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§ 217 „Kindsmord“

In letzter Zeit häuften sich Berichte über Mütter, die ihr neugeborenes Kind töteten. Was trieb sie dazu? Die Rechtsanwältin und Psychologin Annegret Wiese hat für ihr Buch „Mütter, die töten“ in Gefängnissen Kindsmörderinnen befragt. Ihr gemeinsames

Merkmal: Immer waren sie auffallend unsicher und angepaßt. Und einsam.

Im Interview der

Emma (September/Oktober 2008)

mit der Autorin wird klar, wie Frauen mit einer Schwangerschaft, die von Eltern oder Partner nicht gewünscht wird, alleingelassen sind. Aus Angst vor ihnen verheimlichen sie ihren Zustand (schwer vorstellbar) und töten und beseitigen ihr Neugeborenes. Solche Frauen haben die Fähigkeit zu selbständigem Verhalten nicht entwickelt, sind abhängig, unemanzipiert geblieben.

Emma fragt die Autorin nach dem § 217 zum „Kindsmord“. Sie erklärt:

Der § 217 ist schon 1871 bei Reichsgründung ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. Er galt nur für unverheiratete Frauen, für die ein uneheliches Kind eine große Schande bedeutete. Hinzu kam, daß man die hormonellen Einflüsse während der Geburt berücksichtigt hat, die Panikreaktionen begünstigen. Das alles hat dann dazu geführt, daß man gesagt hat: Die Tötung eines Neugeborenen ist nicht zu vergleichen mit einem „normalen“ Totschlag.

Das Strafmaß für eine solche als „erweiterte Abtreibung“ angesehene Kindstötung war daher mit „nicht unter drei Jahren“ Gefängnis vergleichsweise milde.

1998 wurde der § 217 ersatzlos gestrichen. Alice Schwarzer a. a. O.:

Heutzutage wird Kindsmord wie der Mord oder Totschlag eines Erwachsenen bzw. eigenständig lebenden Kindes bestraft. Nadja N. hat zehn Jahre Gefängnis bekommen.

Welch ein Rückfall in die Barbarei! Die lebenden Kinder dieser Mütter werden noch mitbestraft, indem sie ihre Mutter für lange Jahre verlieren.

Und die Väter?

Bei Gericht wird die Mitverantwortung der Väter in den allermeisten Fällen bis heute ausgeblendet. Ein Vater braucht nur anzugeben, er habe von der Schwangerschaft seiner Frau nichts gewußt (!), und er ist unbehelligt. Rechtsanwältin Wiese:

Oft wird ja sogar so getan, als ob die Väter gestraft wären, weil sie so eine Monstermutter zur Partnerin haben. Der Vater wird auch noch als Opfer gesehen, dem die Kinder genommen wurden. Ich habe aber schon mehrfach erlebt, daß gerade Väter, die zuvor deutlich signalisiert hatten, daß sie die Kinder nicht wollen, sich anschließend vor die Presse stellen und Sätze sagen wie: „Fürchterlich, ich hab davon nichts mitbekommen, und jetzt sind meine Kinder tot.“

Mit dem „Muttermythos“, Titel eines weiteren Buches von ihr, erklärt Annegret Wiese, warum

rechtliche Hebel, die Väter zur Verantwortung zu ziehen über „Mittäterschaft“ oder über die „Beihilfe“

nicht betätigt werden. Eine Frau, die ihr eigenes Kind tötet,

bricht damit das größtmögliche Tabu. Die Mutter gilt als die Lebensspenderin schlechthin und wird mit Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Nestwärme verbunden … Darum konzentriert sich alles sehr schnell auf die Frau und ihre Rolle. Das gesamte Umfeld wird ausgeblendet. Und der Druck, der von diesem Umfeld ausging, der wird auf merkwürdige Weise außen vor gelassen.

Alice Schwarzer:

Ein neuer § 217 muß her, der die einsamen und verzweifelten Mütter nicht auch noch für Jahrzehnte ins Gefängnis schickt. …

Übrigens: In den meisten Fällen sind die Frauen, die ein Neugeborenes nicht leben lassen, schon Mütter – und fast immer gute Mütter.

Grundsätzlich wichtig jedoch ist, daß Frauen aufgeklärt, beruflich eigenständig und selbstbewußt in eine Partnerschaft gehen und diese wieder verlassen, wenn das Verhältnis unerträglich wird.

Mord an ihren Neugeborenen ist der falsche Weg aus der Not. Und die Umgebung müßte fürs Wegsehen und Alleinlassen in der Not mitbestraft werden.

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I. Bading
16 Jahre zuvor

Mit Einzelmaßnahmen kann auf all diesen schlimmen Gebieten nichts erreicht werden. Man „doktert“ an den Symptomen herum und dringt nicht zu den Ursachen. Das ist genauso wie bei Fragen der Eltern-Kind-Beziehungen heute.

In einer Gesellschaft, in der alle medialen Einflüsse darauf gerichtet sind, daß Paarbeziehungen seelenlos und nüchtern werden, also inhuman, zumal bei den von der Natur vorgegebenen „egoistischeren“ Veranlagungen des Mannes, in einer solchen Gesellschaft wird man mit „Herumflicken“ an Symptomen, die natürlich auch wichtig sind, nichts wirklich Grundlegendes leisten können. Man soll zu den Ursachen vordringen.

Auch eine Gesellschaft, in der ein naturalistisches Menschen- und Weltbild vorherrschend wird, braucht eine Moral, die Seele und beseelte Sozialbeziehungen an vorderster Stelle mit in Rechnung stellt.

Die seelisch Stabileren „mogeln“ sich noch so durch. Wer seelisch nicht viel besitzt, kann nicht viel verlieren im Leben. Die seelisch empfindsameren, instabileren, schwächeren (also sehr oft auch Frauen) sind dagegen der eigentliche Indikator für den Zustand einer inhumanen Gesellschaft.

Auch das wird nicht in Rechnung gestellt heute, daß eine Kette immer nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Aber das alles ist für brutale, seelenlose oder seelisch verhärtete Menschen, wie sie heute in unserer Public Relations-Industrie vorherrschen, nicht wirklich ein Problem.

Sie sind mit „Beschwichtigungen“ aller Art schnell zufrieden zu stellen.

R.I.P. David Reimer
R.I.P. David Reimer
15 Jahre zuvor

Alice Schwarzer ist m.E. eine Menschenfeindin, die Frauen jegliche Eigenverantwortung aberkennt – und sonst gar nichts.

Susanne
15 Jahre zuvor

Ich finde es erschreckend, dass die Väter so oft davonkommen und auch andere Angehörige. Eine Schwangerschaft ist nicht übersehbar. Eine Mutter, die nicht mehr weiterweiß, ist auch nicht übersehbar, denn ihre Augen, ihr Verhalten verraten es oft.

Alice Schwarzer macht Frauen Mut und gibt ihnen Hoffnung, und das stört viele Männer, die lieber ein Dückmäuschen zu Hause haben. Nur: Das geben sie niemals zu.

Keine Mutter tötet ihr Kind oder ihre Kinder einfach so.

Sibille
15 Jahre zuvor

Meine Freundin ist adoptiert. ’70 war die Abtreibung noch nicht legal. Die Mutter war erst 15. Sie wurde auch zur Adoption gezwungen bzw. haben die Großeltern entschieden. Wäre ihr Zustand eher sichtbar gewesen, wäre sie viell. zur illegalen Abtreibung geschickt worden.

Die leibliche Mutter hat ein Korsett getragen. Das Baby kam mit 44 cm und 4 Pfund auf die Welt. Die Behörden sagten später der inzwischen erwachsenen Frau: „Seien Sie froh, wir haben hier genügend Mütter in gleicher Situation, wo die Großeltern beim Töten mithelfen.“

Ich fand das erschreckend, als meine Freundin mir das erzählt hat. Muss es soweit kommen? In Zeiten, wo es anonyme Babyklappen gibt?

Meine Freundin ist bei ihren Adoptiveltern in einem liebevollen Zuhause aufgewachsen, sie hätte es nicht besser treffen können. Warum geben so verzweifelte Mütter ihren Kindern nicht diese Chance? Auch heute gibt es doch noch genug Familien, die sich ein Kind wünschen und keines bekommen können?

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