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Noch einmal eine solche Zeit durchleben – glaub ich – könnt ich nicht mehr. Dies eine Mal hab ich sie durchlebt, aber unter was für Qualen …!

schreibt Käthe Kollwitz im Februar 1925 in ihr Tagebuch. Sie denkt dabei an die Zeit des 1. Weltkrieges zurück.

Wer war Käthe Kollwitz,

Kollwitz, Pietá

Kollwitz, Pietá

von der die berühmte Plastik der „Pietà“ in der „Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ in der „Neuen Wache“ Unter den Linden in Berlin aufgestellt ist und eine Nachbildung davon auf dem Waldfriedhof in Stuttgart-Degerloch?

Die Plastik stellt eine Mutter mit ihrem toten Sohn dar, der gleichsam in ihren Schoß zurückgekehrt ist.

Tatsächlich dargestellt sind Käthe Kollwitz und ihr Sohn Peter, der am 2. Tag, nachdem er als Kriegsfreiwilliger in Flandern an die Front gekommen war, am 22. Oktober 1914 mit 18 Jahren den Tod fand.

Das Vaterland braucht meinen Jahrgang noch nicht, aber mich braucht es,

hatte Peter im August 1914, gleich nach Kriegsbeginn also, zu seinen Eltern gesagt und seine Mutter, Käthe Kollwitz, daran erinnert:

Mutter, als Du mich umarmtest, sagtest du: »glaube nicht, daß ich feige bin, wir sind bereit« … Ich stehe auf,

schreibt sie,

Peter folgt mir, wir stehen an der Türe und umarmen uns und küssen uns und ich bitte Karl (ihren Mann) für Peter,

der ja noch nicht mündig ist, sich unbedingt als Kriegsfreiwilliger melden will und dazu die Erlaubnis der Eltern braucht. Die Mutter also bittet den Vater, den Sohn in den Krieg ziehen zu lassen. So war das damals:

Diese einzige Stunde. Dieses Opfer, zu dem er mich hinriß und zu dem wir Karl hinrissen.

Käthe und Karl Kollwitz 1924

Käthe und Karl Kollwitz 1924

Mit dem Kassenarzt Karl Kollwitz ist die Künstlerin Käthe geb. Schmidt seit 1891 verheiratet. Beide sind Sozialdemokraten. Sie wohnen und arbeiten in Berlin-Spandau in einem mehrstöckigen Haus, in dem sie zeitweilig ein halbes Stockwerk, zeitweilig 3 Stockwerke zur Unterbringung der Arztpraxis und der Künstlerwerkstatt gemietet haben.

Karl stirbt darin 1940, Käthe zieht 1943 kurz vor der Zerbombung des Hauses zu einer Nichte nach Moritzburg bei Dresden. 52 Jahre lang ist die Nummer 25 in der Weißenburger Straße am Wörther Platz ihr Zuhause gewesen.

Käthe ist 1867 in Königsberg/Preußen schon in ein sozialdemokratisch eingestelltes Elternhaus geboren worden. Das hat sie geprägt.
Nun aber hat es geheißen:

“Drohende Kriegsgefahr!”

Da steht das Volk zusammen, – gleich, ob im Denken bisher sozialdemokratisch, katholisch, protestantisch, jüdisch, atheistisch, bürgerlich oder proletarisch eingestellt – bereit, für den Erhalt des Vaterlandes einzustehen. Auch Kaiser Wilhelm II. verkündet:

Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.

Die Familie sitzt mit jungen Freunden und Freundinnen noch zusammen, sie lesen

eine Kriegsnovelle von Lilienkron (und sind) nach dem Lesen alle ganz stumm. Dann singen sie … Die Männer, die in den Krieg gehen, hinterlassen meist Frau und Kinder,

schreibt Käthe Kollwitz weiter am 13. August 1914.

Ihr Herz ist geteilt. Die Jungen sind in ihrem Herzen ungeteilt. Sie geben sich mit Jauchzen, sie geben sich wie eine reine schlackenlose Flamme, die steil zum Himmel steigt. – Diese an diesem Abend zu sehn, … ist mir sehr weh und auch wunder-wunderschön.

Dies „Wunder-Wunderschöne“, das sie alle erfüllt und emporhebt, ist, wie sie schreibt, dies

ganz Geheimnisvolle, Andere, was durch Peter sprach und das eben das eine einzige Mal in meinem Leben war

– offenbar das Einheitserleben des bedrohten Volkes, das alle Deutschen bei Ausbruch des 1. Weltkrieges ergriff, das die jungen Männer drängte, sich freiwillig zum Heer zu melden, und die Angehörigen bereit fand, ihre Söhne, Brüder und Ehemänner in den Krieg ziehen zu lassen.

Doch schon Ende August 1914 schreibt Käthe Kollwitz ins Tagebuch:

In dem heroisch Starrenden dieser Kriegszeit, in dem fast widernatürlich heraufgeschraubten Seelenzustand berührt es wie himmlische Klänge, süß weinende Friedensklänge, wenn man liest, daß französische Soldaten verwundete deutsche Soldaten schonen, ja, ihnen helfen, daß deutsche Soldaten in den Franctireurdörfern an Häusern Aufschriften machen wie: »schonen! hier wohnt alte Frau – haben mir Gutes erwiesen – nur alte Leute – Wöchnerin « usw.

Der Sedan-Jubel am 1. September 1914 unter den Linden widert sie an,

diese oberflächliche Jubelstimmung, die so schlecht paßt zu den grausamen Schlachten an beiden Grenzen, zu all dem Scheußlichen und Barbarischen, das man aus Ostpreußen und Belgien hört …

Dann wieder sieht sie am Bahnhof einen jungen Offizier,

ganz jung, rosiges Gesicht, wie alle ausziehenden Soldaten in dieser heiteren selbstverständlichen Ruhe.

Und einer der jungen Freunde ihrer beiden Söhne, der sie Ende September auf Urlaub besucht, sei

noch etwas wie ein Knabe. Noch ganz der unverdünnte herrliche Idealismus der ersten Wochen. Mit einem Wiederkommen rechnet er nicht, will er kaum, dann wäre die Gabe verkürzt. Opfer kann man das kaum nennen, ein Opfer setzt Überwindung voraus. Dies ist eben ein strahlend stolzes Darbieten des Lebens.

So hört sich der Erlebnis-Bericht einer Sozialdemokratin des Jahres 1914 an, einer Dabei-Gewesenen. Spätere Nicht-Dabeigewesene münzen dies “strahlend stolze Darbieten des Lebens” verständnislos als törichte Kriegsbegeisterung um.

Wenige Tage später notiert Käthe Kollwitz, und der mütterliche Wille, die Kinder vor Todesgefahren zu bewahren, ist nun wohl treibende Kraft:

Das Ganze nur so wüst und hirnverbrannt. Mitunter den dummen Gedanken: sie werden in einem solchen Tollwerden doch nicht mittun – und sofort, wie ein kalter Strahl: sie müssen, müssen. Alles ist gleich vor dem Tod, runter mit all der Jugend. Dann könnte man verzweifeln. Nur ein Zustand macht alles erträglich: die Aufnahme des Opfers in den Willen. Aber wie kann man diesen Zustand sich erhalten?

Welch eine Zerrissenheit! Am 12. Oktober 1914 besucht sie ihren Sohn Peter an seinem Ausbildungsstandort und nimmt Abschied von ihm,

den wirklich letzten. Wir küssen uns und sagen uns, wie lieb wir uns haben, und er sagt, er kommt sicher wieder. Du geliebter, geliebter Junge.

10 Tage später ist er tot.

Ihr Sohn Hans ist als junger Mediziner in der Etappe und ist damit unzufrieden:

»Wenn ich nun aber überzeugt bin, daß ich nachher nur etwas leisten kann, wenn ich durch den Krieg gegangen bin?« Ich sage: »Gehst du nicht durch den Krieg, ob du Kranke verbindest oder an der Front stehst? Sind Karl und ich nicht hundertmal mehr durch den Krieg gegangen als manche, die von Granaten umflogen sind?«

So ringen die Menschen mit sich selbst.

Mein Vaterland zu lieben auf meine Art … und diese Liebe zu betätigen. Auf die Jugend zu sehn und ihr liebevoll treu zu bleiben,

das ist das Wollen der Käthe Kollwitz, wie sie es am Jahresende 1914 ins Tagebuch schreibt, als sie ihren Sohn schon verloren hat. Doch dann wieder:

Ein Kind gebären und groß zu ziehn und nach achtzehn köstlichen Jahren zu sehen, wie alle Anlagen sich entfalten, wie reich der Baum Frucht tragen will – und dann aus.

Kollwitz, Elternrelief

Kollwitz, Elternrelief

1917 kann sie nur noch die zu Boden herabgedrückten Eltern sehen.

Ich habe eine Arbeit im Sinn, Peter zu Ehren.

Um dessen Form ringt sie jahrelang. Nach 4 Jahren, 1919, läßt sie sie erst einmal ruhen. Nach weiteren 5 Jahren geht sie wieder daran, mit vielen Depressionsphasen begleitet, und erst nochmals 7 Jahre später ist das Mahnmal „Die Eltern“ vollendet und wird 1932, ein Jahr bevor Hitler an die Macht kommt, auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Roggevelde nahe Dixmuiden in Flandern aufgestellt, dort, wo auch ihr Sohn Peter ruht.

Nun dauert der Krieg zwei Jahre, und fünf Millionen junge Männer sind tot, und mehr als nochmal soviel Menschen sind unglücklich geworden und zerstört, gibt es noch irgendetwas, was das rechtfertigt?

Zweifel nagen immer stärker an ihrer Seele, das eigene Denken sucht nach Klarheit.

Ich bin zerschlissen

– und sie fürchtet, daß sie ihre Kraft verliert, in der Kunst solche Gegensätze „zusammenzufassen“ wie Mutterliebe einerseits und Pflicht zur Geschlossenheit des Volkes in seinem schweren Abwehrringen andererseits. Das Empfinden

von der Mobilmachung an bis zu Peters Tod und dann nachglänzend durch zwei Jahre in seinen Freunden … das ist jetzt (Oktober 1916) beschlossen. Ist vorüber.

Was jetzt in ihr lebt, das will sie durch ihre Kunst bezeugen.

Aber Zeugen jener Zeit?

fragt sie.

Das ganz Geheimnisvolle, Andere, was durch Peter sprach und das eben das eine einzige Mal in meinem Leben war,

dies “geheimnisvoll Glänzende”, wie sie jenes Einheitserleben benennt, ist 1916 in Käthe Kollwitz erloschen, hat sich in ihrer Seele über die lange Zeit nicht aufrechterhalten. Und sie spricht hier wohl nicht nur für sich, sondern für viele. Der Mutter Käthe Kollwitz steht das Hinopfern von Abermillionen junger Menschen nun in keinem Verhältnis mehr zu dem Ziel, das Volk zu verteidigen.

Käthe Kollwitz geht zu Vorträgen und Versammlungen, wo weitab von den schweren Kämpfen an den Fronten revolutionäre Gedanken gepflegt werden. Ein Herr Landauer stellt den Internationalisten Goethe vor. Kollwitz liebt Goethe ganz besonders. Und so hören sich ihre Tagebuch-Eintragungen erstaunlich bejahend an:

Macht die Schlacht von Valmy mit. Erlebt den Sieg der Revolutionstruppen über Herzog von Braunschweig. Sieht in ungeheurer Disziplin der französischen Truppen Geist und Folge der Revolution …«

Angesichts der Revolution wird über Blutvergießen nicht geklagt, wohl aber die Disziplin der französischen Truppen gelobt. Ist das nicht ein bißchen schizofren? Bei einer anderen Versammlung liest der Kapellmeister Levy

sein pazifistisches Lehrdrama vor.

Kollwitz nennt einige Namen der dort versammelten und sprechenden “A-Nationalisten”, die

die Berechtigung auch des Verteidigungskrieges leugnen,

Revolutionskriege jedoch gutheißen: Levy, Fränkl, Bernstein, Pfemfert, Berger. Diese

ausgesucht häßlichen und absonderlich aussehenden Menschen

erlebt sie

ganz verbittert, ordentlich erschreckend wirkend, fanatisch, schreiend … Sehen in Sozialdemokratie, auch den Unabhängigen, eine verrottete Bande … Ziel ist Anationalismus.

Auch bei Tolstoi liest sie,

daß Patriotismus ein überlebtes Gefühl ist, das schädlich und hemmend ist.

Halb zieht es sie zu diesen Ideen hin, halb hält sie das Erinnern an das „ganz Geheimnisvolle, Andere“, was sie mit den jungen Männern bei Kriegsbeginn erlebt hat.

Ihr Mann Karl entwickelt einmal bei Tisch den Gedanken von dem Recht und der Pflicht des Menschen, sich zu entfalten, und daß „Ideologien wie Staat, Vaterland“ dieses Recht nicht beschneiden dürften.

… der Staat hat kein Anrecht auf das Leben seines Angehörigen.

Sie entgegnet ihm – wie sie nun schon empfindet – „langweilig und konventionell“,

daß die Menschheit nicht vorangekommen wäre, wenn das Leben des Einzelnen immer an erster Stelle gestanden hätte. Über dem Leben steht das Leben für die Idee, dadurch nur bekommt das Leben Inhalt und Sinn. Wenn besondere Umstände es fordern, muß das persönliche Leben hingegeben werden.

Der Individualismus bricht sich mitten im Krieg allmählich Bahn in Deutschland. Und doch muß Käthe Kollwitz erkennen und vermerkt es im Oktober 1917 in ihrem Tagebuch,

daß in Prag Revolten gewesen seien und daß ohne Militär die Deutschen wohl alle niedergemacht worden wären. Einem großen nord-slawischen Staat streben die Tschechen zu, südlich Deutsch-Österreichs einem zweiten slawischen Staat. Österreich in der Mitte soll zerrieben werden. Also die Ziele der Entente.

Ebenso hat sie ihre

Verstimmung über die Antwort aus den Entente-Ländern

auf das deutsche Friedensangebot im Dezember 1916 notiert. Und als sie einmal wieder Briefe aus den ersten Kriegswochen liest, ist es ihr wichtig, ins Tagebuch zu schreiben:

Am Ende des Briefes schrieb ich von dem Glück, wenn es ein Wiedersehn nach dem Kriege geben könnte. Ich weiß, daß ich damals schon empfand, ich hätte das nicht schreiben sollen, es war etwas zu weich Menschliches, zu weich Machendes.

So ist sie hin- und hergerissen und kommt zu keiner klaren Einstellung.

Eine unbändige Friedenssehnsucht

hat sie und viele, viele Menschen in Deutschland ergriffen. Für Frieden zu sein, mit dem Völkermorden aufzuhören, wer könnte dagegen etwas einwenden, es zeichnet den Gutmenschen ja geradezu aus! Wer will nicht Frieden?

Bei einem Vortragsabend erlebt sie die große Schauspielerin Durieux, die eine Geschichte von Leonhard Frank vorliest, in der geschildert wird, wie eine sozialdemokratische Versammlung auf die Straße geht und anwächst, ein „enormes Volksgetöse“ entsteht, Glocken läuten und „Frieden! Frieden! Frieden!“ gerufen wird.

Es war gar nicht zum Aushalten. Als sie aufhörte, rief eine Männerstimme immer laut weiter: »Frieden! Frieden!« – es soll Blochs Bruder gewesen sein.

Käthe Kollwitz denkt nun daran,

ob ich nicht auch etwas zur Friedenspropaganda beisteuern könnte, indem ich Flugblätter zeichnete, die im Volk verbreitet würden.

„In der Stadtbahn“ hat ein Freund schon ein Jahr vorher

Arbeiter untereinander vom “Schlächtermeister” (sprechen hören). Sie meinten Hindenburg. Der Oberschlächtermeister sei der deutsche Kaiser.

Im Deutschen Reich kippt die Stimmung. Die Vorgänge in Rußland – soweit sie davon erfährt – bewegen Käthe Kollwitz zutiefst:

Die revolutionären Sozialisten sind an der Regierung. Sie wollen Rußland sozialistisch-kommunistisch verwalten,

frohlockt sie am 6. November 1917.

Max Wertheimer erwartet von Rußland aus ein Hinübergreifen auf ganz Europa in demselben Geiste. Er glaubt an eine gewaltige moralische Erhebung.

Während der Krieg in Deutschland nur

immer genommen und genommen (habe), Menschen genommen und Glauben genommen, Hoffnung genommen. Kraft genommen, (habe das Jahr 1917) neue Ausblicke durch Rußland (gebracht). Von da ist etwas Neues in die Welt gekommen, was mir entschieden vom Guten zu sein scheint.

Eine neue Hoffnung, daß in der Entwicklung der Völker in der Politik nicht wie bis jetzt nur Macht entscheidet, sondern “von nun an” auch die Gerechtigkeit mitwirken soll.

Sie ahnt nicht, was diese Entwicklung über die Menschen bringen wird!

Vorerst sieht sie nur das Elend der arbeitenden Massen, wie sie es in ihrem Zyklus „Bauernkrieg“ schon vor dem Weltkrieg dargestellt hat, und setzt auf die Revolution in Rußland ihre Hoffnung auf Besserung der Lage für die verelendeten Menschen.

Schwager Stern und die Schwester von Käthe Kollwitz halten das Friedensangebot an Rußland ohne Gebietsansprüche Deutschlands

für ein Scheinmanöver und meinen, daß Deutschland Rußland übers Ohr haut, weil Rußland sich nicht wehren kann.

Und wenige Tage später muß sie erfahren:

Der Frieden mit Rußland, der so nah schien, ist wieder weit weg. Die Russen sagen, daß “der annektionslose Frieden” Deutschlands Maske war, in Wahrheit wolle Deutschland annektieren. Und ich fürchte, sie haben recht. Es ist so furchtbar deprimierend und beschämend.

Erich Ludendorff 1918

Erich Ludendorff 1918

Daß es Trotzki war, der diesen Frieden mit seiner Verzögerungstaktik untergrub, wußte sie sicher nicht. Trotzki

verkündete seine bolschewistischen Ideen durch seine Funksprüche der Welt und namentlich der deutschen Arbeiterschaft,

schreibt General Ludendorff dazu in seinen Kriegserinnerungen.

Die Absicht des Bolschewismus, uns zu revolutionieren und Deutschland so zu Fall zu bringen, wurde für jeden nicht vollständig Blinden immer klarer.

Und etwas weiter unten heißt es:

Am 18. Januar fuhr Trotzki nach Petersburg, wo die Bolschewisten die Konstituante [die verfassunggebende Versammlung] auseinandertrieben. Sie gaben damit der Welt kund, wie sie die Volksfreiheit auffaßten. Der Deutsche wollte aber nicht sehen und nicht lernen.

Die Oberste Heeresleitung – vom Volk zuerst hochverehrt, nun aber längst als kriegsversessen und diktatorisch geschmäht, deren Auftrag ja nun einmal darin bestand, den Krieg zum Sieg für Deutschland zu führen – sah sich allmählich von der Heimat im Stich gelassen.

So schreibt unsere politisch gutgläubige, mütterlich träumende Käthe Kollwitz am 30. Januar 1918 in ihr Tagebuch:

Seit 3 Tagen Streik der Munitionsarbeiter. “Frieden – Freiheit – Brot”. Heut ging ein großer Zug vom Bülowplatz aus, wo Schutzleute räumten, durch die Prenzlauer Allee.

2 Tage drauf:

An den Anschlagsäulen die Bekanntmachung, daß über Berlin und Vororte der verschärfte Belagerungszustand verhängt ist und … morgen in Kraft tritt … mit Sterns und Wertheimer schönes Zusammensein … Wertheimer ganz lustig. Sagt er wisse aus guter Quelle, daß in London der Generalstreik bevorsteht und in Paris ebenfalls gestreikt wird …

Am Sonntag 3. März 1918 ist in Brest-Litowsk der Frieden mit Rußland unterzeichnet … Ach, heut Frieden mit Rußland – was ist das doch für ein ruhiges beglückendes Gefühl, zu wissen im Osten ist Frieden. Und die Glücklichen, ach die Glücklichen, die jetzt ihre Geliebten aus der Gefangenschaft zurückbekommen.

Am 1. Juli überdenkt sie ihr bisheriges Leben:

Dann kam der Krieg. Das in die Höhegrissenwerden durch die Jungen. Das Opfer Peters. Mein Opfer Peters. Sein Opfertod. Und dann fiel ich auch. Fortgerissen noch durch ihn in Entwicklungen des Schmerzes und der Liebe, sank ich allmählich in dies Leben zurück. Es blieb Schmerz um ihn …

Ich geh im Halbdunkel, nur selten Sterne, die Sonne lange und ganz untergegangen. Die Füße sind müde und die Glieder schwer und der Kopf hebt sich nicht hoch. Ich hab gemeint und auch daran geglaubt, daß die Zeit von 1914 bis jetzt mich läutern würde. Der Schmerz hat Müdigkeit zurückgelassen. Es ist ja auch nicht allein der Peter. Es ist der Krieg, der einen bis auf den Boden drückt.

Die Lage in der deutschen Heimat spitzt sich allmählich zu. Kollwitz – im Wechselbad der Gefühle zwischen Traum und Wirklichkeit – berichtet Ende Juli von einem

außerordentlich interessanten Abend mit (dem Russen) Agaeff. Er ist bei der russischen Botschaft angestellt und erzählt, (dort herrsche) fürchterlichste Unordnung, (und es sei ein 17jähriger Schüler angestellt worden,) als Spitzel … Der hat die Angestellten auf ihre antibolschewistischen Äußerungen zu bespitzeln. Stimmung gegen Bolschewismus und seinen Terror. Die Hinrichtung von 130 am Attentat auf Mirbach beteiligten Sozialrevolutionären – darunter die Spiridonowa – hat große Erregung geschaffen. Agaeff sagt, die Spiridonowa war wie eine Heilige in Rußland verehrt. Unter dem Zarismus hat man nicht gewagt sie beiseite zu bringen, die Bolschewisten tun es auf deutschen Befehl … Übrigens sagt er, daß auf der Botschaft nur 4 Russen seien, sonst alles russische Juden.

Im Oktober geht es Schlag auf Schlag:

Furchtbar drückende Atmosphäre in der Politik. Niederlagen an der Westfront. Warnung an den Litfaßsäulen vor Verbreitung von niederdrückenden Gerüchten.

Und nun ist auch ihre Hoffnung auf Moral, die aus Rußland kommen würde, gestorben:

Die fürchterlichsten Zustände in Rußland … Radeks Plan zur Ausrottung der Bourgeoisie … Eintritt der Sozialdemokratie in die Regierung. Deutschland wird parlamentarisch. Es will Demokratie werden. Was wird mit dem Kaiser werden? Wird die Entente verhandeln, solange er Kaiser ist? Wird, wenn seine Absetzung Bedingung wird, das Volk ihn fallenlassen? … Droht Deutschland eine ähnliche anarchistische Zukunft wie Rußland? Mein Gott, diese Zeit.

Eine Ahnung des kommenden Unglücks steigt also nun auch in ihr auf, wechselt mit Hoffnung:

Alles flutet. Unser Kriegsunglück kann neues Leben für Deutschland bedeuten. Als ich heut hörte, daß Legien, Ebert in die Regierung eintreten, hatte ich ein ungeheures Freudegefühl. Aber selbst wenn die Sozialdemokratie das Staatsschiff glücklich zu lenken imstande wäre: Es bleibt dabei, daß Deutschland den Krieg verliert und schweres langes Besiegtenleiden zu tragen haben wird. Geht all das Leiden, das noch kommt und das aus seiner Niederlage kommen wird, über das Leiden dieser 4 Kriegsjahre heraus?

Obwohl ihr langsam die Augen aufgehen, was mit einem Frieden, den die Kriegsgegner diktieren werden, auf Deutschland zukommen würde, dokumentiert sie Mitte Oktober:

Georg Stern hat ein Flugblatt in die Hand bekommen, worin zur Revolution aufgefordert wird. In Österreich ist ein Streik der tschechischen Sozialdemokraten ausgebrochen … Wilsons Antwort. Böse Enttäuschung. Die Stimmung für Verteidigungskrieg bis zum Ende wächst. Ich schreibe dagegen.

Obwohl sie doch ein

schweres langes Besiegtenleiden

erwartet. Ende Oktober:

Heut in einer Unabhängigen-Versammlung gewesen. Ledebour sprach. Ich kann ihn nicht leiden. Ein Demagog ist er, ein Hetzer. Ich kann überhaupt nicht mit den Unabhängigen mitgehn. Doch wünsche ich sehr, daß die Sozialisten in der Regierung nicht noch weiter nach rechts gingen. Alles spitzt sich jetzt ungeheuer zu … Österreich kapituliert.

Am 1. November:

Versammlung, in der Heine, Naumann, Wyneken zur Jugend sprechen wollen und über den Haufen gerannt werden. Die Jugend randaliert und ist ungebärdig. Den größten Beifall hat der ekelhafte Pfemfert und die Unabhängigen …

6. November 1918: Ausweisung der russischen Botschaft wegen bolschewistischer Agitation …

Freitag, 8. November 1918 Forderung der Sozialdemokraten: Abdankung des Kaisers. Bis Mittag 12 Uhr …

Sonnabend, 9. November 1918 Heut ist es wahr. Mittags nach 1 Uhr kam ich durch den Tiergarten zum Brandenburger Tor, wo gerade die Flugblätter mit der Abdankung verteilt waren. Aus dem Tor zog ein Demonstrationszug. Ich trat mit ein.

Die Waffenstillstandsbedingungen findet sie „furchtbar“.

Der Kaiser, Kronprinz, sollen nach Holland geflohen sein. Hindenburg soll geblieben sein und sich dem Soldatenrat unterstellt haben, um das Chaos möglichst zu verhindern. Bravo, alter Hindenburg!

“Bravo, alter Hindenburg!” Man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Eine befreundete Journalistin

ist in der Urlauber- und Deserteurversammlung gewesen … Liebknecht soll sehr gut gesprochen haben. Die Deserteure – 26 an der Zahl – sind wie in der Heilsarmee die Bekehrten nacheinander aufs Podium gegangen und haben erzählt, wann und wie sie desertiert wären. Stürmischer Beifall.
Dem Hans (ihrem Sohn) dreht sich rein der Magen um.

Armes deutsches Volk!

Die Stadt ist geschmückt für die heimkehrenden Soldaten. Wir haben lang über die Fahne gesprochen. Heut am Sonntag hängen Hans und ich sie raus. Die deutsche allgemeine schwarz-weiß-rote Fahne. Die liebe deutsche Fahne.

Sieh mal an, Sozialdemokraten lieben die Fahne “Schwarz-Weiß-Rot”! Am 6. Dezember notiert sie:

Überhaupt die fürchterliche Zerrissenheit jetzt! Nord- und Süddeutschland fällt auseinander, Westdeutschland löst sich los vom Ganzen und ist von der Entente besetzt. Im deutschen Österreich Hungersnot und Kälte. Bei uns droht dasselbe in einigen Monaten…

Ganz anders Großbritannien:

Winston Churchill stellt nach dem Krieg klar:

Es war ein gleiches Wettrennen bis zum Ende. Aber am Ende sind wir sicher durchgekommen, weil die ganze Nation unverwandelt zusammenarbeitete.

Dagegen muß Ludendorff in seinen “Kriegserinnerungen” festhalten:

In Berlin konnte man sich nicht zu unserer (der OHL) Auffassung über die Kriegsnotwendigkeiten bekennen und nicht den eisernen Willen finden, der das ganze Volk erfaßt und dessen Leben und Denken auf den einen Gedanken: Krieg und Sieg einstellt. Die großen Demokratien der Entente haben dies vermocht. Gambetta 1870/71, Clemenceau und Lloyd George in diesem Kriege stellten mit harter Willenskraft ihre Völker in den Dienst des Sieges.

Dieses zielbewußte Streben, der machtvolle Vernichtungswille der Entente, wurden von der Regierung nicht in voller Schärfe erkannt. Nie war daran zu zweifeln gewesen.

Statt alle vorhandenen Kräfte für den Krieg zu sammeln und im Höchstmaße anzuspannen, … schlug man in Berlin einen anderen Weg ein; man sprach immer mehr von Versöhnung und Verständigung … Man glaubte in Berlin oder täuschte sich dies vor: die feindlichen Völker müßten den Versöhnung verkündenden Worten sehnsüchtig lauschen und würden ihre Regierungen zum Frieden drängen.

So wenig kannte man dort die Geistesrichtung der feindlichen Völker und deren Regierungen mit ihrem starken nationalen Denken und stahlharten Wollen. Berlin hatte aus der Geschichte früherer Zeiten nichts gelernt. Man fühlte hier nur das eigene Unvermögen gegenüber der Psyche des Feindes, man verlor die Hoffnung auf den Sieg und ließ sich treiben … Man versäumte darüber, das Volk den schweren Weg des Sieges zu führen.

Reichstag und Volk sahen sich ohne solche Führung, die sie zum großen Teil heiß ersehnten, und glitten mit der Regierung auf der abschüssigen Bahn … Innenpolitisches Denken und das Denken an das eigene Ich überwucherten sie. Das wurde zum Unglück für das Vaterland.

Käthe Kollwitz, Selbstbild

Käthe Kollwitz, Selbstbild

Der “Friede” und alles, was aus ihm folgte, wurde in der Tat fürchterlich für Deutschland und Europa.

Was für Zeiten! Und in diesem Geschehen:

Käthe Kollwitz – die Personifikation der deutschen Zerrissenheit und Qual!

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Mithus
Mithus
14 Jahre zuvor

Der Aufsatz zeichnet sich durch die Darstellung menschlicher Zerrissenheit aus. Sie wäre wohl bei besserer Kenntnis der jesuanischen Botschaft und ihrer Befolgung vermeidbar gewesen. Von der Selbstverständlichkeit eines damals in Fleisch und Blut anerzogenen Willens, seinem Volk zu dienen und es zu verteidigen ausgehend, also innerer Bewegtheit folgend, kam man allmählich zu der (kognitiven) Einsicht in das äußere Geschehen und die unterschiedlichen Ideologien, die dann alles Schlimme noch potenzierten. Schließlich war man zum Vernichten und Töten auf allen Gebieten und Ebenen angetreten. Käthe Kollwitz ist insoweit ein Musterbeispiel für den ungelösten Konflikt zwischen National-Gefühl und jesuanischer Einsicht, zumal sie das tägliche Elend der Berliner Hinterhöfe stets vor Augen hatte und die Söhne aus jenen Schichten ebenso begeistert sich opferten und geopfert wurden. Als Mutter dem Sohn zum Krieg zu raten, ist für mich als Christ völlig unverständlich, aber leider machte ja die Kirche diesen Unsinn auf beiden Seiten mit.
Das ganze Thema ist aber so umfangreich, dass ich es bei diesem Stichwort (jesuanische Nachfolge, wo bleibst du?) bewenden lassen möchte.
Mithus

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[…] solchen Aktionen berichtet Käthe Kollwitz anschaulich aus eigenem Erleben in ihren Lebenserinnerungen. Auch viele Offiziere berichteten, die Truppe sei insbesondere in der 2. Hälfte des Jahres 1918 […]

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[…] Käthe Kollwitz wandte sich später wieder volkfremden, deutschfeindlichen Kräften zu, so wie viele andere Deutsche auch, die das Walten ihres Unterbewußtseins nicht mehr verstanden und ihr eigenes Volk deutschfeindlichen, linken Ideologen überantworteten, die – wie heute drastisch von denen vorgeführt – die Völker an den Rand des Abgrundes führten. mehr […]

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[…] Bildhauerin und Malerin Käthe Kollwitz schreibt bewegend von ihren Erlebnissen bei Kriegsbeginn […]

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