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Staatslehre bei Schiller

Zu seinem 250. Geburtstag am 10. November 2009

Ludovike Simanowiz: Friedrich Schiller (1794)

Ludovike Simanowiz: Friedrich Schiller (1794)

In Zeiten, in denen Notstände die Menschen am bestehenden Staatssystem zweifeln oder gar verzweifeln lassen, fehlt es nicht an Gedanken und Vorschlägen zu Veränderungen. Wieviel Zwang, wieviel Freiheit braucht ein gerechtes System, wieviel Nationalgefühl, wieviel Weltoffenheit?

Dies zu ergründen und anschaulich vor Augen zu führen, war auch stets Friedrich Schillers Anliegen, u. a. in seiner Vorlesung über

„Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“

Man staunt, wie aktuell Schillers Betrachtungen zu den beiden unterschiedlichen Arten demokratischer Staatsform in Sparta (Lykurgus) bzw. Athen (Solon) noch heute sind.  Am Beispiel

Sparta

zeigt Schiller anschaulich die Entwicklung zu einem totalitären Staat: Der Staatsrechtler Lykurgus – so Schiller – fand Sparta in einem Zustand vor, in dem jeder der damaligen beiden Könige

durch Bewilligung großer Freiheiten das Volk zu bestechen (suchte), und diese Bewilligungen führten das Volk zur Frechheit und endlich zum Aufruhr … der Staat … ging mit schnellem Wechsel von einem Extrem auf das andre über.

Von innerer Zwietracht zerrissen, mußte der schwache Staat die Beute seiner kriegrischen Nachbarn werden oder in mehrere kleinere Tyrannien zerfallen.

Lycurgus

Lycurgus

Lykurgus sah, daß Tyrannen- sowie Volksmacht durch kein gesetztes Recht begrenzt waren, und erkannte als Hauptübel die

ungleiche Austeilung der Glücksgüter unter den Bürgern, Mangel an Gemeingeist und Eintracht und eine gänzliche politische Entkräftung …

Hier wollte er mit seiner neuen Gesetzgebung ansetzen. Zwischen

königlicher Tyrannei und anarchischer Demokratie

legte er als dritte Macht einen Senat, der nach beiden Seiten schlichtend wirken sollte, der indes alsbald

selbst seine Macht mißbrauchte … welches umso mehr gelang, da die geringe Anzahl der Senatoren es ihnen leicht machte, sich miteinander einzuverstehen.

Das kennen wir doch auch heute, die Absprachen in den Hinterzimmern – national und international. – Die zweite Anordnung Lykurks war,

das ganze Land in gleichen Teilen unter den Bürgern zu verteilen und den Unterschied zwischen Reichen und Armen auf immerdar aufzuheben.

Begeistert soll er nach Ausführung der Anordnung ausgerufen haben:

Ganz Lakonien gleicht einem Acker, den Brüder brüderlich unter sich teilten.

Davon derart angetan, wollte er nun drittens die Gleichheit auch beim Besitz der beweglichen Güter erreichen, damit Neid und Habsucht ein Ende hätten: Er verpönte jeglichen Luxus und dachte sich ein eigenartiges Geldsystem aus (mit welchem die Finanzhyänen unserer Tage ziemlich alt aussähen): Lykurgus

fing damit an, alle goldnen und silbernen Münzen zu verbieten und an ihrer Statt eiserne einzuführen. Zugleich gab er einem großen und schweren Stück Eisen einen sehr geringen Wert, daß man einen großen Raum brauchte, um eine kleine Geldsumme aufzubewahren, und viele Pferde, um sie fortzuschaffen. Ja, damit man nicht einmal versucht werden möchte, dieses Geld des Eisens wegen zu schätzen und zusammenzuscharren, so ließ er das Eisen, welches dazu genommen wurde, vorher glühend in Essig löschen und härten, wodurch es zu jedem andern Gebrauche untüchtig wurde.

Wer sollte nun stehlen oder sich bestechen lassen oder Reichtümer aufzuhäufen trachten, da der kleine Gewinn weder verhehlt noch genutzt werden konnte?

Doch welche Auswirkungen hatte das auf die Lebensart der Spartaner?

Spartas eiserne Münze konnte kein fremder Kaufmann brauchen, und eine andre hatten sie ihm nicht zu geben. Alle Künstler, die für den Luxus arbeiteten, verschwanden jetzt aus Lakonien, kein auswärtiges Schiff erschien mehr in seinen Häfen …

Spartanischer Hoplit (Wiki)

Spartanischer Hoplit (Wiki)

Das Land blieb „ausländerfrei“ – abgesehen von den Sklaven. Dem Volk wurde der Individualismus aberzogen, sein Sinnen und Trachten richtete sich ausschließlich auf das Funktionieren des Staates.

Alles, was Menschenseelen fesselt und Leidenschaften entzündet, alles außer dem politischen Interesse hatte er (Lykurgus) durch seine Gesetzgebung entfernt. Reichtum und Wollüste, Wissenschaft und Kunst hatten keinen Zugang zu den Gemütern der Spartaner …

Durch die tiefe Unwissenheit in Kunst und Wissenschaft, welche alle Köpfe in Sparta auf gleiche Art verfinsterte, verwahrte er es vor Eingriffen, die ein erleuchteter Geist in die Verfassung getan haben würde; eben diese Unwissenheit, mit dem rauhen Nationaltrotz verbunden, der jedem Spartaner eigentümlich war, stand ihrer Vermischung mit andern griechischen Völkern unaufhörlich im Wege.

Dem

Staat als Selbstzweck

wurde alles untergeordnet. Die Maschine sollte laufen um ihrer selbst willen. Da konnte es nicht ausbleiben, daß Verbrechen gegen die Menschenrechte das Leben des Volkes überwucherten:

  • Das Neugeborene wurde von den Ältesten auf Kraft und Gesundheit geprüft. Fiel es durch, wurde es weggeworfen. Bestand es die Prüfung, wurde es einer Wärterin übergeben.

Die spartanischen Wärterinnen wurden wegen der harten Erziehung, die sie den Kindern gaben, in ganz Griechenland berühmt und in entfernte Länder berufen.

  • Das alleinige Augenmerk galt der körperlichen Ertüchtigung: der jungen Männer für den Krieg, der jungen Frauen als zukünftige Gebärerinnen. Um die Anhänglichkeit an den Staat zu fördern, fand Lykurgus

für gut und notwendig, seinen Mitbürgern auch die Geschäfte des gewöhnlichen Lebens zu ersparen und diese durch Fremdlinge verrichten zu lassen, damit auch nicht einmal die Sorge der Arbeit oder die Freude an häuslichen Geschäften ihren Geist von dem Interesse des Vaterlands abzöge.

  • Wenn die Kinder sich sattessen wollten,

so mußten sie die Lebensmittel dazu stehlen, und wer sich ertappen ließ, hatte eine harte Züchtigung und Schande zu erwarten. Lykurgus wählte dieses Mittel, um sie frühe an List und Ränke zu gewöhnen, Eigenschaften, die er für den kriegrischen Zweck, zu dem er sie bildete, ebenso wichtig glaubte als Leibesstärke und Mut.

Im Vordergrund die Reste Spartas (Wikipedia)

Reste des antiken Sparta, im Hintergrund die moderne Stadt und die Ausläufer des Taygetos (Wikipedia)

Schiller resümiert:

Wir haben … gesehen, wie wenig gewissenhaft Lykurgus im Betreff der Sittlichkeit war, wenn es darauf ankam, seinen politischen Zweck zu verfolgen.

Lykurgus, ein früher Machiavellist! Der Zweck – hier die Staatsmächtigkeit – heiligt die Mittel!

  • Die Sklaven, die als Fremdlinge die Arbeit für die Einheimischen zu verrichten hatten, wurden in Sparta

dem Vieh gleich erachtet … Man nennt sie Heloten, weil die ersten Sklaven der Spartaner Einwohner der Stadt Helos in Lakonien gewesen, die sie bekriegt und zu Gefangenen gemacht hatten. Von diesen Heloten führten nachher alle spartanischen Sklaven, die sie in ihren Kriegen erbeuteten, den Namen.

Abscheulich war der Gebrauch, den man in Sparta von diesen unglücklichen Menschen machte. Man betrachtete sie als ein Geräte, von dem man zu politischen Absichten, wie man wollte, Gebrauch machen könnte, und die Menschheit wurde auf eine wirklich empörende Art in ihnen verspottet …

Man gebrauchte sie zu einer noch weit unmenschlichern Absicht. Es war dem Staat darum zu tun, den Mut seiner kühnsten Jünglinge auf schwere Proben zu setzen und sie durch blutige Vorspiele zum Kriege vorzubereiten. Der Senat schickte also zu gewissen Zeiten eine Anzahl dieser Jünglinge auf das Land; nichts als ein Dolch und etwas Speise wurde ihnen auf die Reise mitgegeben. Am Tage war ihnen auferlegt, sich verborgen zu halten; bei Nachtzeit aber zogen sie auf die Straßen und schlugen die Heloten tot, die ihnen in die Hände fielen …

So viel ist übrigens gewiß und in Griechenland zum Sprüchwort geworden, daß die spartanischen Sklaven die unglückseligsten aller andern Sklaven, so wie die spartanischen freien Bürger die freiesten aller Bürger gewesen.

Und das, obwohl ihre Freiheit, die individuelle Persönlichkeit zu entfalten, durch die Gleichschaltung beschränkt war.

Schiller_Stahlstich_Graphik__500x685_Schiller zieht Bilanz:

Diese bewundrungswürdige Verfassung ist im höchsten Grade verwerflich, und nichts Traurigers könnte der Menschheit begegnen, als wenn alle Staaten nach diesem Muster wären gegründet worden.

Schiller wäre nicht der Philosoph der Freiheit, wenn er nicht erkennen würde:

Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein andrer als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung.

Hindert eine Staatsverfassung, daß alle Kräfte, die im Menschen liegen, sich entwickeln, hindert sie die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht und in ihrer Art noch so vollkommen sein. Ihre Dauerhaftigkeit selbst gereicht ihr alsdann viel mehr zum Vorwurf als zum Ruhme – sie ist dann nur ein verlängertes Übel; je länger sie Bestand hat, umso schädlicher ist sie.

Ein solches Übel erlebten z. B. im vorigen Jahrhundert die Deutschen in der „Deutschen Demokratischen Republik“. Je länger das Übel dauerte, desto mehr hatten Millionen Bürgerinnen und Bürger „ihren“ Staat satt und beendigten schließlich selbst dessen Dasein.

Denken wir an die Bespitzelungen, Denunziationen, die Einkerkerungen, den staatlichen Kinderraub, den Schießbefehlt – alles um des Zweckes willen, den „sozialistischen“ Staat zu perfektionieren und zu erhalten, so kommen uns die Worte Schillers hochaktuell vor:

Die ganze Moralität wurde preisgegeben, um etwas zu erhalten, das doch nur als ein Mittel zu dieser Moralität einen Wert haben kann.

Wie die Staaten des Ostblocks sich

auf den Ruin der Sittlichkeit

gründeten, so auch der Staat Lykurks. Wie den Ostblock-Staaten erging es Sparta. Es wurde von der Außenwelt abgeschlossen:

Dadurch wurden alle Kanäle gesperrt, wodurch seiner Nation helle Begriffe zufließen konnten, in einer ewigen Einförmigkeit, in einem traurigen Egoismus sollte sich der spartanische Staat ewig nur um sich selbst bewegen.

Ganz anders das weltoffene

Athen

unter der Gesetzgebung Solons!

Solon

Solon (Wiki)

Solon fand in Athen kapitalistische Verhältnisse der schlimmsten Sorte vor – nicht unähnlich den kapitalistischen Verhältnissen unserer Tage:

Eine Klasse des Volks besaß alles, die andre hingegen garnichts; die Reichen unterdrückten und plünderten aufs unbarmherzigste die Armen. Es entstand eine unermeßliche Scheidewand zwischen beiden.

Die Not zwang die ärmern Bürger, zu den Reichen ihre Zuflucht zu nehmen, zu eben den Blutigeln, die sie ausgesogen hatten; aber sie fanden nur eine grausame Hülfe bei diesen.

Für die Summen die sie aufnahmen, mußten sie ungeheure Zinsen zahlen und, wenn sie nicht Termin hielten, ihre Ländereien selbst an die Gläubiger abtreten. Nachdem sie nichts mehr zu geben hatten und doch leben mußten, waren sie dahin gebracht, ihre eigene Kinder als Sklaven zu verkaufen, und endlich, als auch diese Zuflucht erschöpft war, borgten sie auf ihren eigenen Leib und mußten sich gefallen lassen, von ihren Kreditoren als Sklaven verkauft zu werden.

Gegen diesen abscheulichen Menschenhandel war noch kein Gesetz in Attika gegeben, und nichts hielt die grausame Habsucht der reichen Bürger in Schranken.

Solon suchte nun nach einer besseren Staatsform. Bei seinem hohen Ansehen im Volk lag der Wunsch nahe, ihn zum Herrscher zu machen. Doch Solon

verschmähte diesen Rat: die Monarchie, sagte er, sei ein schöner Wohnplatz, aber er habe keinen Ausgang.

Er machte sich – wenn als Dichter auch ungern – ans Gesetzeswerk:

Das erste … war das berühmte Edikt Seisachtheia oder Erledigung genannt, wodurch alle Schulden aufgehoben und zugleich verboten wurde, daß künftig keiner dem andern auf seinen Leib etwas leihen durfte. Dieses Edikt war allerdings ein gewaltsamer Angriff auf das Eigentum (der Reichen, Anm. Adelinde), aber die höchste Not des Staats machte einen gewaltsamen Schritt notwendig. Er war unter zwei Übeln das kleinere, denn die Klasse des Volks, welche dadurch litt, war weit geringer als die, welche dadurch glücklich wurde.

Welch aktueller Vorschlag auch für die heutigen hochverschuldeten Staaten. Ein Edikt, ein Federstrich, streicht die Schulden – die milliardenschwere Hochfinanz schreit auf, aber die Völker atmen wieder durch, mit der Maßgabe, aus Schaden nun endlich klug zu werden und in Zukunft es zu unterlassen, über die Verhältnisse zu leben und für geliehenes Geld Zinsen zahlen zu müssen an die, „die da haben“, wie es so schön in Luk. 19 heißt.

Doch Dank erntete Solon weder von Seiten der Armen noch von Seiten der Reichen. Jeder denkt an sich, aber nicht ans Ganze:

Die Armen hatten auf eine völlig gleiche Länderteilung gerechnet, davon in Sparta das Beispiel gegeben war, und murrten deswegen gegen ihn, daß er ihre Erwartung hintergangen hätte. Sie vergaßen, daß der Gesetzgeber den Reichen ebenso gut als den Armen Gerechtigkeit schuldig sei und daß die Anordnung des Lykurgus eben darum nicht nachahmungswürdig sei, weil sie sich auf eine Unbilligkeit gründete, die zu vermeiden gewesen wäre.

Es gab also Schuldenerlaß, aber keine Enteignungen wie z. B. im Kommunismus. Sodann führte Solon die Nationalversammlung, die Ecclesia, ein, vergleichbar unseren Parlamenten. Vor sie

wurden alle große Angelegenheiten gebracht und durch dieselbe entschieden; die Wahl der Obrigkeiten, die Besetzung der Ämter, wichtige Rechtshändel, Finanzangelegenheiten, Krieg und Frieden.

Schiller betont:

Vor dem dreißigsten Jahr hatte niemand Zutritt zur Nationalversammlung; aber sobald einer das erfoderliche Alter hatte, so konnte er ungestraft nicht mehr wegbleiben, denn Solon haßte und bekämpfte nichts so sehr als Lauigkeit gegen das gemeine Wesen.

School_of_Athens_medium

Dies galt zwar nur für die Männer – Frauen galten auch im Athen Solons den Kindern und ausländischen Sklaven gleich als „Nicht-Bürger“, „Nicht-Dazugehörige“ -, ist aber im Grundsatz zu begrüßen. Bei aller individuellen Freiheit, die im Rechtstaat Solons gefördert wurde, war dennoch das Mitdenken und -handeln für das Gemeinwesen gefordert. Schiller faßt zusammen:

Athens Verfassung war auf diese Art in eine vollkommene Demokratie verwandelt; im strengsten Verstande war das Volk souverän und nicht bloß durch Repräsentanten herrschte es, sondern in eigner Person und durch sich selbst.

Doch das ging nicht lange gut. Die Volksmenge bei den Versammlungen war zu riesig, als daß ein geordnetes Arbeiten möglich gewesen wäre.

Diesem Übel zu begegnen, schuf Solon einen Senat …

Athen Acropolis (Wikipedia)

Athen Akropolis (Wikipedia)

Die repräsentative Demokratie war – aus Notwendigkeit – geboren! Nun zeigte sich eine neue Schwierigkeit: die Redner, die mit ihrer Rhetorik die Menschenmassen nach eigenem Geschmack und Interesse zu beeinflussen wußten.

Diese Menschenklasse hat … durch den Mißbrauch, den sie von ihrer Kunst und dem leicht beweglichen Sinn der Athenienser machte, der Republik ebensoviel geschadet, als sie ihr hätte nützen können, wenn sie, von Privatabsichten rein, das wahre Interesse des Staats immer vor Augen gehabt hätte …

Durch diese Redner wurde dem Volk eine sanfte und erlaubte Fessel angelegt. Sie herrschten durch Überredung, und ihre Herrschaft war darum nicht weniger groß, weil sie der freien Wahl etwas übrig ließ. Das Volk behielt völlige Freiheit, zu wählen und zu verwerfen, aber durch die Kunst, womit man ihm die Dinge vorzulegen wußte, lenkte man diese Freiheit.

Als beschriebe Schiller unsere heutigen Verhältnisse, bei denen allerdings die Massenmedien die Wirkung solcher „Redner“ tausendfach verstärken! Man sieht: Die Menschen haben sich in den 2500 Jahren nicht geändert. Vollkommen gute Verhältnisse sind offenbar nicht hinzukriegen.

Solon schuf nun viele Gesetze, die einen menschlich guten Umgang des Volkes miteinander förderten:

  • Für ehrlos galt jemand, der sich bei einem bürgerlichen Aufruhr neutral verhält. Damit wollte Solon die Bürger zum Mitdenken in Staatsangelegenheiten anhalten.
  • Über Tote übel zu reden, war verboten.
  • Lebenden an öffentlichen Orten Böses nachzusagen, war verboten.
  • Ein „Bastard“ wurde seiner „kindlichen Pflichten“ entledigt. Der Vater habe sich schließlich „durch die genossene sinnliche Lust bezahlt gemacht“. Ebenso brauchte ein Sohn, den der Vater „keine Kunst hätte lernen lassen“, den Vater nicht zu ernähren.
  • Testamente waren erlaubt, die Nichtverwandte berücksichtigten. „Denn Freunde, die man sich wählt, sagte er, sind mehr wert als bloße Verwandte.“
  • „Die Aussteuer schaffte er ab, weil er wollte, daß die Liebe und nicht der Eigennutz Ehen stiftete.“
  • „Strenge Gesetze wachten über die Sitten des Frauenzimmers, über den Umgang beider Geschlechter und die Heiligkeit der Ehen.“
  • „… der mißhandelte Knecht durfte seinen Tyrannen verklagen.“
  • „… nach vollendetem Bau des Tempels Hekatonpedon wurde verordnet, alle Lasttiere, welche dabei geschäftig gewesen, freizulassen und auf ihr ganzes künftiges Leben auf den besten Weiden umsonst zu ernähren.“

Schön auch Schillers Auflistung der solonschen Sprachregelungen, die den Unmut über Unangenehmes zu besänftigen geeignet waren:

  • „Abgaben hießen Beiträge,
  • Besatzungen Wächter der Stadt,
  • Gefängnisse Gemächer
  • und die Schuldenvernichtung nannte er Erleichterung.“
(Mourning woman BM C303 Wikipedia)

Athen: Terrakottastatue einer trauernden jungen Frau (Mourning woman BM C303 Wikipedia)

Solons Gesetze beinhalteten also die Rechte der Tiere, der Kinder, der Sklaven, der Männer, Rechte, um die in späteren Jahrtausenden erst wieder gerungen werden mußte. Von Frauenrechten indes hört man nichts.

Solon sah seine Gesetze jedoch nicht für unübertrefflich und für die Ewigkeit geeignet an:

Diese Gesetze … sollten nur auf 100 Jahre gültig sein – wieviel weiter sah er als Lykurgus! Er begriff, daß Gesetze nur Dienerinnen der Bildung sind, daß Nationen in ihrem männlichen Alter eine andere Führung nötig haben als in ihrer Kindheit.

Lykurg verewigte die Geistes-Kindheit der Spartaner, um dadurch seine Gesetze bei ihnen zu verewigen, aber sein Staat ist verschwunden mit seinen Gesetzen. Solon hingegen versprach den seinigen nur eine hundertjährige Dauer, und noch heutigestages sind viele derselben im römischen Gesetzbuche in Kraft. Die Zeit ist eine gerechte Richterin aller Verdienste.

Wie über Solons Verordnungen ließe sich auch über Schillers Auffassung von Kindheit und Erwachsenenalter von Nationen trefflich streiten. Wir haben im 20. Jahrhundert erlebt, wie Nationen in alte Fehler zurückgefallen sind. Einen linearen moralischen Fortschritt der Menschheit gibt es nicht. Den Menschen ist in jedem individuellen Leben die Freiheit der Wahl zwischen Moral und Unmoral gegeben, und so gilt es, sich von Tag zu Tag, von Ort zu Ort für den Erhalt freiheitlicher Errungenschaften einzusetzen, wenn sie nicht wieder verloren gehen sollen.

Unterm Strich

kann Schiller vermerken:

Die Übel, welche von einer Demokratie unzertrennlich sind …, konnten freilich in Athen nicht vermieden werden – aber diese Übel sind doch weit mehr der Form, die er (Solon) wählte, als dem Wesen der Demokratie zuzuschreiben. Es fehlte darin sehr, daß er das Volk nicht durch Repräsentanten, sondern in Person entscheiden ließ, welches wegen der starken Menschenmenge nicht ohne Verwirrung und Tumult und wegen der überlegenen Anzahl der unbemittelten Bürger nicht immer ohne Bestechung abgehen konnte …

Alle große Versammlungen haben immer eine gewisse Gesetzlosigkeit in ihrem Gefolge, – alle kleinen aber haben Mühe, sich von aristokratischem Despotismus ganz rein zu erhalten. Zwischen beiden eine glückliche Mitte zu treffen, ist das schwerste Problem, das die kommenden Jahrhunderte erst auflösen sollen.

Im heutigen Deutschland wird ja auch die Diskussion um die hier eingerichtete repräsentative Demokratie geführt und nach dem Recht auf Volksentscheide gerufen. Jede Form hat Vor- und Nachteile. Es ist die Moralität aller Einzelnen, die ein System gelingen oder mißlingen läßt. Auch das haben die Erfahrungen der letzten 140 Jahre gezeigt.

Schiller, der Dichter des Ideals freien Menschentums, betont

das Grundprinzipium, worauf alle Staaten ruhen müssen …: sich selbst die Gesetze zu geben, denen man gehorchen soll, und die Pflichten des Bürgers aus Einsicht und aus Liebe zum Vaterland, nicht aus sklavischer Furcht vor der Strafe, nicht aus blinder und schlaffer Ergebung in den Willen eines Obern zu erfüllen.

Was die muslimische Welt am „Westen“ bemängelt, ist genau das, was Schiller an Solons athenischer Demokratie, die den „westlichen“ Demokratien in vielem ähnelt, lobt:

Seine Gesetze waren laxe Bänder, an denen sich der Geist der Bürger frei und leicht nach allen Richtungen bewegte und nie empfand, daß sie ihn lenkten; die Gesetze des Lykurgus waren eiserne Fesseln, an denen der kühne Mut sich wund rieb, die durch ihr drückendes Gewicht den Geist niederzogen.

Schillers 250. Geburtstag jährt sich einen Tag nach dem 20. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin. Grund genug, gerade seine Vorlesung über die Demokratien antiker Gesetzgeber zu lesen, was ich als besonderen Genuß nur empfehlen kann, gerade im Hinblick auf unsere deutschen Erfahrungen des eben erst vergangenen 20. Jahrhunderts.

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Mithus
Mithus
15 Jahre zuvor

Ein sehr gelungener Beitrag, vor allem vortrefflich ist es, die Staatsführungskunst des Solon aus dem Vergessen zu reißen.

Vor drei Jahren hatte ich den Parteiführungen in Berlin geraten, sich mit Solon zu beschäftigen, damit etwas Beispielhaftes bei den notwendigen Reformbestrebungen herauskäme. In diesem Zusammenhang war wichtig, darauf hinzuweisen, dass es Solon schaffte (immerhin als begüterter, begünstigter Adeliger des damals maroden Systems), sich gegen die Reichen und die eigene Schicht erfolgreich durchzusetzen.

Das müßte heute auch möglich sein unter dem Gesichtspunkt der Abwägung zwischen Freiheit und Gleichheit im christlichen Verständnis, das ja alle Politiker im Munde führen (So wahr Gott helfe!). Aber beten wir noch den Gott eines Jesu an oder nicht vielmehr das „Goldene Kalb“, das heute „Neoliberalismus“ heißt?

Gleichheit setzt begrenzten Zwang voraus, der gegen die individualistische menschliche Neigung gerichtet ist. Aber auch die Freiheit bedarf der Eingrenzung. Über beidem steht der Gemeinsinn für das Gemeinwohl, auch Solidarität genannt.

Unser angeblich so christliches Abendland verdrängt auf der politischen Ebene mehr und mehr diesen Sinn für das Gemeinwohl und höhlt es mit zweckgerichteten Freiheiten zugunsten des Kapitals aus. Freiheit in diesem Sinne schafft kein Wachstum des Gemeinwohls – das ist purer Aberglaube und Ideologie -, sondern nur Wachstum auf Seiten der ohnehin schon Reichen. Die Freiheit besteht im Renditemachen ohne moralische Eingrenzung. Die statistische Gegenwart beweist dies: die Mittelschicht wird ärmer, die Armen noch verarmter, der Miiilionäre kleine Zahl immer größer.

Ein Blick auf die mathematischen Kurven der Gesamtsteuerbelastung und Grenzsteuerbelastung (Grundtarif) zeigt das eindrücklich: In beiden Kurven ist die Progression im Bereich der untersten Lohneinkommen (etwa bis 20.000 € zu versteuerndes Einkommen) deutlich höher und belastender als in höheren Einkommensbereichen. Schließlich fällt gar keine Progression mehr an (s. Internet unter: Grafische Darstellung der Einkommenssteuer unter: http://www.parmentier.de/steuer/diagramm.htm).

Dem Gemeinwohl und der Gerechtigkeit in der jetzigen Krisensituation wäre es dienlicher, wenn es prinzipiell umgekehrt zuginge. Die Progression müßte mit dem Einkommen ansteigen und nicht sinken, die Deckelung (jetzt bei 42%, FDP will nach 35%) erst bei einem weit höheren Einkommen als heute eintreten.

Wir hätten dann auf diesem Gebiet den aus der Bergpredigt auch schon herzuleitenden Solidaritätsgrundsatz weitaus besser umgesetzt: Die starken Schultern nehmen die Schwachen mit. Das gilt auch dann noch, wenn schon heute die Armen nur mit 20% am Steuereinkommen aus Lohnbesteuerung herangezogen werden. Das Gleiche gilt im Kranken- und Pflegeversicherungswesen mit der Kopfpauschale. Der Solidaritätsgedanke wird hier gerade ausgehebelt.

Feines christliches Abendland. Da war die Idee der germanischen Munt im Mittelalter und davor schon fortschrittlicher!

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[…] dachte 2500 Jahre vor ihm Likurgus, als er mit seinen Gesetzen Sparta formte, wie Schiller so eindrucksvoll die Erstarrung im immer Gleichen schildert, das der Kultur […]

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