in allem wie eine Tochter zur Seite stand, am 27. Februar 1945 mit vielen anderen Leidensgenossen durch Trümmer und Schutt zum Hafen.
Der einzige wieder frei gewordene Weg aus der umzingelten und belagerten Stadt führt auf dem Pregel ins vereiste Haff und dann durch das Pillauer Tief in die Ostsee.
Über die schneeverwehte Nehrung ziehen noch immer die endlosen Trecks ostpreußischer Flüchtlinge „Wagen an Wagen“, wie Agnes Miegel später in einem ergreifenden Gedicht schreibt. Fast zwei Millionen Menschen nahmen diesen einzigen noch möglichen Weg nach Westen. Viele, viele erreichten den rettenden Hafen nicht mehr.
Durch das Vorstoßen der sowjetischen Truppen wurde Ost- und Westpreußen vom Rest des Deutschen Reiches abgeschnitten.
Eine vorherige Evakuierung war durch Berlin und vor allem durch die Gauleitung verboten worden. Dadurch blieb nur noch die Flucht über See.
Das Oberkommando der Marine unter Großadmiral Dönitz verlegte bereits in der zweiten Jahreshälfte 1944 die Mehrzahl der noch verfügbaren Schiffe der Kriegmarine an die Ostsee.
Der Kampf im Osten gegen die auf deutsches Gebiet vorrückende Rote Armee wurde immer verzweifelter. Erste Seerettungsaktionen begannen 1944 mit der Räumung der Stadt Memel.
Die Evakuierung im großen Stil wurde am 21. Januar 1945 durch Großadmiral Dönitz eingeleitet.
Auch alle verfügbaren Schiffe der Handelsmarine, die so weit wie möglich Schutz durch Kriegsschiffe erhielten, wurden für diese Flüchtlingstransporte eingesetzt.
In den vier Ostseehäfen Hela, Pillau, Gotenhafen und Danzig wurden die verzweifelten Flüchtlinge an Bord genommen.
Bei der größten Evakuierungsaktion der Geschichte über See gelang es, ungefähr zwei ein halb Millionen Menschen aus dem Kriegsgebiet herauszubringen.
Trotz Geleitschutz wurden immer wieder Schiffe durch Torpedobeschuß der sowjetischen Marine versenkt. Die bekannteste Schiffskatastrophe des Unternehmens – aber nicht die einzige – ist der Untergang der „Wilhelm Gustloff“.
Agnes Miegel und ihre Freundin gehören zu den Geretteten.
Kopenhagen, dann das Lager Grindstedt und schließlich die Baracken von Oksboel nehmen
die Flüchtlinge auf – „arme Pracher“, wie die Dichterin später berichtet.
Hier in dieser riesigen Flüchtlingsbarackenstadt werden etwa 40.000 Heimatvertriebene lange Zeit interniert. Sie leben wie Gefangene, hinter Stacheldraht in einer engen, eingeschlossenen Umwelt dürfen sie nicht über ihr Bleiben oder Gehen bestimmen.
Für ein Jahr gibt es für die Flüchtlinge keine Postverbindung zu den Freunden im Nachkriegsdeutschland. Die Behandlung ist alles andere als gut.
Aber Agnes Miegel klagt nicht. Sie trägt ihr Schicksal mit einer Würde, daß auch andere sich daran aufrichten können.
Dabei hat sie nicht nur ihre Heimat, Wohnung und persönliche Habe verloren, sondern auch alles, was sie an handschriftlichen Aufzeichnungen aus Jahren der Arbeit besaß.
Ein Koffer mit Manuskripten, den sie einer Bekannten anvertraut hatte, – darunter der einzige Roman aus ihrer Feder – ging auf der Flucht verloren.
Sie hat ihre äußere Heimat verloren, aber ihre Heimat im geistigen Sinne gerettet und in ihrer Dichtung zum unverlierbaren Besitz erhoben.
Und sie beginnt wieder zu schreiben – Gedichte, Märchen und Spiele. Es entsteht u.a. die Erzählung : „Fischtag im Lager“, oder Heimweh-Gedichte, wie die eindringlichen Verse „Es war ein Land“, aus denen das ganze Leid um die verlorene Heimat spricht, sowie das ergreifende Gedicht: „O Erde Dänemarks“, das sie im Sommer 1945 über die mehr als viertausend kleinen Flüchtlingskinder schrieb, die schon vor dem 5. Mai in Dänemark starben.
An Ina Seidel schrieb sie 1946 in einem Brief:
Ein Teil meines Herzens starb, als ich von Ostpreußen ging …
Im Nachkriegswinter 1946/47 findet die Dichterin – jetzt 67 Jahre alt – mit Elise Asyl auf dem alten Wasserschloß Apelern, das der Familie ihres inzwischen verstorbenen Dichter-Freundes Böries von Münchhausen gehörte.
Es sind harte Zeiten, nicht nur wegen des Mangels an Heizmaterial und Lebensmitteln.
In der sehr umfangreichen Schloßbibliothek findet die Dichterin genügend Lesestoff, so neben englischen und amerikanischen Klassikern vor allem Homer.
Ich lese jeden Tag als Seelenstärkung einen Gesang der Odyssee,
schrieb sie.
Und schließlich gab es einen Menschen, der sich den beiden Frauen anschloß. Das war die junge Gutssekretärin Heimgart von Hingst, ein Flüchtlingsmädchen, das jetzt für die notwendigen Dinge des täglichen Bedarfs sorgte. Später in Bad Nenndorf schlossen sich die drei Frauen noch enger zusammen.
Man schrieb das Jahr 1948. Wer diese Zeit selbst noch bewußt erlebt hat, weiß, wie hart und entbehrungsreich das Leben in dieser Notzeit für die meisten Menschen war, ob sie nun ihre Habe behalten hatten oder aus dem Nichts eine neue Existenz aufbauen mußten.
Bereits Weihnachten 1949 erschien wieder ein Gedichtbändchen mit dem Titel: „Du aber
bleibst bei mir“.
Zur gleichen Zeit erschien bei Diederichs ein Prosaband: „Die Blume der Götter“, und 1951 die Erzählungen „Der Federball“.
Für fünf Jahre waren zwei möblierte Zimmer das Zuhause für Agnes Miegel und ihre Gefährtin. Erst im Jahre 1953, im Alter von 74 Jahren, wurde der Dichterin eine kleine Mietwohnung von der Gemeinde zugewiesen. In den drei Räumen richteten sich die drei Frauen ein, glücklich, nach aller Unruhe und Unsicherheit der vergangenen Jahre, wieder ein Heim zu haben.
Ein großer Freundeskreis, Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, jeden Alters und verschiedenster Herkunft – standen jetzt mit ihr im Briefwechsel. Viele Stunden hat Agnes Miegel an ihrem Schreibtisch zugebracht, hat mit ihrer schönen Schrift Briefe und Karten beantwortet. Sie fand für jeden, der an sie schrieb, ein persönliches Wort.
Die Gewohnheit, Menschen im Rahmen einer Großfamilie zu sehen, wo jeder sich um den anderen kümmert und vom anderen weiß, war bei ihr in starkem Maße zu finden.
Verehrung, Liebe und Zuneigung unzähliger Menschen auf der einen Seite, Verleumdung und hämische Kritik auf der anderen Seite – zwischen diesen beiden Richtungen spielte sich nun das Leben der Dichterin ab.
Was ist geblieben?
Über die große Balladendichterin Agnes Miegel, über die leidenschaftlich–verhaltenen Gedichte der frühen Zeit, über ihre Prosa ist viel Kluges und viel Dummes gesagt und geschrieben worden.
In den letzten Jahren ihres Lebens hat sie sich immer wieder darum bemüht, die Sprache der jüngeren Schriftsteller unserer Zeit und ihr Werk zu verstehen. Sie litt zwar darunter, aber sie nahm es mit Schweigen hin, daß alles, was sie in einem langen Leben geschaffen, von der „großen Kritik“ einfach totgeschwiegen wurde, ja, daß bei besonderem Anlaß sie und ihr Werk das Ziel bösartiger Polemik wurden.
Daran konnten auch die vielen Beweise der Liebe und Verehrung, die ihr im Alter zuteil wurden, nichts ändern. Sie wurde Ehrenbürgerin von Bad Nenndorf, erhielt die Kulturpreise der Ost- und Westpreußen, erlebte die Stiftung einer Agnes-Miegel-Plakette und erhielt zum 80. Geburtstag den Literaturpreis der „Bayrischen Akademie der Schönen Künste“ als Auszeichnung für ihr dichterisches Werk.
In dem hektischen Literaturbetrieb unserer Tage ist von einer Dichterin dieser Richtung kaum mehr die Rede.
Um so stärker lebt sie aber in ihrem Werk fort, bei Menschen, die abseits des lauten Marktes sich einen Sinn bewahrt haben für das, was bleibt.
Es war für sie selbst immer wieder beglückend zu erleben, wie viele junge Menschen sich von ihrem Werk angesprochen fühlten. Vielleicht liegt das Geheimnis dieser Anziehungskraft darin, daß sie hinter dem stand, was sie schrieb, daß sie nie vergessen hat, wo ihre Wurzeln waren.
Wie bei vielen einst berühmten deutschen Persönlichkeiten, so gibt es auch bei Agnes Miegel Umbenennungsbestrebungen bei Straßen, die nach ihr benannt wurden.
Viele Menschen fühlen sich von der unsachlichen Propaganda gegen Agnes Miegel, wie sie von extremen Gruppierungen verbreitet wird, verunsichert. Immer geht es um Miegels vermeintliche Nähe zur NS-Ideologie. Eine „politisch korrekte“ Presse-Öffentlichkeit beschimpft Agnes Miegel als Nazidichterin und reißt sie aus der differenzierten Lebenswirklichkeit heraus.
Im damaligen Entnazifizierungsverfahren wurde Agnes Miegel vollständig entlastet. Das nimmt
man heute gar nicht mehr zur Kenntnis.
Wer sich intensiv mit Leben und Werk Agnes Miegels befaßt hat, und viele ihrer unveröffentlichten Briefe studiert hat, der weiß, daß sie für Rechtsextremismus ebenso wenig übrig hatte wie für Linksextremismus. Der weiß, daß sie sich mit ihrem Bekenntnis zu einer umfassenden Menschlichkeit und „nichts als den Haß zu hassen“ ganz vehement und konsequent von jeder Parteipolitik distanzierte.
Doch immer wieder versuchen linke Scharfmacher mit Kampagnen den Ruf von Persönlichkeiten früherer Generationen zu zerstören, die nicht in ihr eigenes Weltbild passen. Und immer wieder lassen sich demokratische Bürger in diesen schmutzigen Strom hineinziehen.
Aber es gibt auch Lichtblicke:
Im heutigen Königsberg gibt es einen Zweig der deutschen Agnes-Miegel-Gesellschaft, einer anerkannten und von gebildeten Persönlichkeiten aus aller Welt geförderten literarischen Gesellschaft.
Russen und Deutsche pflegen einen Umgang auf hohem Niveau. Im heutigen Kaliningrad werden Werke von Agnes Miegel in russischer Übersetzung publiziert, sowie Ausstellungen organisiert.
Im Alter von 84 Jahren starb Agnes Miegel 1964 in Bad Salzuflen, ihr Grab befindet sich in Bad Nenndorf.
Die Agnes–Miegel–Gesellschaft hält zahlreiches Schrifttum von und über Agnes Miegel bereit und bringt immer wieder neue Publikationen heraus.
Sorgen auch wir dafür, daß diese große Dichterin nicht vergessen wird.
Unter hellem Himmel lag mein Jugendland,
Doch es ist versunken, wie ein Bernsteinstück im Sand.
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Literaturhinweise
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Agnes Miegel, Arbeitshilfe 29/1985 von Ruth Maria Wagner, Als wir uns fanden, Schwester, wie waren wir jung, Hrsg. Marianne Kopp/Ulf Diederichs
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Briefwechsel zwischen Agnes Miegel und Lulu von Strauß und Torney
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Agnes Miegel, Ihr Leben und ihre Dichtung, von Anni Piorreck
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Agnes Miegel, Es war ein Land – Gedichte und Geschichten aus Ostpreußen
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Marianne Kopp, Agnes Miegel – Leben und Werk
Es lebt der, der publiziert wird. Jede Zeit hat ihre ideologien in letzter Zeit. Gerade war ein Urenkel von Käthe Kollwitz im Glotzkasten, einer Künstlerin, deren Werk ich seit Kindsbeinen empirisch ablehne, ebenso das Werk von Ernst Barlach, kennengelernt in der Stadt, in der ich studierte und die ihn hochstilisierte. Ich hatte und habe diesen Geschmack nicht, ich mag diese „Kunst“ einfach nicht, wie auch keine Verhüllung des Reichstages. Vielleicht bin ich daneben oder habe keinen Geschmack, jedenfalls nicht den des Systems, auch nicht die Gedichte von Johannis R. Becher, das humpa, humpa täterritä. Ich konnte und kann das Hochleben gewisser Künstler nicht verstehen. Agnes Miegel kannte ich lange Zeit nicht. Warum? Weil sie nicht existiert.
Mich wundert auch die Aggessivität ihrer Gegner an einer harmlosen alten Frau. Vielleicht werden die, die in diesem vollkommen verrückten auf dem Kopf stehenden System hochgepreist werden, irgendwann vergessen. Ich wünsche es mir. Diese „Künstler“ sind keine Ästheten.
Wenn ich mir die heutige „Architektur“, „Mode“ und auch die „Möbel“ anschaue, Metalltreppen ohne Geländer, wie Hühnerstiegen, Häuser wie Zuckerwürfel, zerrissene Hosen, dann muß ich feststellen, daß nicht ich einen Knall habe, sondern die heutigen Akteure.