Wie war das eigentlich in München 1938
Dienstag, 22. Oktober 2024 von Adelinde
Eskalation oder De-Eskalation: Die Münchner Konferenz vom September 1938
Zu diesem Thema veröffentlicht
Dr. Gunther Kümel
in Folge 4/5-2024 der Zeitschrift „Volk in Bewe-gung“ seine bereits im Weltnetz erschienene jetzt auch bei Adelinde willkommene Abhandlung.
Was ergab die Münchner Konferenz am 29. Septem-ber 1938 und wie reagierten die Völker darauf?
Die Tschechei (CSR) war ein nach dem Ersten Weltkrieg von Frankreich und England künst-lich zusammengeschusterter Vielvölkerstaat aus Tschechen, 3,5 Millionen Deutschen, Slowaken, Ungarn, Ukrainern, einigen weni-gen Polen und Rumänen sowie kleinen sla-wischen Völkchen (Slonzaken, Hultschiner), die sich den Deutschen zugehörig fühlten.
Karte: Sprachverteilung in der Tschechoslowakei um 1930. Mariusz Pazdziora, WIKI Commons
Violett = deutsch, rot = tschechisch, rosa = slowakisch, orange = polnisch, gelb = ukrainisch, grün = ungarischDie einzelnen Völkerschaften in der CSR hatten meist keinen Bezug zu den anderen, historisch und kulturell waren sie einander fremd, wurden in diesen Staat hineingezwun-gen, teils mit brutaler Gewalt.
Gefragt wurde keiner. Zum Beispiel hatten die Hultschiner sogar selbst eine Volksabstim-mung organisiert, in der sie sich zu 99 % für die Angliederung an Deutschland ausspra-chen.
Die Deutschen, „Altösterreicher“ und 1918 Angehörige des Nachfolgestaates Deutsch-österreich, protestierten in riesigen Demon-strationszügen friedlich gegen den Zwang.
Die Protestzüge wurden von den Tschechen zusammengeschossen. Die Einheimischen beklagten 56 Tote und Hunderte Verletzte.
England und Frankreich dekretierten den-noch, gegen den ausdrücklichen Protest der Betroffenen, den Anschluß der deutschen Gebiete, und des Hultschiner Ländchens an den Kunststaat.
Besonders Frankreich verfolgte die Politik, rund um Deutschland und Österreich Staaten mit großen deutschen Minderheiten in ge-schlossenen Siedlungsgebieten zu errichten, in denen jeweils eine Zentralmacht autoritär die Staatsführung beanspruchte.
Der britische Premier Lloyd George warnte ausdrücklich vor dieser Politik. Ziel der französischen Bestrebungen war die Einkrei-sung und politische Eindämmung der Deut-schen, was durch ein Netz von Militärbünd-nissen realisiert wurde. In Polen etwa lebten kaum über 50% ethnischer Polen neben Deutschen, Ukrainern, Weißrussen, Großrus-sen, Litauern, Kaschuben und Oberschlesiern.
Das Volk der Kaschuben hatte sich jahrhun-dertelang gegen die Übergriffe der Polen zur Wehr gesetzt, betrachtete sich als Glied des deutschen Volkes und pflegte (ähnlich wie die Masuren, Lausitzer und Oberschlesier) nur als Haussprache ein slawisches Idiom.
In Jugoslawien unterdrückte eine Minderheit von 23 % Serben große Volksgruppen von Kroaten, Slowenen, Ungarn, Albanern, Bosniern, Mazedoniern und Deutschen.
Die größte Volksgruppe der CSR (Tschechen) machte nicht einmal die Hälfte der Bevölke-rung aus. Sie errichteten aber unter Masaryk und Beneš eine chauvinistische, sehr autori-täre Zentral-Herrschaft, die die anderen Völker im Staat existenzgefährdend benach-teiligte und zu entnationalisieren versuchte.
Clemenceau hatte zwar ein weitgehendes Minderheiten-Schutzabkommen durchge-setzt, aber die Tschechen brachen es syste-matisch und kündigten es bald. Deshalb standen alle Minderheiten der Zentralmacht höchst skeptisch gegenüber.
Außenpolitisch räumte die CSR der UdSSR einen erheblichen militärischen Einfluß auf dieses mitteleuropäische Land ein (Schultze-Rhonhof, „Das tschechisch-deutsche Drama 1918–1939“).
Als Opposition zur staatstragenden tsche-chischen Partei von Beneš (der „nationalso-zialistischen Partei der CSR“) etablierten sich Parteien der Deutschen, die sich schließlich unter dem Druck des Staates zu einer Ge-samtpartei zusammenschlossen; ihr Vorsit-zender wurde der Turnlehrer Konrad Henlein.
Henlein wandte sich an England und Frank-reich, intervenierte immer wieder bei Churchill, Vansittart und einer Reihe anderer hochrangiger britischer Politiker. Als dies wenig Erfolg brachte, wandte er sich zuletzt an Hitler.
Schließlich erkannten die Regierungen von Frankreich und England, daß die Unterdrük-kung der Deutschen in der CSR einen Grad erreicht hatte, der mit dem normalen Leben in Europa nicht mehr zu vereinbaren war.
Sie machten die erzwungene Angliederung der deutschen Gebiete von 1918/19 rück-gängig und entwickeln einen Plan zur Rück-Abtrennung der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiete Böhmens und Mährens und ihre Angliederung an Deutschland. Die CSR akzeptiert diesen Plan schließlich (DBFP, 3.series, Volume II, Doc.1005).
Auf der Konferenz von München werden nur noch die technischen Details der Übergabe der Gebiete besprochen. Der Münchner Ver-trag beginnt entsprechend mit den Worten:
„Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berück-sichtigung des Abkommens, das hin-sichtlich der Abtretung des sudeten-deutschen Gebietes bereits grundsätzlich erzielt wurde, … übereingekommen, …“
Nun fordern aber alle anderen Minderheiten ebenfalls „LOS von PRAG!“, der Staat zerfällt sehr schnell. Die Polen bezeichnen die Slonzaken kurzerhand zu ethnischen Polen und erzwingen von der CSR die Abtretung ihres Industriegebietes Teschen durch Kriegsdrohung und Ultimatum und fordern weitere Landstriche; Ungarn marschiert ein und gliedert die ungarischen Gebiete der Slowakei wieder Ungarn an.
Tschechen, Slowaken und Ukrainer befürch-ten weitere Angriffe der Nachbarstaaten (und der UdSSR !) und wenden sich in getrennten Demarchen an Deutschland, sie wollen „deut-schen Schutz“, also den Protektorats-Status. Hitler lehnt das Ersuchen der Ukrainer ab, offensichtlich hat er keine Pläne, „die Ukraine zu erobern“.
Er akzeptiert das Ersuchen der Slowakei. Dann kündigt sich der Präsident der verblie-benen Tschechei, Hacha, an. Er ist bekannt dafür, daß er eine Selbständigkeit von Böhmen und Mähren für eine schlechte Lösung hält.
Das deutsche Außenministerium wendet sich an England (Konsultativ-Abkommen). Chamberlain erklärt das „Desinteressement“ Englands, Hitler habe „freie Hand“ (DBFP IV, No332).
Hacha verhandelt mit Hitler einen Protekto-ratsvertrag und akzeptiert nolens volens die militärische Besetzung des Landes. Dies ist für Deutschland von existentieller Bedeutung, da Stalin offensichtlich erwägt, Böhmen und Mähren zu besetzen.
Rumänien gewährt ihm zwar keine Durch-marschrechte, die UdSSR hat jedoch umfas-sende Landungsrechte für Militärflugzeuge auf böhmischen Flugplätzen. Diese Gefahr hat wohl auch Chamberlain zu seiner Politik der freien Hand motiviert.
Die Tschechei prosperiert unter dem deut-schen Protektorat. Die Tschechen zählen zu den wenigen Europäern, die im WKII nicht als Soldaten an die Fronten müssen. Die 1000 Jahre alte Zusammenarbeit zwischen Deut-schen und Tschechen im Kurfürstentum und Königreich Böhmen erwacht wieder. Wirt-schaft und Handel blühen, es gibt keine Versuche, Deutsche einzusiedeln oder die Autonomie der tschechischen Kultur zu verletzen.
Die Tschechen sind zufrieden und koope-rieren vollkommen mit den Deutschen. Dies läßt die Briten nicht ruhen. Bewaffnete Agenten werden mit dem Fallschirm abge-setzt und führen einen erfolgreichen Mord-anschlag auf den Chef der Protektoratsver-waltung durch. Tschechische Polizei erschießt die Männer der Ortschaft Lidice, die die Agenten unterstützt haben.
DER VÖLKERMORD AN DEN DEUTSCHEN
Die Sudeten-Deutschen
Nach dem Ende der Kämpfe 1945 begann in den Maitagen die Austreibung und Vernichtung der Sudetendeutschen, einer der grausigsten Völkermorde in der Menschheitsgeschichte. Die sudetendeutsche Volksgruppe, ihrer Zahl nach größer als das norwegische Volk und nahezu so groß wie das dänische und finnische Volk, wurde seit dem ersten Weltkriege dreimal zum Objekt der internationalen Politik gemacht, ohne daß dabei eine befriedigende Lösung des sudetendeutschen Problems, das weder eine Erfindung Adolf Hitlers noch der Führer der Volksgruppe Henleins, sondern ein Raum- und Volksproblem ist, erzielt werden konnte.
Die Ursachen hierfür sind mannigfaltig, sie lassen sich auf einige Grundtatsachen der mitteleuropäischen Geschichte und Politik zurückführen. Ursprünglich war das Böhmische Becken von Kelten und Germanen bewohnt, ab dem 6. Jh. sickerten slawische Völkergruppen ein. Die enge politische Bindung an den deutschen Nachbarn brachte den Tschechen neben dem religiös-kirchlichen auch den kulturellen und wirtschaftlichen Anschluß an das damalige Europa.
Die Funktion der Deutschen in Böhmen und Mähren war außerordentlich positiv. Sie haben als Priester und Hofleute in der Prager Herzogs- und Königsresidenz gewirkt, sie haben die Städte gebaut, nicht nur in den von Deutschen besiedelten Randgebieten, sondern mit Ausnahme der Husittengründung Tábor auch im Inneren Böhmens. Sie haben Land und Forste kultiviert und Bergwerke angelegt. Sie brachten die Ordnung des Nürnberger und Magdeburger Rechtes ins Land und sie haben auf dem Gebiet der Künste einen hervorragenden Anteil zu verzeichnen.
Ein dauerndes Symbol für ihre schöpferische Arbeit bleibt die Stadt Prag mit ihrer Geschichte und mit ihren Bauwerken. Die besonderen Rechte der Deutschen in Böhmen wurden schon frühzeitig bestätigt, wie aus dem Freibrief hervorgeht, den im 12. Jh. Herzog Sobieslaus II. den Prager Deutschen ausstellte.
Tausend Jahre lebten beide Völker mit Ausnahme weniger Unterbrechungen im böhmisch-mährisch-schlesischen Raume gemeinsam und in fruchtbarer Zusammenarbeit. Erst die Entwicklung des nationalen Gedankens im 19. Jh. hat den seit der Hussitenzeit schwersten Bruch zwischen Deutschen und Tschechen herbeigeführt, für den weder das Jahr 1918 noch das Jahr 1938 eine Lösung fanden und der schließlich in das Grauen des Jahres 1945 mündete.
Die verfälschte Geschichtsdeutung, wie sie der führende tschechische Historiker des 19. Jh., Palacký, gibt, der den Kampf der Deutschen mit den Tschechen als Leitmotiv der Geschichte im böhmisch-mährischen-schlesischen Raum und die blutige Hussitenzeit als das „Heldenzeitalter“ des tschechischen Volkes hinstellte.
Um die Vorgänge des Jahres 1945 in das richtige Licht zu setzen, ist es notwendig, auf das Jahr 1938 und 1918 zurückzugehen. Unter Berufung auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ war von Weltkriegssiegern die Auflösung der deutsch-österreichischen Habsburg-Monarchie bestimmt worden. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist den Deutschen Österreich-Ungarns nicht zuerkannt worden. Das war die erste Lüge der Versailler-Friedensdiktatoren. Die sudetendeutschen Volksteile in Böhmen, Mähren und Schlesien wurden, ohne gefragt worden zu sein, der tschechoslowakischen Republik einverleibt.
Die im Jahre 1911 gewählten deutschen Abgeordneten des Österreichischen Reichsrates aus Böhmen, Mähren und Schlesien hatten am 20.10.1918 in Wien die Schaffung der deutschösterreichischen Provinzen Deutschböhmen und Sudetenland beschlossen und sie unter den Schutz der Deutschösterreichischen Republik gestellt. Diese Beschlüsse wurden von der perfiden „Friedenskonferenz“ nicht anerkannt. Die Landesregierungen, an deren Spitze in Böhmen Rafael Pacher und seit dem 04.11.1918 Dr. Rudolf Lodgman von Auen, in Mähren-Schlesien Dr. Robert Freissler standen, wurden von den Tschechen vertrieben.
Am 04.03.1919 demonstrierte die sudetendeutsche Bevölkerung aller politischen Richtungen in zahlreichen Städten in öffentlichen Kundgebungen für ihr Recht der Selbstbestimmung. Diese Willensäußerungen der Bevölkerung wurde von der tschechischen Exekutive mit Gewalt niedergeschlagen, wobei es unter den Sudetendeutschen zahlreiche Todesopfer gab. Als 1919 bei den Verhandlungen von St. Germain die Frage der Deutschen in der Tschechoslowakei besprochen wurde, arbeitete die tschechoslowakische Delegation, an deren Spitze der damalige Außenminister Dr. Benesch stand, mit gefälschtem Kartenmaterial, aus dem hervorgehen sollte, es gäbe keine geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete.
Besonders kraß wirkt in dieser Hinsicht die Kartenanlage „Les Allemands de Bohême“, in der die geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete durch falsche Einzeichnungen der tschechischen Siedlungsräume völlig zerrissen und willkürlich verkleinert sind. Zwischen Leitmeritz und Komotau z.B. ragt auf diesen Karten der tschechische Siedlungsraum bis an die Landesgrenze, so daß Teplitz inmitten eines rein tschechischen Siedlungsgebietes zu liegen kommt.
Wie die historisch-politische Entwicklung beweist, dachte Dr. Benes nicht einen Augenblick daran, das konstitutionelle Prinzip der Schweiz in der Tschechoslowakei in die Wirklichkeit umzusetzen, vielmehr plante er einen Nationalstaat der Tschechen einzurichten, obwohl nur die Hälfte der Gesamtbevölkerung Tschechen waren. Die im Staatsvertrag vom 16.09.1919 eingegangenen Schutzverpflichtungen gegenüber den nationalen Minderheiten wurden von tschechischer Seite nicht eingehalten. Die sudetendeutschen Versuche, durch insgesamt 22 Memoranden beim Völkerbund in Genf die Einhaltung der Minderheitenschutzbestimmungen zu erreichen, verliefen erfolglos, da diese Memoranden infolge der Gegenaktionen Dr. Benes’s nicht zur Verhandlung vor den Völkerbundrat kamen.
Nicht A. Hitler problematisierte die „Sudetenfrage“, sondern die Tschechen selbst. Wäre die Tschechoslowakei nach dem ersten Weltkrieg wirklich als eine Art Schweiz mit Gleichberechtigung der verschiedenen nationalen Gruppen und mit der Tendenz nach einer wirklichen politischen Neutralität geschaffen worden, hätte die ganze politische Entwicklung im böhmisch-mährisch-schlesischen Raum einen besseren Verlauf genommen.
In seinem Bericht an den englischen Premierminister vom 26.10.1938 faßte Lord Runciman seine Feststellungen und Beobachtungen zum sudetendeutschen Problem folgendermaßen zusammen: „Es ist ein hartes Ding, von einem fremden Volk beherrscht zu werden, und ich bin mit dem Eindruck abgereist, daß die tschechoslowakische Herrschaft in den Sudetengebieten, obwohl nicht direkt bedrückend und sicherlich nicht ‚terroristisch‘, doch durch ein solches Maß an Taktlosigkeit, Mangel an Verständnis, Unduldsamkeit und Diskriminierung gekennzeichnet war, daß das Ressentiment der deutschen Bevölkerung unausweichlich in Richtung einer Auflehnung getrieben wurde. …
Hierzu kommt noch, daß die Sudetendeutsche Partei bei den letzten Wahlen 1935 mehr Stimmen auf sich vereinigen konnte, als jede andere Einzelpartei und im Augenblick die zweitstärkste Partei im Parlament des Staates ist. Bei einer Gesamtzahl von 300 verfügt sie über 44 Sitze im Parlament. Mit ihrem späteren Zuwachs ist sie gegenwärtig die stärkste Partei im Staate überhaupt. Sie kann jedoch jederzeit überstimmt werden, weshalb viele ihrer Mitglieder glauben, daß auf verfassungsmäßigem Wege nichts zu erreichen sei.
Zu örtlichen Mißständen kamen noch folgende schwere Unzukömmlichkeiten. Tschechische Beamte und tschechische Polizei ohne oder mit nur geringen deutschen Sprachkenntnissen wurden in großer Zahl in rein deutschen Gebieten eingesetzt. Tschechische Agrarkolonisten wurden im Wege der Bodenreform zur ständigen Ansiedlung mitten unter die deutsche Bevölkerung verpflanzt. Für die Kinder dieser tschechischen Eindringlinge wurden tschechische Schulen in großer Zahl gebaut.… Eine solche Art von Politik ist aber auch notwendig für die Tschechoslowakei, und zwar nicht nur zur Erhaltung ihrer eigenen Existenz, sondern auch zur Erhaltung des europäischen Friedens.“
Während des Krieges hat die tschechische Bevölkerung keinen nennenswerten Widerstand geleistet noch eine wirksame Sabotage gegen die deutsche Kriegswirtschaft verübt. Die Tschechen blieben vom Kriegsdienst befreit. Das tödliche Attentat gegen Reinhard Heydrich war vom Ausland her geplant und organisiert worden. Erst die Vergeltungsmaßnahmen für dieses Attentat und insbesondere die Vernichtung des Dorfes Lidice und seiner männlichen Bewohner hatte dem Widerstandsgeist der Tschechen einen Auftrieb gegeben.
Als gegen Kriegsende die Sudetendeutschen Gebiete von sowjetrussischen und US-Truppen besetzt wurden, spielten sich zunächst die gleichen Vorgänge ab, wie sie auch aus anderen deutschen Gebieten bekannt sind. Der überwiegende Teil der Sudetendeutschen war in Unkenntnis über die Nachkriegsabsichten des Dr. Benes’s und seiner Mitarbeiter im Exil. Es gab ein furchtbares Erwachen für die Sudetendeutschen, als die ersten Lastwagen mit den Revolutionsgardisten, die meist in deutsche Uniformen gekleidet und mit deutschen Waffen ausgerüstet waren, aus Innerböhmen in den sudetendeutschen Gebieten einfuhren.
Diese von den zentralen tschechischen Stellen organisierten und dirigierten Einsatzgruppen brachten die ganze schreckliche Fülle von Mord, Gewalttat, Mißhandlung, Schändung, Raub und Diebstahl mit sich. In manchen Orten, so z. B. in Saaz, Brüx, Aussig, Landskron usw., wurden Massenexekutionen und Blutbäder inszeniert, die zu dem Schrecklichsten gehören, was in der Geschichte Europas zu verzeichnen ist. In Prag waren diese Massenverbrechen unmittelbar in Verbindung mit den Straßenkämpfen seit dem 5. Mai aufgetreten. Aber auch hier war anfangs eine deutliche Scheidung zwischen der bürgerlich-konservativen und einer extrem nationalistischen Gruppe, die in ihren Zielen mit den Kommunisten Hand in Hand ging, festzustellen. Durch die aufpeitschenden Hetzrufe des in tschechische Hände geratenen Prager Senders wurde die Stadt in einen förmlichen Blutrausch dämonischer Massenhysterie versetzt, die dem Sadismus Tür und Tor öffnete und die zu Gräueltaten führte, die die Gräuel der Hussitenzeit übertrafen.
Ähnliche Vorgänge wie in Prag spielten sich in einer Reihe anderer Städte Innerböhmens und Mähren-Schlesiens ab. Die Massengrausamkeiten nahmen stellenweise solche Formen an, daß mancherorts die russische Besatzung den Tschechen Einhalt gebot. In zahlreichen sudetendeutschen Orten kam es unter dem Eindruck der Massenhinrichtungen und Massengrausamkeiten zu wahren Selbstmordepidemien, vor allem unter den älteren deutschen Einwohnern.
Die psychologische Wurzel für das Verhalten der Tschechen nach dem Mai 1945 ist in dem schon eingangs angedeuteten überspitzten nationalistischen Konzept zu suchen, das dem tschechischen Volk seit Jahrzehnten in Verbindung mit einer vielfach panslawistisch angehauchten Geschichtsideologie eingehämmert wurde. Dieser tschechische Nationalismus wurde während des Krieges vom Ausland her planmäßig geschürt.
Die tschechische Staatsführung hat die Ressentiment planmäßig seit den ersten Maitagen gefördert und die niedrigsten Instinkte weiter Schichten des tschechischen Volkes durch öffentliche Aufforderung zu Gewalttat und Plünderung ermutigt. Diese Staatsführung hat weiter versucht, diesen Vorgängen den Anschein einer gesetzmäßigen Tarnung durch die berüchtigten Präsidentendekrete Benes’s zu geben.
Die Austreibung großer Teile der sudetendeutschen Bevölkerung begann schon lange vor der Sanktionierung durch das Potsdamer-Abkommen vom 02.08.1945. Daß es sich bei diesen Austreibungsvorgängen vor den Potsdamer Beschlüssen um ein zentral gelenktes Unternehmen handelt, geht daraus hervor, daß die Aufforderung hierzu von den Orts- und Bezirksnationalausschüssen durch öffentliche Kundmachungen erlassen wurde. Die Durchführung war an zahlreichen Orten ganz ähnlich, woraus man entnehmen kann, daß eine derart wichtige Maßnahme organisationsmäßig im Einvernehmen mit zentralen Regierungsstellen durchgeführt wurde.
Diese ersten Austreibungswellen waren von unerhörten Massengrausamkeiten begleitet, die den Tod von zehntausenden Sudetendeutschen verursachte. Einer der grauenvollsten dieser „Todesmärsche“ an die Grenze der Tschechoslowakei war wohl der Austreibungszug der Brünner Deutschen über Pohrlitz in Richtung auf Wien. In kürzester Frist, manchmal nur in einem Zeitraum von zehn Minuten, mußten die Ausgewiesenen ihre Wohnungen verlassen, sie durften nur die allernotwendigsten Bekleidungsstücke mitnehmen, von denen ihnen während des Marsches und an der Grenze noch die besten Teile geraubt wurden.
Während des Austreibungsmarsches kam es vielfach zu neuerlichen Ausplünderungen und Gewalttaten. Eine Reihe von Maßnahmen, die zwar den Charakter örtlicher Polizeimaßnahmen trugen, die aber zentral geplant und gelenkt waren, machten in kurzer Zeit das Leben der Sudetendeutschen völlig unerträglich. Schon vor Verkündung der Dekrete des Präsidenten Benes waren die Sudetendeutschen praktisch völlig rechtlos und vogelfrei. Ihre Wohnungen waren, soweit sie sie noch innehatten, der Plünderung anläßlich der behördlich organisierten Hausdurchsuchungen oder auch durch die aus Innerböhmen und Mähren in die sudetendeutschen Gebiete einströmenden tschechischen „Goldgräber“ geöffnet.
Unter dem Vorwand von Razzien nach Waffen oder politischen Persönlichkeiten drangen die PG „Revolucní Garda“, die Polizei SNB „Sbor Národní Bezpecnosti“ und das Militär oder einfache Gruppen tschechischer Plünderer in die Wohnungen ein, mißhandelten vielfach die Inwohner und nahmen mit, was ihnen gefiel. An vielen Orten wurde verfügt, daß die Wohnungen der Deutschen nicht verschlossen gehalten werden durften.
Eine Reihe von Maßnahmen schränkte das Leben der Deutschen auf ein bloßes Vegetieren ein. Sie durften die Straßen nur zu gewissen Zeiten betreten (Sperrstunde), sie mußten weiße Armbinden als Kennzeichnung tragen, sie durften keine öffentlichen Verkehrsmittel (Eisenbahn, Autobus, Straßenbahn) benützen, und sie durften ihren Wohnort nicht verlassen. Das Betreten der Gehsteige war ihnen untersagt, der Briefverkehr war für die Deutschen unterbunden, der Besuch von öffentlichen Lokalen, Kinos und Theatern war ihnen nicht gestattet.
Sie durften nur zu bestimmten Stunden in den Lebensmittelgeschäften einkaufen, ihr Verfügen über alle Arten von Besitz und Vermögenswerten war unzulässig, Gold, Silber, Schmuck und andere Wertsachen, Radios, Fotoapparate und optische Instrumente mußten abgeliefert werden. Es wurden besondere Lebensmittelkarten für die Deutschen ausgegeben, die keine Abschnitte für Fleisch, Butter, Eier, Milch, Käse oder Obst hatten.
Sämtliche deutschen Schulen und Kindergärten wurden geschlossen. Für die Deutschen wurde die allgemeine Arbeitspflicht verkündet, die arbeitsfähige Bevölkerung wurde in manchen Orten durch öffentliche Kundmachung auf bestimmte Plätze zusammengerufen. Anschließend wurden die Versammelten als Arbeitssklaven für die Landwirtschaft, den Bergbau oder die Industrie nach Innerböhmen transportiert. Für die Nichtbefolgung dieser Anordnung wurde die Todesstrafe angedroht.
Für die deutschen Arbeitssklaven im Zwangsarbeitseinsatzes waren Unterbringungen und Verpflegung im Inneren Böhmens meist völlig unzureichend. Es gab keinerlei Form der sozialen Betreuung oder Versicherung für diese „freien“ Arbeiter. Eine der ersten Verfügungen des tschechischen Innenministeriums war die Einrichtung von Konzentrationslagern für Deutsche („Koncentracní tábor“). Die in ihnen verübten Grausamkeiten waren, nach den vorliegenden Berichten von Häftlingen, unbeschreiblich. In vielen Fällen waren die Lebensverhältnisse in diesen nach Kriegsende eingerichteten tschechischen Konzentrationslagern bedeutend schlechter als in Dachau oder Buchenwald. Alle Formen nur denkbarer Bestialitäten wurden in diesen Lagern an deutschen Menschen verübt. Die Insassen der Lager waren zur schwersten Sklavenarbeit verpflichtet, sie wurden im Lager und während der Arbeit oft grausam mißhandelt und gepeinigt.
In der Nacht wurden die Frauen und Mädchen vielfach den Besatzungstruppen zur Vergewaltigung übergeben. Diese Lager waren anfangs jeder hygienischen Vorkehrungen bar, die Baracken wimmelten von Ungeziefer, und die Verpflegung war in der Regel geringer als in den deutschen KZs. In diesen Lagern war ein Großteil der Sudetendeutschen zusammengetrieben und eingesperrt, vielfach ohne jeden Grund, eben nur weil es Deutsche waren, oder weil ein Tscheche das Haus, die Wohnung oder den Betrieb des Deutschen übernehmen wollte.
Einen anschaulichen Bericht über ein solches Lager gab der englische Unterhausabgeordnete R. R. Stokes in einem Artikel im „Manchester Guardian“ im Oktober 1945. Damals waren nach den Angaben von Stokes in der CSR 51 solcher Lager. Stokes beschreibt die Art, wie im Lager Hagibor in Prag am Morgen die Arbeitssklaven ausgewählt und abtransportiert wurden, und er stellt bei der Schilderung der Ernährungsverhältnisse fest, daß der Kaloriensatz unter dem des deutschen Konzentrationslagers Belsen lag.
Noch schlimmer als in den Lagern waren die Verhältnisse in den Gerichtsgefängnissen, wo neben den unmenschlichen Grausamkeiten und Folterungen noch der Umstand sich auswirkte, daß bei einer katastrophalen Überbelegung der Gefängniszellen die Häftlinge keine Bewegungsmöglichkeit hatten und kaum an die frische Luft kamen, sodaß Seuchen und Erkrankungen aller Art die Sterblichkeitsziffern ansteigen ließen. Ein Großteil der Gefängnisinsassen starb auch, wie gewünscht, infolge der völlig unzureichenden Ernährung.
Die gräßlich Dahingequälten können nicht mehr davon zeugen – wohl aber die Davongekommenen. Hineingetrieben in ein zerstörtes Restdeutschland, wo die Menschen mit sich selbst genug zu tun hatten, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, gaben die Sudetendeutschen es bald auf, von ihrem Leid zu erzählen; sie vergruben ihr Wissen tief in ihrem Innern – aber ihre Geschichte ist dennoch nicht verlorengegangen, sie ist, immerhin teilweise, in einem Buch zusammengefasst: „Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen“, dem meine Angaben – nach dem jahrelangen Studium einer Masse ähnlicher Darstellungen – entnommen sind.
Jene Ereignisse, durch welche die Lage in Mitteleuropa herbeigeführt wurde, war das durch die Westalliierten möglich gewordene Eindringen der rot-russischen Einflußsphäre in das Herz Europas. Die Art und Weise, wie die Vernichtung der Sudetendeutschen durchgeführt wurde, die Planung und Organisation dieses Massenverbrechens, stellt einen vollendeten Landraub und Völkermord (Genozid) dar.
Es ist fast drei Monate nach Kriegsende, am 31.07.1945, um 15.31 Uhr explodierte in der Zuckerfabrik von Schönpriesen, einem Stadtteil der in Nordböhmen gelegenen deutschen Stadt Aussig, ein Munitionsdepot. Am Vormittag war ein Zug mit verdächtig aussehenden Gestalten aus Innerböhmen angekommen.
Unmittelbar nach der Explosion begannen Tschechen das Gerücht auszustreuen, daß Deutsche die Explosion verursacht hätten und begannen eine Verfolgung aller Deutschen, die weiße Armbinden trugen. Es waren nicht die einheimischen Tschechen, die sich an den deutschen Mitbürgern vergriffen. Es waren meistens schwarz uniformierte Tschechen mit roten Armbinden (SNB-Leute). Sie warfen Frauen und Kinder, die sich nicht wehren konnten, von der 20 Meter hohen Brücke in die Fluten.
Die berüchtigten „Revolutionsgarden“, Soldaten und junge Armeeangehörige, die erst am Morgen mit einem Zug aus Prag eingetroffen waren, stürmten durch alle Straßen, griffen Deutsche mit brutaler Gewalt an, schlugen sie nieder oder schossen auf sie, wenn sie das Weite suchten. Deutsche, die sich in den Feuerlöschteich im Zentrum der Stadt flüchten, wurden mit Pflastersteinen gesteinigt und mit Stangen unter Wasser getaucht, bis sie starben. Andere wurden durch die Straßen gehetzt und mit Bajonetten aufgespießt.
Hunderte deutscher Arbeiter, die aus den Schichtwerken kamen, wurden in die Elbe geworfen. Frauen und Kinder sowie Kinderwagen stießen die Tschechen in den Strom. Nach 16 Uhr trieben Angehörige der „Svoboda garda“ alle Deutschen aus den umliegenden Häuserblöcken aus ihren Wohnungen und hetzten sie massenweise in den Elbestrom. Man sah Frauen und Kinder in den Wellen verschwinden, auf der Ferdinandshöhe hatten sich tschechische MG-Nester eingegraben, die von dort aus auf die im Strom treibenden Deutschen schossen.
Besonders scharf gingen die Tschechen gegen deutsche Antifaschisten vor, die durch rote Armbinden gezeichnet waren. Die Tschechen erklärten, daß diese Deutschen mit die Hauptschuld an dem Ereignis trügen. Der Grund war, man wollte ausnahmslos alle Deutschen loswerden, auch die Antifaschisten.
Anerkannt muß werden, daß der damalige tschechische Bürgermeister von Aussig, Herr Vondra, mit allen Mitteln versuchte, dem Wüten des zugereisten Mobs Einhalt zu gebieten, er wäre deshalb beinahe ebenfalls in die Elbe geworfen worden. Viele Deutsche wurden in das Lager nach Lerchenfeld getrieben, wo sie unter den kümmerlichsten Verhältnissen leben mußten. Das Lager wurde später nach Schöbritz verlegt. Dort konnte man oft die gelbe Fahne sehen, welche Außenstehende wegen ansteckender Krankheiten vor dem Besuch warnten, und „Vorsicht, Hungertyphus!“ bedeutete.
In Schöbritz starben täglich 300-400 Deutsche an dieser Seuche, ähnlich wie zum Kriegsende im ebenso überbelegten deutschen Lager Bergen-Belsen. Die Massenverfolgung der Deutschen dauerte bis in den späten Abend. Man hörte aus allen Ecken und Straßen Schreie und Weinen. Weder eine Behörde noch die russische Besatzungsmacht schritten gegen diesen Massenmord ein. Zahlreiche Deutsche, die sich aus der Elbe schwimmend gerettet hatten, wurden durch Maschinengewehre beschossen.
In Aussig schätzte man die Gesamtzahl der auf solche Weise ums Leben Gekommenen auf 800 bis Tausend. Am 31.07. ebbten die Verfolgungen ab. Die Deutschen, die sich wieder auf die Straße trauten, mußten die Gehsteige verlassen und wurden, wenn sie das nicht sogleich begriffen, verprügelt. Alle, die weiße Binden trugen, waren von dieser Zeit an jeder Willkür ausgesetzt und wurden wie Freiwild behandelt. Die kommunistische Zeitung „Rude pravo“ schrieb am 02.08.1945: „Raus mit den Deutschen aus unserem Land.“ Tschechische Angaben sprechen heute von weniger als 100 deutschen Opfern, aber etwa diese Anzahl trieb die Elbe hinab auf sächsisches Gebiet; deutsche Quellen gehen von bis zu 2.000 Ermordeten aus.