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„abgestandener Jugendquark“?

Wilhelm Raabe, Der Hungerpastor

Das Buch bekam ich kürzlich geschenkt, las es, füllte damit eine Bildungslücke und freute mich an den Weisheiten, die es vermittelt.

Wilhelm Raabe hat es als junger Mann von etwa 30 Jahren geschrieben und soll es später – als 70-Jähriger – als „abgestandenen Jugendquark“ abgetan haben[1].  Er hatte sich wegen seiner Darstellung des „Judenjungen“ Moses Freudenstein erfolglos sowohl mit dem Vorwurf des „Antisemitismus“ als auch mit der Vereinnahmung durch „Antisemiten“ herumgeschlagen.

Oberflächlich betrachtet könnte man zunächst vermuten, daß Raabe mit seinem „Moses Freudenstein“ das landläufige Klischee bedient, das uns allerdings bereits in aller Deutlichkeit mit der

Erzählung in der Tora über das Brüderpaar Esau und Jakob

vorgegeben ist:

1. Mose 25, 23: Und der HErr sprach zu ihr (Rebecca): Zwei Völker sind in deinem Leibe, und zweierlei Leute werden sich scheiden aus deinem Leibe; und ein Volk wird dem andern überlegen sein, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen.

Der Ältere war Esau. Er wird beschrieben als

25. … rötlich, ganz rauh wie ein Fell …,

also wie der nordeuropäische („Gojim“-)Typ. Esau wurde später Jäger

27. … und streifte auf dem Felde.

Der Jüngere war Jakob, der hielt bei seiner Geburt

26. … mit seiner Hand die Ferse des Esau …

Seine Haut war glatt. Er war später

27. ein sanfter Mann und blieb in den Hütten.

Er soll als Typ offensichtlich das jüdische Volk vertreten.

Jakob blieb weiterhin dem Esau mit der Hand an der Ferse:  Schon früh kaufte der weltgewandt glatte, schlaue Jakob seinem Bruder, dem Naturburschen Esau, für ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht ab und betrog ihn später um den entsprechenden Segen seines sterbenden Vaters Isaak. Jakob schämte sich nicht, zu dem Zweck auch seinen Vater – noch dazu im Angesichte des Todes – zu belügen und zu betrügen, um sich Vorrechte zu erschleichen.

Der Segen Isaaks für Jakob,

der eigentlich Esau zugestanden hätte, lautet nun:

1. Mose 27, 28: Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde und Korns und Weins die Fülle.

29. Völker müssen dir dienen, und Leute müssen dir zu Fuße fallen. Sei ein Herr über deine Brüder, und deiner Mutter Kinder müssen dir zu Fuße fallen.

Verflucht sei, wer dir flucht; gesegnet sei, wer dich segnet.

Bald darauf kam Esau heim von seinen Streifzügen in Feld und Flur, und als er von Jakobs Betrug an ihm und seinem Vater erfuhr,

34. schrie er laut und ward über die Maßen sehr betrübt und sprach zu seinem Vater: Segne mich auch, mein Vater!

35. Er aber sprach: Dein Bruder ist kommen mit List und hat deinen Segen hinweg.

36. Da sprach er (Esau):  Er heißt wohl Jakob; denn er hat mich nun zweimal betrogen. Meine Erstgeburt hat er dahin; und siehe, nun nimmt er auch meinen Segen. Und sprach: Hast du mir denn keinen Segen vorbehalten?

Schließlich ringt sich Isaak zu dem ebenso bedeutungsvollen

Esau-Segen

durch:

39: … Siehe da, du wirst eine Wohnung haben ohne Fettigkeit der Erde und ohne Tau des Himmels von oben her.

40. Deines Schwerts wirst du dich nähren und deinem Bruder dienen.

Und es wird geschehen, daß du auch ein Herr und sein Joch von deinem Halse reißen wirst.

Die Gojim-Völker sind also nach Sicht der Bibelredakteure nicht dazu verurteilt, für alle Zeit unter dem Joch „Jakobs“ ihr Dasein zu fristen. Sie müssen nur den Mut und die Kraft aufbringen, sich dieses Jochs zu entledigen, und das, ohne „Jakob“ zu fluchen.

Raabes Hans Unwirrsch, der Deutsche, und Moses Freudenstein, der Jude,

sind nun wie Esau und Jakob der Tora in reinstem Schwarz-Weiß gezeichnet:

Hans ist der Grundgute, der den Schwachen zur Seite stehende Held, aber auch der gutgläubige Tölpel; Moses ist der hochbegabte, schlaue, raffgierige Grundschlechte, an dem diejenigen, die mit ihm zu tun haben, zu Grunde gerichtet werden.

Doch Raabe mildert dieses Schwarz-Weiß-Bild, indem er andere Figuren von jeweils entgegengesetztem Charakter den beiden Seiten zugesellt. So tadelt er die Seite der Gojim:

In jenen vergangenen Tagen herrschte – vorzüglich in kleineren Städten und Ortschaften – noch eine Mißachtung der Juden, die man, so stark ausgeprägt, glücklicherweise heute nicht mehr findet.

Die Alten wie die Jungen des Volkes Gottes hatten viel zu dulden von ihren christlichen Nachbarn; unendlich langsam ist das alte, schauerliche „Hepphepp“, welches so unsägliches Unheil anrichtete, verklungen in der Welt.

Vorzüglich waren die Kinder unter den Kindern elend dran, und der kleine, gelbe, kränkliche Moses führte gewiß kein angenehmes Dasein in der Kröppelstraße. Wenn er sich blicken ließ, fiel das junge, nichtsnutzige Volk auf ihn wie das Gevögel auf den Aufstoß. Gestoßen, an den Haaren gezerrt, geschimpft und geschlagen bei jeder Gelegenheit, ließ er sich auch so wenig als möglich draußen blicken und führte eine dunkle, klägliche Existenz in der halbunterirdischen Wohnung seines Vaters.

Dieses Bild von deutschen Jungen wird in seiner Schändlichkeit noch schärfer gezeichnet, wenn des weiteren erzählt wird:

… Was fiel dem Judenjungen ein, daß auch er den neuen Schnee sehen wollte? In der Mitte seiner Tyrannen stand Moses Freudenstein und reichte mit verhaltenen Tränen und einem Jammerlächeln die Hand, in welche jeder junge Christ und Germane mit hellem Hohngeschrei hineinspie, in die Runde …

und Raabe dann feststellen muß:

Es gab wenige Leute in der Kröppelstraße, die nicht ihren Spaß an solcher infamen Quälerei gefunden hätten. Keiner von den Gaffern in den Haustüren trat dazwischen, um der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen. Man lachte, zuckte die Achseln und hetzte wohl gar noch ein wenig; es hatte eben wenig auf sich, wenn der schmutzige Judenjunge ein bißchen in seiner Menschenwürde gekränkt wurde …

Aus der Meute erbarmungsloser „christ-germanischer“ Kinder löst sich nun unser Held Hans und rettet einen Rest „christ-germanischer“ Ehre: Er

hatte bis zu dieser Stunde auch hier mit den Wölfen geheult, und was die andern taten, hatte er leichtsinnig, ohne Erbarmen und ohne Überlegung ebenfalls getan. Jetzt kam die Reihe an ihn, in die offene Hand des heulenden Judenknaben zu speien, und wie ein Blitz durchzuckte es ihn, daß da eben eine große Niederträchtigkeit und Feigheit ausgeübt werde …

Wild schrie er, man solle den Moses zufrieden lassen, er – Hans Jakob – leide es nicht, daß man ihm ferner Leid antue. Die Faust fiel auf die erste Nase, die sich frech näher drängte. Blut floß – ein verwickelter Knäuel …

Hans und Moses wurden Freunde. Die Freundschaft hielt solange, bis der gutgläubige Hans endlich mitkriegte, wem er da die ganze Zeit die Treue gehalten hatte.

Die Demütigungen seiner Kindheit waren an Moses nicht spurlos vorüber gegangen.

Nicht anders hatte es sein Vater Samuel in seiner Vergangenheit erlebt und riet seinem Sohn:

Lerne, daß dir schwitzet der Kopf, Moses …

Wenn du hast Kunst und wenn du hast Geld, kannst du sie stecken alle in den Sack. Und wenn du jetzt sitzest im Winkel, kannst du denken, du bist die Katz und die Mäus tanzen vor dir und pfeifen dir zum Hohn. Laß sie pfeifen und lern; wenn der jungen Katz sind gewachsen die Krallen, kann sie spielen mit der Maus, und die Maus hat das Schlimmste davon.

Es war also nicht friedenstiftende Weisheit, die der alte Samuel seinen Sohn lehrte, es war die Fortsetzung der Feindschaft zwischen Esau und Jakob und die Ermunterung des Gedemütigten, später Rache an den Gojim zu nehmen. Genau so verstand Moses seinen Vater:

So will ich sitzen im Dunkeln und will lernen alles, was es gibt, und wenn ich alles weiß und habe das Geld, so will ich es ihnen in der Gasse vergelten, was sie mir tun.

Doch was Vater Samuel nicht geahnt hatte, das war der so frühzeitige endgültige Absturz des Sohnes in den Seelentod, als er vor seinen entsetzt erkennenden Augen noch im Sterben die rücksichtslose, von keinerlei Mitgefühl mehr gebremste, verderbenbringende Raffgier bei Moses durchbrechen sah. Immer hatte er sich

hinter seinem Geldkasten frohlockend die knöchernen Hände (gerieben), wenn er auf seinen Sohn blickte.

„Er wird seinen Weg gehen“, murmelte er. „Er wird herausbrechen wie das Licht und wird seinen Rücken nicht beugen, wenn die rechte Zeit gekommen ist. Ich werde es erleben, daß die Gojim sich vor ihm neigen; Gott Abrahams, ich werde sitzen im Dunkeln, aber mein Herz wird lachen und sich freuen!“

Samuel hatte nicht bemerkt, wie kalt das Herz seines Sohnes schon geworden war:

… mit höhnischem Spott erdrosselte (d)er den letzten Rest warmer Phantasie, der ihm geblieben war. Nicht Werkzeug zum Nutzen und Genuß für sich und die Welt schuf er; Waffen, nur Waffen gegen die Welt schmiedete er, und keinen Augenblick der Ruhe, des Atemholens gönnte er sich bei der Arbeit.

Ehe wir auch an dieser Stelle zu glauben anfangen, Wilhelm Raabe bediene hier ein antijüdisches Klischee, erfahren wir beim Weiterlesen:

Der Vater Samuel hatte seine Phantasie nicht ertötet wie Moses; sie trug ihn auch hoch hinauf, sie trug ihn weit hinaus über seine verborgene, gedrückte, dunkle Existenz, kosend wiegte sie ihn in den Traum und häufte auf das Haupt seines Kindes allen Glanz, alle Würden und Ehren der Welt.

Samuel Freudenstein war ein ganz normaler liebender Vater, der es gut meinte mit seinem Sohn und ihm doch so falsche Wege wies.

Moses Freudenstein verachtete … seinen „halbkindischen“ Vater ganz im stillen sehr, wenn er auch seine Meinung jetzt noch nicht laut äußerte.

Dann aber kam Samuel zu sterben;

der Ortsrabbiner war bereits gekommen …

Zu Füßen des Lagers stand regungslos Moses. Er stützte sich auf die Pfosten und sah auf den Kranken. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, in seinen Augen zeigte sich keine Spur von Tränen, festgeschlossen waren seine Lippen.

… der Ausdruck seiner Augen war unbeschreiblich, – es war, um ein schreckliches Gleichnis zu gebrauchen, als ob der Todesengel auf das Niederfallen des letzten Sandkorns lausche …

Wenige Tage zuvor hatte Samuel für Moses zu dessen Abitur all sein Gold aus den Verstecken hervorgeholt. Moses kam heim mit dem besten Zeugnis des Jahrgangs, ließ des Vaters Freude darüber kalt an sich ablaufen, verlor aber beim Anblick des Goldes fast

seine gewohnte Selbstbeherrschung

und schrie:

„Gold? Gold über Gold? Was ist das? Was soll das? Mein Gott, woher – “

Und der gutmeinende Vater erwiderte:

„Dein! Dein! Alles dein! … Ich habe dir gesagt, daß ich das Meinige tun würde, wenn du tätest das Deinige an dem Tisch da. Noch nicht alles! Da – da!“

Der Alte war wieder zu dem Wandschrank gesprungen und warf noch einige klirrende Beutel auf den schwarzen Fußboden und noch einige Bündel Dokumente auf den Tisch. Seine Augen glühten wie im Fieber.

„Gewaffnet bist du und gerüstet, nun hebe dein Haupt. Iß, wenn du bist hungrig, und greife nach allem, wonach der Sinn dir steht. Sie werden es dir entgegenbringen, wenn du bist klug; du wirst ein großer Mann werden unter den Fremdlingen! Sei klug auf deinem Wege! Stehe nicht still, stehe nicht still, stehe nicht still!“

Auch an dieser Stelle mildert Raabe die Härte der Schwarz-Weiß-Zeichnung, indem er dem knallharten Egoismus des Sohnes Moses die väterliche Liebe an die Seite stellt:

… Tausend blitzschnelle Gedanken überschlugen sich in seinem (Mosis) Gehirn, aber nicht einer dieser Gedanken stieg aus seinem Herzen empor; er dachte nicht an die Arbeit, die Sorge, die – Liebe, welche an diesem aufgehäuften Reichtum hafteten …

Moses hatte kein Auge mehr für die Seele des sterbenden Vaters, er wartete ungeduldig auf dessen Hinscheiden.

Der Vater blickte den Sohn starr an und sah ihn wieder an …

und immer von neuem blickte er auf den Sohn, bald forschend, bald angstvoll, bald zornig.

… die Augen des Greises wurden immer starrer … War es ihm urplötzlich klar geworden, daß er seinem Kinde mit einem so lange und gut verborgenen Schatz nur Finsternis und Verderben gegeben hatte?

In diesem Erkennen und diesem Entsetzen starb der Vater, die Seele des Sohnes war schon gestorben.

Wie wenig Raabe dies Schicksal und dies Verhalten im letzten Grunde für ein „typisch jüdisches“ hält, das – vielleicht nicht im selben Stil, wohl aber in seinem Wesensgehalt – in so manchem deutschen Hause sich hätte abspielen können, beweist er mit der Schilderung der von Christen bewohnten Villa Götz, in der unter der Herrschaft der seelenlos kalten, beschränkten, aber übermächtigen „Geheimen Rätin“ die Seelen verkümmerten, erkrankten und abstarben.

Wie es hier keinen Grund gäbe, Raabe wegen Weiberhasses anzuklagen, so gibt es keinen Grund, ihn wegen seines „Hungerpastors“ zum „Antisemiten“ zu stempeln, und es berechtigt auch  „Antisemiten“ nicht, den Roman für ihre Argumentationen zu benutzen. Raabe selbst schrieb

am 4. Februar 1903 an die Leserin Philippine Ullmann aus Stadtoldendorf: „Auch aus Höxter und Corvey können Sie wohl entnehmen, daß ich nicht zu den Antisemiten zu zählen bin… Juden haben in meinem Leben immer mit zu meinen besten Freunden und verständnisvollsten Lesern gehört, und daran hat sich bis heute nichts geändert.“ (Wikipedia)

Worum es Raabe in seinem Roman geht, ist der Hunger

Es ist weniger der nach dem täglichen Brot. Es ist vielmehr die Sehnsucht, nach „oben“ zu gelangen. Dies „Oben“ versteht jeder Mensch in seiner eigenen Weise: Moses will Macht, um andere zu beherrschen. Andere sehnen sich nach dem Licht der Erkenntnis, nach Wahrheit, Freiheit, Liebe, nach Achtung der Menschenwürde.

Was es für die Entfaltung der Seelenkräfte bedeutet, Sehnsucht zu spüren, Wünsche nicht immer gleich und leicht erfüllt zu bekommen, das läßt Raabe seinen Hans Unwirrsch, den „Hungerpastor“, aussprechen:

… Böse Geister standen um die Wiege des armen Moses, nur gute um die meinige. Er ist seinen Weg mit offenen, klaren, scharfen Augen gegangen; ich bin wie träumend vorwärtsgeschritten. Sein Hunger ist überall befriedigt worden, was er wünschte, hat er immer erlangt; auch in dieser Stunde noch hat er, was er will. Das war nicht gut, und das ist jetzt schrecklich! Mein Hunger ist nicht gestillt wie der seinige; ach, ich habe so oft nicht gewußt, was ich wollte, und weiß es auch jetzt oft noch nicht. Es ist ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.

„Das große Sehnen“

erkannten die heidnischen Samoaner als die Triebkraft zur Weltenschöpfung. Dieses Sehnen kann auch dem Menschen Schöpferkräfte verleihen und ihn zu Erkenntnissen führen, die keine „Bildung“ ihm je zu bringen vermöchte, die ihren Ursprung in ihm selbst haben. Zu diesem göttlichen Urgrund, der jedem Menschen von der Natur mitgegeben ist, will jenes Sehnen hinführen. Hier kann es sich immer wieder erfüllen.

Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
Es ist dennoch, das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,
es ist in dir, du bringst es ewig hervor. (Schiller, Worte des Wahns)

Die Neugier, der Hunger nach Welterkenntnis kann die Menschen in fremde Länder über den Erdball treiben. Dabei können sie beweglich und erfahren werden. Und doch werden sie, wenn sie es nicht in sich erstickt haben, immer wieder das Sehnen in sich spüren, das nicht still werden will, ehe sie nicht wieder in die Heimat zurückgekehrt sind.

Ebenso kann es – wie Goethes Faust – den in den Wissenschaften Umhergeschweiften gehen:

Habe nun, ach! … durchaus
studiert mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor …

Ja, Goethe läßt Faust über den bildungsbeflissenen Wagner sinnieren, der seiner Ansicht nach „getrost nach Hause tragen kann, was er Schwarz auf Weiß besitzt“, der

… mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt
und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.

Von der Heiligkeit der Heimat

Es gilt, zu sich selbst zu finden. Ein Weg dorthin ist der Weg zur Heimat, wo man Liebe, Gutes, Schönes erlebt und empfangen und mit den dortigen Einwohnern gemeinsam Schicksalsschläge bestanden hat, wo die Vorfahren am Geschick des eigenen Volkes gewebt und gewirkt haben. Es ist

heiliger Boden (Raabe).

Wer jedoch Ausschnitte der Erdoberfläche als „Wirtschaftsstandorte“ betrachtet, wie so mancher Politiker sich heute z. B. in Bezug auf Deutschland vernehmen läßt – „Wirtschaftsstandort Deutschland“! –, der zeigt den seelenlosen Materialismus, der von ihm Besitz ergriffen und ihn blind gemacht hat für die Heiligkeit des Heimatlandes und seine Bedeutung für die Menschenseele. Dessen Sehnen ist vergangen, und er hat nichts dagegen, in der Welt umherzuirren, Völker zu verschieben, „auszudünnen“ durch Massenzuwanderung von Menschen aus fremden Kulturen, aus denen die wiederum entwurzelt wurden.

Und wie schwer muß es denjenigen fallen, die in den Städten einkaserniert sind und das Land unter ihren Füßen verloren haben, die Heiligkeit des Heimatbodens zu empfinden, und die dabei so hungern, vielfach ohne zu erkennen, wonach. Sie gehen dann vielleicht mit Depressionen zum Arzt.

Des „Hungerpastors“ Elternhaus wurde versteigert, als alle seine Angehörigen gestorben waren.

… Hans Unwirrsch hatte so viel Geld niemals auf einem Tische zusammen gesehen, aber auch niemals hatte ihn ein Haufen so angewidert und so unglücklich gemacht. Mußte es ihm doch zumute sein, als ob er alle seine süßesten und liebsten Erinnerungen zu Gelde gemacht habe; und von welcher Seite er auch den Mammon ansehen mochte und wie vernünftig und verständig er sich auch die Sache vorstellen mochte, seine Gefühle blieben dieselben. Und wenn ihm jemand das Geld gestohlen oder abgeschwindelt hätte, so würde er sich gewiß nicht an die Polizei gewendet haben, sondern wäre dem Halunken noch dankbar gewesen.

Mit dem Geldgewinn wurde die Heiligkeit seiner Heimat in seinem Innern angetastet.

Und genauso konnte es geschehen, daß der betagte Pfarrer der Gemeinde Grunzenow in abgelegener Gegend an der Ostsee mit seiner Weihnachtsansprache die Herzen der Menschen tief rührte:

… Und keiner der berühmten und beliebten Redner, die Hans in der großen Stadt gehört hatte, keiner der berühmten Professoren, die ihm auf der Universität so viele gute Lehren gaben, hätte eine trefflichere Rede halten können als der Greis von der Hungerpfarre zu Grunzenow, der sich in der Bibliothek seiner Vorgänger nicht zurechtfinden konnte, und dem die moderne Wissenschaft der Theologie ein Buch mit sieben Siegeln geblieben war …

Der Pfarrer und die ihm Anvertrauten waren einander Heimat, weil sie einander kannten und von den Schicksalen wußten, die die Seefahrt so manchem von ihnen auferlegt hatte. Daher und aus seiner Liebe zu diesen Menschen fand er die richtigen Worte für jeden Einzelnen. Sie waren getröstet, wenn auch tief erschüttert, weil ihre Seelen sich erkannt und angenommen fühlten. Das sind die warmen Arme der Heimat. Das Sehnen kommt zur Ruhe, geht über in stillere Bahnen.

In Grunzenow singt zu allem das Meer sein ewiges Lied von der Unendlichkeit:

… von der Freiheit sang das Meer, von der Wahrheit sang die Sonne; die Welt aber gehörte nicht dem Doktor Theophile Stein, der einst Moses Freudenstein hieß …,

nicht dem nach äußerem Reichtum und Macht über andere Strebenden. Dem verschließt sich die innere Welt. An ihrem Reichtum hat nur teil, wer sich ihr – zweckerhaben und liebend – hingibt.

Mag das Buch „Der Hungerpastor“ so manchen handwerklichen Mangel aufweisen, und mag der alte Wilhelm Raabe von ihm auch ruhig als „abgestandenem Jugendquark“ abgerückt sein – ich hab es gern gelesen. Mich sprach das ungekünstelte, gemütstiefe Deutsch an, in dem Raabe erzählt und seine Lebensweisheiten einflicht. Sie besonders las ich gern und auch Absätze wie den, in dem er von einer jungen französischen Hutmacherin sagt:

Sie hatte mancherlei wunderliche Geschichten gehört von dieser armen guten „Allemagne“. Die Leute waren da so ehrlich, und so musikalisch, und so blond; – sie waren wohl auch ein bißchen zurück in der Zivilisation und etwas einfältig; … Und sie holten alle ihre Hüte und Hauben, und ihre künstlichen Blumen und ihren Champagner aus Paris, diese guten Deutschen; und jedes hübsche, kluge Kind der „Belle France“ mußte sein Glück dort bei ihnen machen trotz allem Nebel, Eis und Schnee, trotz allen Wölfen und Eisbären, Erlkönigen, Nixen und sonstigen Ungeheuern …


[1] In einem Brief vom 30. Dezember 1902 an Karl Schönhardt (Wikipedia)

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Helmut Wild
Helmut Wild
13 Jahre zuvor

Ich weiss nicht recht, was ich davon halten soll. Einige der geschilderten Szenen lesen sich eher wie anti-deutsche Propaganda und ziemlich philo-semitisch. So z.B. die Szene, wo eine Horde jugendlicher deutscher Sadisten einem armen und gequaelten Judenjungen in die entgegengestreckte Hand spucken. Nur einem einzigen ist das zu viel an Charakterlosigkeit!

Ich finde das ziemlich diskriminierend fuer die Deutschen und genauso hirngespinstisch wie all das Gold, das der Vater dieses Judenjungen ploetzlich aus allen moeglichen Verstecken hervorzaubert. Ich kann den alten Raabe gut verstehen, wenn er dieses Buch als „Jugendquark“ bezeichnet.

Trotzdem finde ich es gut, dass sich Adelinde getraut hat, dieses Buch zur Diskussion zu stellen. Zeigt es doch auch, wie sehr die „deutsche Kultur“ mit diesem ganzen Wust an christlich-juedischem Schwachsinn beladen ist.

Elke
Elke
13 Jahre zuvor

Nun, Herr Wild, diese Bewertung des alten Raabe lässt darauf schließen, dass er im Alter nicht mehr so viel Mitleid mit Juden hatte. Ich frage mich, wie das gekommen ist? –

Ist es eine von Adelinde selbsterkannte Parallele zur Bibel oder gibt Raabe irgendwo einen Hinweis, dass ihn gerade diese Bibelstelle aus dem 1. Buch Mose beschäftigt hat? Ich möchte das eher verneinen, weil er dem Hans ja als Zweitnamen Jakob gab, was nun meinem Verständnis der zitierten Bibelstellen eher entspräche: Das karge Land, das Isaak dem Esau verheißt, entspräche m.E. eher Israel, dessen Wüste durch Bewässerung erst fruchtbar gemacht werden musste. –

Warum soll aber nicht Esau/ Hans, sondern der biblische Jakob „offensichtlich“ dem Volk Israel entsprechen? Diese Bedeutung findet man im 1. Buch Mose Kap. 32,28 selber, wo Gott zu Jakob spricht: “ Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel (d.i. Gottesstreiter).“ Denn zuvor sagte Isaak in Kap. 28,35f.: „Dein Bruder ist gekommen mit Hinterlist und hat dir den Segen vorweggenommen. 36 Da sprach er /Esau/: Mit Recht heißt er Jakob (d.i. der Hinterlistige); denn er hat mich nun zweimal hintergangen.“ Wörtliche Zitate aus „Die heilige Schrift“ der Deutschen Bibelstiftung Stuttgart 1980.

– Über Esau heißt es, er sei „sehr behaart gewesen,“ was mir eine bessere Übersetzung scheint. Denn die Übersetzung „Fell“, wie in Adelindes Quelle, stößt ab oder ließe höchstens an Neandertaler denken.

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