Vor 2500 Jahren: Die Weisheit der Philosophin Diotima
Donnerstag, 3. Februar 2011 von Adelinde
Die gelehrten Frauen
brauchen ihre Bücher etwa so wie ihre Uhr, nämlich sie zu tragen, damit gesehen werde, daß sie eine haben; ob sie zwar gemeiniglich still steht oder nicht nach der Sonne gestellt ist.“
Auf diese Weise beteiligte sich Immanuel Kant[1] am jahrtausendelangen Krieg gegen das weibliche Geschlecht. Heute lächeln wir über solche Worte, denn wir haben in unserer Lebenszeit die Wiedergeburt weiblicher Weisheit nach ihrem scheinbaren Tod erlebt.
Diese war so unsichtbar geworden, daß große Zweifel darüber entstanden, ob es sie überhaupt jemals gegeben hätte. Wohin wir blickten, überall hatten große Männer das Wort und wurden verehrt.
Aber Sokrates z. B. nennt selbst Diotima von Mantinea und Aspasia von Milet seine hervorragenden Lehrerinnen, d. h. die These, mit Sokrates habe die abendländische Philosophie ihren Anfang genommen, wird durch ihn selbst widerlegt. Vor ihm – und das im Hochpatriarchat, das inzwischen in Griechenland entstanden war! – lehrten Philosophinnen.
Diese hatten allerdings bereits einen schweren Stand. So schreibt Plutarch (46-120 n.d.Zw.) über
Aspasia,
die ja die Frau des berühmten athenischen Staatsmannes Perikles (500-429 v.u.Z.) war:
Die einen behaupten, Perikles habe Aspasia nur wegen ihrer Weisheit und politischen Einsicht umworben.
Und im Brockhaus lesen wir:
Perikles trennte sich von seiner 1. Frau und heiratete Aspasia … Die Komödiendichter verspotteten (sie) als Hetäre. 432 wurde sie wegen Gottlosigkeit und Kuppelei angeklagt.
Vor Gericht gestellt, berichtet Plutarch,
brachte Diopeithes den Antrag vor das Volk, es sei unter Anklage zu stellen, wer nicht an die Götter glaube und sich in wissenschaftlichen Vorträgen mit den Dingen über der Erde befasse.
Hört sich an wie der katholische Antimodernisten-Eid oder das Meinungsdiktat der Antifa und vieler anderer Wahrheits-Inhaber! Verfolgung Andersdenkender und Ungläubiger, Unterdrückung der Meinungsvielfalt und Herabsetzung der Frau bereits im Patriarchat des 5. Jahrhunderts v. u. Z.!
Perikles, der (Aspasia) nach Athener Recht als Vormund vor Gericht vertrat, konnte sie nur mit Mühe retten,
heißt es im Philosophenlexikon von Uwe Wiedemann.
Die andere große Lehrerin des Sokrates, Diotima,
lernen wir in Platons „Symposion“ kennen. In dem Symposion sitzen oder – besser gesagt – lagern einige Männer beieinander und vertreiben sich die Zeit damit, einander in ausführlicher Rede vorzutragen, was sie von dem Gotte Eros halten.
Als die Reihe an Sokrates kommt, gibt dieser ein Gespräch wieder, das er mit seiner Philosophie-Lehrerin Diotima gehabt habe. Wie weit die Wiedergabe Platons von dieser Wiedergabe des Sokrates noch den tatsächlichen Wortlaut der Darlegungen Diotimas enthält, wissen wir nicht, müssen also sowohl Sokrates als auch Platon vertrauen.
Krasse Frauenverachtung im antiken Griechenland
Zunächst sei gesagt, daß in jener Männergesellschaft die Zuneigung zwischen Männern bzw. von Männern zu Knaben höchst anerkannt war. Von Frauen ist bei ihnen kaum die Rede, und wenn, dann erwähnen sie sie in Bezug auf von ihnen weniger hochgeschätzte Liebesbezeugungen.
Einer aus der Runde, Pausanias, sieht solche Liebesverhältnisse zwischen Frauen und Männern als von dem „niederen“ Eros gegeben, der von einer jüngeren Göttin Aphrodite abstamme, die selbst eine Mutter, nämlich Dione, habe. Der „höhere“ Eros stamme von der älteren Aphrodite, die selbst keine Mutter gehabt habe, sondern die „Tochter des Himmels“ sei.
Von dieser himmlischen Göttin sei der Eros zwischen Männern. Diese Aphrodite habe nicht teil am Weiblichen, sondern nur am Männlichen.
Daher wenden sich die von diesem Eros Begeisterten zum Männlichen; denn sie lieben das von der Natur Stärkere und mehr Vernunftbegabte,
meint Pausanias.
In einer so gearteten Runde also gibt Sokrates die Philosophie Diotimas wieder. Sie zeigt zuerst auf, wer oder was Eros ist, und dann sein Wirken, was uns heute nach 2500 Jahren nur in Erstaunen versetzen kann.
Götter und Unwissende streben nicht nach Weisheit
Eros ist nach Diotima kein Gott, sondern ein Verlangen, Sehnen nach dem Schönen und Guten. Es ist das Verlangen nicht von Göttern, denn diese sind glückselig, oder sagen wir es mit einem Beispiel aus der Physik: Edelgase verbinden sich mit nichts mehr, sie sind vollendet. Diotima:
Keiner von den Göttern strebt nach Weisheit noch begehrt er, weise zu werden, ist er’s doch schon. Andererseits streben auch die Unwissenden nicht nach Weisheit noch begehren sie, weise zu werden; denn gerade deshalb ist die Unwissenheit schlimm, weil man, ohne edlen Wesens und ohne einsichtig zu sein, mit sich selbst zufrieden ist; wer demnach nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch nicht, was er nicht zu entbehren glaubt.
Das große Sehnen nach Vollkommenheit
Zwischen diesen beiden Zufriedenen, den Göttern und den Unwissenden, befinden sich die Philosophen, die Freundinnen und Freunde der Weisheit also, die ihre Unvollkommenheit erkennen und den Eros, das große Sehnen nach Vollkommenheit, in sich spüren. Diesen Eros verspüren auch alle Schaffenden;
denn die Ursache dafür, daß irgend etwas aus dem Nichtsein ins Sein tritt, ist allemal ein Schaffen (oder Dichten),
sagt Diotima. Und wie das Wort „Dichten“ nur als Begriff fürs Verseschmieden angewandt werde, obwohl es Begriff für alles Schaffen sein sollte, so werde auch der Begriff „Eros“ nur für einen Teilbereich des Verlangens angewandt, nicht für den ganzen. (Beethoven nannte sich z. B. ganz dementsprechend „Ton-Dichter“.)
Trächtig von Samen sind alle Menschen, Sokrates, an Leib und Seele, und wenn sie in das bestimmte Alter gekommen sind, dann begehrt unsere Natur, etwas hervorzubringen; doch in Häßlichem kann sie nichts hervorbringen, wohl aber in Schönem.
Denn die Verbindung von Mann und Frau ist Fortpflanzung; das ist etwas Göttliches, und es ist das Unsterbliche in dem sonst sterblichen Wesen, das Trächtigsein und die Zeugung. Das kann aber in dem Unharmonischen nicht geschehen; und unharmonisch ist das Häßliche gegenüber allem Göttlichen, aber das Schöne harmoniert.
Schicksalsmacht und Geburtshelferin ist also die Schönheit für das Werden aus folgendem Grunde: Wenn das von Samen Trächtige sich dem Schönen nähert, wird es froh und zerfließt vor Lust und pflanzt sich durch die Zeugung fort; wenn es sich aber Häßlichem nähert, so verdüstert es sich und zieht sich betrübt zusammen, wendet sich ab und weicht in sich zurück, und es zeugt nicht, sondern trägt seine Fülle weiter als schwere Last …
Ein ewig Werdendes und Unsterbliches (ist) mit der Zeugung gegeben. Unsterblichkeit aber … muß man mit dem Guten begehren, wenn wirklich der Eros darauf gerichtet ist, daß man das Gute immer hat. Notwendig ergibt sich ja aus diesem Satz, daß auch der Unsterblichkeit der Eros gilt.
Die erstrebte Vollendung geschieht also nur in Schönheit. Und nur dann beglückt sie. Zum Wesen der Vollkommenheit gehört Schönheit.
Was versteht Diotima unter Unsterblichkeit?
Sie setzt sich zunächst mit dem Sterblichen auseinander.
Das erhalte sich
nicht dadurch, daß es immer völlig dasselbe bleibt wie das Göttliche, sondern dadurch, daß das Entschwindende und Alternde ein Anderes, Junges von der gleichen Art hinterläßt, wie es selber war.
Sie erklärt das an der Veränderung der Persönlichkeit eines Mannes z.B. im Laufe seiner Lebenszeit:
Man gibt ihm stets den gleichen Namen, obwohl er niemals die gleichen Bestandteile in sich hat, aber wird als derselbe bezeichnet, während er sich immerfort erneuert und anderes einbüßt, an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und so am ganzen Körper.
Und nicht etwa nur am Körper, sondern auch bei der Seele: die Neigungen, Charakterzüge, Meinungen, Begierden, Freuden, Leiden, Ängste, all das bleibt nicht wie bei einem Menschen gleich, sondern das eine entsteht, das andere vergeht.
So gehe es auch mit unseren Kenntnissen. Auch sie sind sterblich. Sie entstehen und gehen uns teils wieder verloren. Durch das Erinnern holen wir sie wieder ins Bewußtsein, aber sie sind nicht mehr dieselben, sie haben sich verändert.
Die Stufen zur Vollendung
Der Mensch müsse
die in der Seele wohnende Schönheit höher werten als die Körper …, auf das Schöne in Tätigkeiten und Gesetzen … schauen und dabei wahrnehmen, daß all dies miteinander verwandt ist.
Und nach den Tätigkeiten muß man ihn zu den Wissenschaften führen, damit er auch deren Schönheit sieht und, schon im Hinblick auf diese Fülle des Schönen, nicht mehr die Einzelschönheit bei einem unreifen Knaben …, bei irgendeinem Menschen oder bei einer einzelnen Tätigkeit, und dadurch minderwertig und kleinlich wird, sondern auf das weite Meer des Schönen sich wende und in seiner Betrachtung viele schöne und erhabene Reden und Gedanken erzeuge in unerschöpflichem Weisheitsstreben – bis er dann, hierin gekräftigt und erstarkt, eine einzige Erkenntnis von solcher Art schaut, die sich auf ein Schönes bezieht … ein Schönes, das erstens immer ist, weder entsteht noch vergeht, weder wächst noch schwindet …
Wenn also jemand … jenes Schöne zu schauen beginnt, dann berührt er wohl fast schon das Ziel. Denn das heißt den rechten Weg zur Welt des Eros gehen oder sich von einem anderen führen lassen, daß man, von diesem irdischen Schönen beginnend, um jenes Schönen willen immer weiter aufsteigt, wie auf Stufen,
- von einem zu zwei und
- von zwei zu allen schönen Körpern, und
- von den schönen Körpern zu den schönen Tätigkeiten und
- von den Tätigkeiten zu den schönen Erkenntnissen, und daß man
- von den Erkenntnissen zu jener Erkenntnis endlich gelangt, die nichts anderem gilt als jenem Schönen an sich, damit man dann schließlich erfahre, was das Schöne selbst ist.
Auf dieser Stufe des Lebens, lieber Sokrates, … lohnt sich, wenn irgendwo, das Leben für den Menschen, im Anschauen des eigentlichen Schönen.
Ganz offensichtlich beschreibt Diotima hier die Teilhabe der Seele am Absoluten, am Göttlichen, wenn sie auch noch weiter ausführt, dies sei
sonnenklar, rein, unvermischt, frei von .. dem … sterblichen Tand,
und an Sokrates die Frage stellt:
Glaubst du, das Leben eines Menschen könnte niedrig werden, der dorthin blickt und jenes Eine mit dem dafür nötigen Sinn betrachtet und bei ihm ist?
Diese Freundin der Weisheit, die Philosophin Diotima, erkennt also bereits vor 2500 Jahren den Sinn der menschlichen Unvollkommenheit, die es zuläßt, daß in der menschlichen Seele der „Eros“ erwacht, das große Sehnen nach der Vereinigung mit dem Schönen und Guten, mit dem Göttlichen.
Sie erkennt aber auch, daß in den „Unwissenden“ dieses Sehnen tief schläft und somit eine solche Menschenseele in der Unvollkommenheit, in dumpfer Unempfindlichkeit für göttliche Schönheit und Güte stecken bleiben läßt.
Das Sehnen nach Teilhabe am Absoluten ist zugleich das Sehnen nach dem Bleibenden, Ewigen.
Verweile doch, du bist so schön
möchte Goethes Faust den schönen Augenblick, den er ersehnt, auffordern können. Solches Sehnen schmerzt zuweilen. Er geht wie der Geburtsschmerz der Schaffung neuen Lebens voraus.
Welche Weisheit erfahren wir von Diotima, der frühen Philosophin! Doch
Sokrates führt uns ernüchternd in die Endlichkeit zurück,
indem er seiner Männerrunde abschließend erklärt:
… und jetzt und immerdar preise ich die Macht und Männlichkeit des Eros.
Hatte er Diotima wirklich folgen können? In seiner Wiedergabe seines Gesprächs mit Diotima hatte er immer wieder Worte eingeflochten, die sein Aufblicken zu dieser Lehrerin bezeugen wie:
Dann würde ich gewiß nicht dich, Diotima, um deine Weisheit bewundern und zu dir in die Schule gehen, um gerade dies zu lernen.
Oder:
Aber deswegen, Diotima, komme ich ja … zu dir, weil ich einsah, daß ich Lehrer brauche.
Oder:
Und als ich ihre Rede gehört hatte, staunte ich und sagte: Nun ja, weiseste Diotima, ist das wirklich so?
[1] Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 1798, in: Kants gesammelten Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band VII, Berlin: Reimer 1907, S. 303-311
Ich freue mich, dass Adelinde unsere Aufmerksamkeit auf dieses grosse Zeugnis philosophischen Denkens lenkt.
Es ist immer wieder schön mitzuerleben, was philosophische Weisheit der Antike uns heute noch zu geben vermag. Und man versteht, weshalb Friedrich Hölderlin seine Geliebte Susette Gontard „Diotima“ nannte.
Nicht wer das Objekt, sondern das Prinzip dahinter erkennt, dessen Universalität versteht und schließlich zur Erkenntnis des (einen vollkommenen) Wesens (der Vollkommenheit) gelangt (und – danach handelt – vollendet seinen Daseinszweck). Das ist „den rechten Weg zur Welt des Eros (zu) gehen“. Und weil Verlangen (Eros) zur Erkenntnis führt preist Sokrates es zu Recht, weil es den Weg zur Vollkommenheit (der Erkenntnis) aus der Verhaftung (des Erkennens) in der Endlichkeit weist. Er hat Diotima sehr gut verstanden. Im Islam nennen wir dieses Prinzip „ma’arij“ – nicht einfach Himmelsleiter, sondern Aufstieg und (im Bemühen um Erkenntnis) Weiterentwicklung.
Total überwältigt von Diotimas Weisheit, die vor 2500 Jahre schon vertrat, was Omkarananda uns lehrte. Liebe Grüße Vijaya Sundarananda und Saraswati Shakti