„Philosophen und Mediziner lehren mich …“ oder Perversionen der Aufklärung: „Die Räuber“
Dienstag, 6. Oktober 2009 von Adelinde
Zum 250. Geburtstag Friedrich Schillers am 10. November 2009
Von Adelinde-Gastautor Hermann Weber
Als am 13. Januar 1782 Friedrich Schillers Schauspiel „Die Räuber“ am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde, hieß es in einem zeitgenössischen Bericht:
Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie ein Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht …
Die Handlung ist in hohem Maße absurd, die Charaktere sind zum Teil verstiegen und unwahrscheinlich, die Sprache kraß und geschmacklos – und trotz alledem kann es keinem Zweifel unterliegen, daß man es mit einem großen, einem genialen Werk zu tun hat.
So charakterisierte der Heidelberger Germanist Peter Michelsen einmal Schillers auf eine Erzählung Schubarts zurückgehende Geschichte von dem Adligen mit den beiden ungleichen Söhnen, und es sind – nebenbei bemerkt – gerade diese Merkmale, die Schillers dramatischen Erstling
in außergewöhnlichem Maße opernhaft
erscheinen lassen:
- viele Massenszenen,
- rasche Schauplatzwechsel und vor allem die Darstellung der Affekte;
- daneben die effektgeladenen Szenen – etwa die des Schwert-Testaments, die Turmszene und der Schloßbrand.
Die Abenteuerlichkeit der Geschichte, in deren Mittelpunkt extreme Situationen mit großen Leidenschaften stehen, entspricht in hohem Maße der Opernästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, und so nimmt es übrigens nicht Wunder, daß gerade Giuseppe Verdi und sein Librettist Andrea Maffei, der namhafte Übersetzer deutscher und englischer Dramen und Italiens größter Schiller-Experte, sich des Stoffes in einer 1847 in London uraufgeführten Oper annahmen, in „I masnadieri“, fraglos einer der spannendsten und interessantesten frühen Opern des italienischen Tondichters, der durchaus anstünde, in Zukunft nicht nur die Gehirne einiger weniger Wissenschaftler zu beschäftigen, sondern mehr und mehr wieder die Herzen der Menschen zu erobern und fester Bestandteil des Opernrepertoires – auch und gerade in Deutschland, der Heimat Friedrich Schillers – zu werden; eine Popularität, die sie sicher verdient hätte.
Der heiße Atem des „Sturm und Drang“, von dem das Werk Schillers geprägt wird, scheint in der Oper bestens aufgehoben, ja sogar durch die Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit der Musik und die vereinfachende und raffende, opernspezifische Umgestaltung des Textes im Opernlibretto noch gesteigert und intensiviert.
Er mußte Verdis und seines Librettisten Intentionen weitestgehend entsprechen. Und auch schon vor Maffei hatte der Librettist Crescentini Schillers „Räuber“ zu einem freilich reichlich konventionellen Textbuch für Mercadantes Oper „I Briganti“ verarbeitet, die 1836 in Paris uraufgeführt worden war.
In den „Räubern“ kommt bereits unmißverständlich
Schillers Kritik an der Aufklärung
zum Ausdruck. „Aufklärung“, so schrieb kein Geringerer als Immanuel Kant 1784 in der „Berlinischen Monatsschrift“ –
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines Anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit, und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.
„Mündigkeit und Unmündigkeit“ – so schreibt Dieter Borchmeyer – seien
ursprünglich rechtliche Begriffe. „Mündigkeit . . . ist die rechtliche Befugnis, seine eigenen Interessen selbst wahrzunehmen, verbindliche Rechtsgeschäfte abzuschließen und die politischen Bürgerrechte im Rahmen der jeweiligen Rechtsordnung als Gleicher unter Gleichen auszuüben“ (Robert Spaemann).
Das Modell der Aufklärung ist also das Heraustreten aus dem rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis der Vormundschaft: das Mündig-, d. h. Rechtsfähig-Werden des Mündels – die Emanzipation von der patria potestas.
Auch der Begriff der Emanzipation ist ursprünglich ein Rechtsbegriff, bedeutet im römischen Recht die Entlassung aus der „Hand“ (manus), d. h. Verfügungsgewalt des pater familias (die sich auch noch auf die erwachsenen Söhne erstreckt hat).
Die Aufklärung hat die Begriffe Mündigkeit und Emanzipation nun aus ihrem rechtlichen Kontext herausgelöst und im Sinne ihres Postulats der individuellen Autonomie zu Grundbegriffen der religiösen, politischen und sozialen Befreiungsbewegung gemacht:
eine Auflehnung gegen den Vater auf allen Gebieten, war doch die puissance paternelle, die vormundschaftliche Gewalt des Hausvaters zumal im absolutistischen Frankreich auf den König (Landesvater) wie auf Gott übertragen worden und wirkte aus dieser Übertragung wieder begründend auf die erste zurück.
Die Aufklärung ist mithin die Emanzipation von diesem universalen Paternalismus römisch-absolutistischer Prägung. Die Aufklärung ging in der Regel jedoch nicht so weit, die väterliche Gewalt überhaupt in Frage zu stellen, sondern strebte sie auf ihre natürliche Funktion zurückzuführen, die darin besteht, das Mündel zur Mündigkeit zu führen (…).
Der „Bruch mit der Vaterwelt“ (Peter Michelsen) erscheint so in Schillers „Räubern“
als „ruchloses“ Experiment – entweder als „teuflische“ Konsequenz aus der materialistischen Radikalaufklärung (Franz Moors geplanter Vatermord) oder als die aus dem Vaterverlust resultierende, aus Verzweiflung geborene Perversion aufgeklärter Mündigkeit (Karl Moors Räuberexistenz). (Borchmeyer)
Philosophen und Mediziner lehren mich, wie treffend die Stimmungen des Geists mit den Bewegungen der Maschine zusammenlauten,
bemerkt der Bösewicht Franz Moor am Beginn des zweiten Aufzugs von Friedrich Schillers Schauspiel.
Den Körper vom Geist aus zu verderben,
ist das Ziel dieses materialistischen Zynikers aufgeklärt-aristokratischer Provenienz, der einen ausgeklügelten „psychosomatischen“ Mord an seinem Vater plant.
Mit dem fortschrittlichsten Schrifttum der – französischen – Aufklärung ist er offenbar vertraut: mit den materialistischen Philosophen, die den Menschen nicht mehr sub specie aeternitalis, sondern – nach dem zum epochemachenden Schlagwort gewordenen Werktitel von La Mettrie: „L’homme machine“ (1747) – sub specie machinae zu begreifen suchen.
Wie selbstverständlich faßt Franz Moor die beiden Berufsstände Philosophen und Mediziner zusammen, und La Mettrie, der den Reigen materialistischer Philosophen eröffnet, war (wie Schiller auch) tatsächlich selbst Arzt, und die Philosophie sollte für ihn eine Art Medizin werden. In seinem oben genannten Werk steht wortwörtlich der Satz:
Der Körper des Menschen ist eine Maschine, die ihre Triebfedern selbst spannt, ein lebendiger Inbegriff der ewigen Bewegung.
Franz Moor pervertiert nun die philosophische Medizin zu einer Vernichtungsstrategie. Für ihn, die imitatio perversa des Aufklärers, gilt, was Schiller später in seinem Brief an den Prinzen von Augustenburg vom 13. Juli 1793 feststellen wird:
Der sinnliche Mensch kann nicht tiefer als zum Tier herabstürzen; fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab, und treibt ein ruchloses Spiel mit dem Heiligsten der Menschheit.
Wie sehr er sein
ruchloses Spiel mit dem Heiligsten der Menschheit treibt,
zeigt sein Versuch, sein Zerstörungswerk mit der Vernichtung der engen Gefühlsbindung zwischen dem alten Moor und seinem Bruder Karl zu beginnen und, unter dem Vorwand des Schutzes der von Karl angeblich verletzten Heiligkeit der Vater-Sohn-Beziehung, den Sohn
vom Herzen des Vaters loszulösen, und wenn er mit ehernen Banden daran geklammert wäre. – Ein allerliebstes köstliches Kind, dessen ewiges Studium ist, keinen Vater zu haben,
so nennt Franz seinen Bruder vor dem Vater und dichtet ihm so zynisch sein eigenes „Studium“ an, treibt er selber doch die Maximen der Aufklärung bis in das Extrem, sich eine radikal vaterlose Existenz zu denken, nicht nur den leiblichen Vater zu ermorden, sondern überhaupt jede Gewalt über sich zu liquidieren – insbesondere diejenige Gottes.
Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin.
Eine erneute Perversion des Zieles der Aufklärung, die man, wie wir bereits sahen, in gewisser Weise tatsächlich als das „Studium“ bezeichnen kann, „keinen Vater zu haben.“
Die Privaterbitterung gegen den unzärtlichen Vater wütet in einen Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht aus,
heißt es in Schillers Selbstrezension der „Räuber“.
Menschen haben Menschheit vor mir verborgen, da ich an Menschheit appellierte, weg dann von mir Sympathie und menschliche Schonung! — Ich habe keinen Vater mehr, ich habe keine Liebe mehr, und Blut und Tod soll mich vergessen lehren, daß mir jemals etwas teuer war!
Karls Universalhaß und das von ihm diktierte Räuberdasein sind aus Verzweiflung über den Vaterverlust geboren. Was Karl angreift, ist nicht die Vaterordnung selber, sondern ihr Verrat und ihre Pervertierung.
In dem ersten der Aufsätze „Über die Frage: was heißt aufklären?“, welche in der „Berlinischen Monatsschrift“ 1783 aufgeworfen wurde, hat der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn – zwei Monate vor Kant, in der Septembernummer 1784 – die Gefahren beschrieben, welche mit dem Fortschreiten der Aufklärung verbunden sind:
Mißbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie.
Nichts anderes ist also bereits das Thema der „Räuber“.
Seine Kritik an der Aufklärung hat der Philosoph Schiller später in seinen Briefen an den Prinzen von Augustenburg bzw. in deren Überarbeitung in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen weitergeführt und konkretisiert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Brief an den Prinzen von Augustenburg vom 11. November 1793, in dem er den Rationalismus der Aufklärer kritisierend bemerkt, für die Aufklärung des Verstandes sei schon sehr viel getan worden. Es fehle
uns nicht sowohl an der Kenntnis der Wahrheit und des Rechts als an der Wirksamkeit dieser Erkenntnis zu Bestimmung des Willens, nicht sowohl an Licht (Aufklärung, les lumières!) als an Wärme, nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur,
also daran, Einsichten nicht nur im Kopf, sondern ebenso im Herzen zu verankern.
So möge denn auch in Zukunft Thomas Manns Wunsch von 1955 in Erfüllung gehen, daß von Schillers
sanft-gewaltigem Willen etwas in uns eingehe: von seinem Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst.
Weiterführendes Schrifttum:
- Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland. Thesen und Definitionen. Hrsg. von Ehrhard Bahr, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1974.
- Dieter Borchmeyer: Die Tragödie vom verlorenen Vater. Der Dramatiker Schiller und die Aufklärung – Das Beispiel der „Räuber“, in: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft. Hrsg. von Helmut Brandt, Aufbau-Verlag, Berlin / Weimar 1987.
- Dieter Borchmeyer: Kritik der Aufklärung im Geiste der Aufklärung. Friedrich Schiller; in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jochen Schmidt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1989.
- Peter Michelsen: Der Bruch mit der Vaterwelt. Studien zu Schillers „Räubern“, Heidelberg 1979 (Beihefte zum Euphorion 16).
- Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Partiarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck, München 1984.
- Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. „Die Räuber“ im Kontext von Schillers Jugendphilosophie; in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins. Hrsg. von Herbert Zeman, Band 84/85, 1980/81.
- Hans-Jürgen Schings: Schillers „Räuber“. Ein Experiment des Universalhasses; in: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Syposium, hrsg. von Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1982.
- Schiller und die höfische Welt, hrsg. von Achim Aurnhammer, Klaus Manger und Friedrich Strack, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1990.
Also ich bin ein ganz großer Fan von Schiller. Sehr gut gefällt mir das „Lied von der Glocke“. Du hast dir mit diesem Thread richtig Mühe gegeben, sauber recherchiert und sehr informativ, danke, ein Genuss für alle Literaturfreunde.