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Der Historiker

Gerhard Bracke

fährt fort, tief in die Antriebskräfte zu leuchten, die zum 2. Weltkrieg führten.

Polen

Lord Halifax erklärte am 18. März vor dem Kabinett die Verständigungspolitik für gescheitert. Es dürfe „nicht zu einem polnischen München kommen“.

Noch am 20. März richtete das Foreign Office eine Note an Frankreich, Sowjetrußland und Polen mit der Aufforderung,

in Konsultationen einzutreten, um jeder neuen Bedrohung der Unabhängigkeit eines europäischen Staates gemeinsam entgegenzutreten.(27)

Damit rückte ein Problem in den Vordergrund, von dem bereits 1919 der damalige englische Premierminister Lloyd George die Entstehung eines neuen Krieges prognostizierte: die Danzig-Korridor-Problematik des Versailler Vertrages.

Keine Regierung der Weimarer Republik war bereit gewesen, die Grenzverläufe im Osten des Reiches und die isolierte Lage Ostpreußens und der „freien Stadt“ Danzig anzuerkennen.

Erst Reichskanzler Hitler sorgte 1934 für eine außenpolitische Wende im deutsch-polnischen Verhältnis, als er mit dem polnischen Staatschef Marschall Pilsudski einen zehnjährigen Nichtangriffspakt unter Anerkennung der bestehenden Grenzverhältnisse abschloß.

Dazu muß man wissen,

daß bis dahin Polen in den Augen englischer Politiker wegen seiner rigorosen Minderheitenpolitik gegenüber Ukrainern, Weißrussen und Deutschen als „Schurkenstaat“ galt,

der im Krieg gegen Rußland 1920/21 östlich der in Versailles festgelegten sog. Curzon-Linie noch Gebiete dazu gewonnen hatte (Friede zu Riga 1921).

Trotzdem gestaltete sich das deutsch-polnische Verhältnis seit dem Vertrag von 1934 günstig, zur Zeit des Münchner Abkommens sogar in guter Übereinstimmung, da Polen von der Tschecho-Slowakei das Teschener Gebiet beanspruchte und erhielt.

Es muß auf der anderen Seite daran erinnert werden, daß Pilsudski einst bereit gewesen war, sowohl gegen Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik als auch zur Zeit der frühen NS-Herrschaft militärisch vorzugehen, wie er in London und Paris immer wieder wissen ließ.

Im Oktober 1932,

also vor Hitlers Reichskanzlerschaft,

forderte der stellvertretende polnische Außenminiter Oberst Beck brieflich von Marschall Pilsudski,

im Hinblick auf die bevorstehende Ratifizierung des Nichtangriffspaktes mit der UdSSR,

den sofortigen Angriff auf Deutschland.

Die Lage für einen Krieg sei so günstig wie nie! (28)

Am 21. März 1939 bat der deutsche Außenminister von Ribbentrop den polnischen Botschafter Lipski zu einem Gespräch.

Er erinnerte daran, der „Führer“ habe stets auf einen Ausgleich mit Polen hingearbeitet, sei jedoch

in zunehmendem Maße über die überraschende Versteifung der polnischen Haltung verwundert. (Post, a.a.O., S. 312).

Man würde einen Besuch des polnischen Außenministers in Berlin begrüßen.

Über die schwerste Belastung des Versailler Vertrages aufgrund der Danzig-Korridor-Regelung waren bereits im Oktober 1938 sowohl in Warschau als auch in Berlin Verhandlungen geführt worden.

Hitler erkannte die Berechtigung des polnischen Anspruchs auf einen freien Zugang zum Meer an und sprach sich für einen endgültigen Verzicht auf den „Korridor“ aus, allerdings unter Vorbedingungen:

  • Die Rückkehr Danzigs zum Deutschen Reich,
  • Die Schaffung einer exterritorialen Autobahn- und Eisenbahnverbindung zwischen Ostpreußen und dem Reich.

In Warschau lehnte Außenminister Oberst Beck die deutschen Vorschläge ab, da einerseits Zweifel an Hitlers Glaubwürdigkeit bestanden, andererseits diese Vorschläge mit den territorialen Zielvorstellungen Polens und mit der chauvinistischen Stimmung in Teilen der polnischen Öffentlichkeit unvereinbar waren.

Wie ernst es Oberst Beck mit der Ablehnung der deutschen Vorschläge meinte,

  • sollte seine mit Zustimmung der militärischen Führung angeordnete Teilmobilmachung der polnischen Armee zeigen.
  • Mit der kurzfristigen Einberufung von Reservisten wurde am 23. März die Stärke der polnischen Streitkräfte innerhalb von 24 Stunden verdoppelt.
  • Oberst Beck ließ am 24. März in London anfragen, ob die Möglichkeit zum unverzüglichen Abschluß eines zweiseitigen Abkommens bestünde.
  • Obwohl die militärische Bereitschaft Englands keineswegs sicher war, gab Premierminister Chamberlain am 31. März vor dem britischen Unterhaus die bekannte Garantieerklärung zugunsten Polens ab.
  • Damit hatte sich England bedingungslos zur Unterstützung Polens verpflichtet, unabhängig von der Gefahr, die von dessen provokanter Haltung Deutschland gegenüber weiter ausgehen könnte.
  • Großbritannien erteilte der polnischen Regierung eine Blankovollmacht, die diese in die Lage versetzte, ggf. selbst mit Kampfhandlungen zu beginnen, wenn sie es für angebracht erachtete.
  • Damit war die Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden, wie Walter Post richtig urteilt,

auf Warschau übergegangen, und dies angesichts der Tatsache, daß die britischen Streitkräfte für einen Landkrieg in Europa völlig unzulänglich gerüstet waren. (a.a.O., S. 315)

Am 3. April unterzeichnete Hitler als Oberter Befehlshaber der Wehrmacht die Weisung für den „Fall Weiß“ mit der Feststellung:

Die gegenwärtige Haltung Polens erfordert es, über die bearbeitete „Grenzsicherung Ost“ hinaus die militärischen Vorbereitungen zu treffen, um nötigenfalls jede Bedrohung von dieser Seite auszuschließen.

Politische Vorausetzungen und Zielsetzung

  • Das deutsche Verhältnis zu Polen bleibt weiterhin von dem Grundsatz bestimmt, Störungen zu vermeiden.
  • Sollte Polen seine bisher auf dem gleichen Grundsatz beruhende Politik gegenüber Deutschland umstellen und eine das Reich bedrohende Haltung einnehmen, so kann ungeachtet des geltenden Vertrages eine endgültige Abrechnung erforderlich werden.
  • Das Ziel ist dann, die polnische Wehrkraft zu zerschlagen und eine den Bedürfnissen der Landesverteidigung entsprechende Lage im Osten zu schaffen …
  • Die politische Führung sieht es als ihre Aufgabe an, Polen in diesem Falle womöglich zu isolieren, d.h. den Krieg auf Polen zu beschränken. (zit. nach Post, S. 315).

Ein endgültiger Entschluß, „diesen (isolierten) Krieg wirklich zu führen“, stellt der Historiker Walter Post ausdrücklich fest, „war damit noch längst nicht gefallen.“ (S. 316)

Das deutsch-polnische Verhältnis hatte sich inzwischen zu einem europäischen Konfliktfeld entwickelt, das nicht ohne Einbeziehung der Interessenpolitik der anderen Mächte  angemessen einzuordnen ist.

  • Neben den Westmächten England und Frankreich muß die sich immer stärker ins Spiel bringende Politik des amerikanischen Präsidenten Roosevelt einerseits und die spekulative Haltung Sowjetrußlands unter Stalin andererseits als wesentlicher historischer Kontext in Betracht gezogen werden.
  • Wichtig erscheint vor allem Roosevelts Telegramm an Hitler mit der Aufforderung, Auskünfte über seine weitere Außenpolitik zu geben,
  • und dessen ausführliche Reichstagsrede als Punkt-für-Punkt-Antwort vom 28. April 1939,
  • ferner Stalins Verlautbarung von 1938, der „zweite imperialistische Krieg“ sei bereits in vollem Gange.

Eine ausschließlich deutschlandzentrierte Betrachtungsweise, wie heute allgemein üblich, verfehlt die Komplexität des gesamten Ursachengeflechts, das zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges führte.

Es gab deutliche Anzeichen für eine Entspannung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses,

  • als im Dezember 1938 Gespräche zur Verlängerung der Wirtschaftsvereinbarungen beider Länder wieder aufgenommen wurden.
  • Eine weitere Signalwirkung ging dann von Stalins Rede vor dem XVIII. Parteitag der KPdSU am 10. März 1939 aus, als im Hinblick auf die Westmächte von „Kriegsprovokateuren“ gesprochen wurde, die es gewohnt seien, „sich von andern die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen.“

Dennoch begannen am 14. April 1939 London und Paris Verhandlungen mit Moskau, wobei die Westmächte der Sowjetregierung Vorschläge für einen Pakt unterbreiteten.

Stalin begriff die Vorzüge eines zweiseitig zu führenden Pokerspiels und setzte erneut ein Signal gegenüber Deutschland:

  • Überraschend entließ er am 3. Mai 1939 den jüdischen, mehr den Westmächten zugetanen Außenkommissar Litwinow und ersetzte ihn durch seinen getreuen Gefolgsmann Molotow.
  • Darüber hinaus deutete der sowjetische Botschaftsrat Georgi A. Astachow, unter Hinweis auf den Vertrag von Rapallo, Stalins Bereitschaft an, mit Deutschland einen Nichtangriffspakt zu schließen.
  • Zudem wurden die Gespräche über die Wiederaufnahme der Wirtschaftsverhandlungen fortgesetzt.
  • Mitte Juni brachte die sowjetische Führung ihre Absichten gegenüber Deutschland klar zum Ausdruck, aber gleichzeitig empfing Molotow die Botschafter der Westmächte zu Verhandlungen über einen Bündnisvertrag.

Stalins Kalkül war offenkundig:

  • Bei einem Bündnis mit den Westmächten müßte Hitler von Angriffsabsichten gegenüber Polen absehen.
  • Bei einem Pakt der Sowjetunion mit Deutschland „auf der Geschäftsgrundlage der Teilung Polens“ (Post) wäre ein Krieg zwischen dem Deutschen Reich und den Westmächten unvermeidbar.
  • Diese Option könnte im Sinne der seit Lenin angestrebten Weltrevolution für die sowjetische Seite nur von Vorteil sein.
  • Denn dann käme es zu einem dauernden Abnutzungskrieg zwischen den kapitalistischen Mächten.
  • Es galt demnach, nur zu berücksichtigen, ob Deutschland oder die Westmächte der Sowjetunion in Osteuropa größere Einflußsphären zugestehen würden.
  • In seiner Politbüro-Rede vom 19. August 1939 sprach Stalin es offen aus, daß ein europäischer Krieg vermieden werden könnte, was aber nicht sowjetischen Interessen entspräche!

Angesichts der britisch-amerikanischen Einkreisungspolitik mochte die Annäherung an Stalin für Hitler alternativlos erscheinen.

Die Gefahr der Einkreisung durch eine Koalition England, Frankreich, Polen und Sowjetrußland setzte das Reich in Zugzwang, zumal Moskau die Verhandlungen mit den Westmächten fortsetzte.

Die Lage um Danzig,

  • 1920 zur freien Stadt erklärt
  • und vom Reich getrennt,
  • wirtschaftlich von Polen abhängig,

wurde im Sommer 1939 immer dramatischer.

Mitte Juli suchte Hitler im Streit um Danzig Entspannung, doch die Bemühungen scheiterten an den eskalierenden Streitigkeiten zwischen den Danziger und polnischen Behörden.

Zusätzlich sorgte die ausländische Presse für Öl ins Feuer, indem sie die bewußt zurückhaltende Politik der Reichsregierung als einen Prestigeverlust Hitlers hinstellte.

Die Kriegsstimmung nahm in Polen immer mehr zu, zumal die dortige Presse mit maßlosen Ansprüchen gegenüber Deutschland auftrat.

Wohl nie gab es aber einen Konflikt von solchem Ausmaß,

schreibt der Historiker Stefan Scheil,

dessen Eigendynamik in den westlichen Hauptstädten und später auch von der auf den Westen orientierten Geschichtsschreibung so gründlich übersehen wurde, deren Arbeiten regelmäßig mit dem Jahr 1939 beginnen und die Vorgeschichte des deutsch-polnischen Kriegs konsequent ausblenden. (29)

Die Strategie des polnischen Außenministers durchschaute der Danziger Völkerbundskommissar Burckhardt schon ein Jahr zuvor. Er spricht vom Doppelspiel ,

bei welchem man für Polen auf den höchsten Gewinn hofft, einen Gewinn, der sich ergeben soll aus einer schließlichen und unvermeidlichen deutschen Katastrophe. (…)

Jetzt hofft man im stillen in Warschau nicht nur auf die bedingungslose Integration Danzigs in den polnischen Staatsbereich, sondern auf viel mehr, auf ganz Ostpreußen, auf Schlesien, ja auf Pommern. (30)

Marschall Edward Rydz-Śmigły (1937) (Bild: Wikipedia)

Folgerichtig erklärte der Oberbefehlshaber der polnischen Armee, Marschall Rydz-Smigly, in einer Rede vor polnischen Offizieren im Juni 1939:

Polen will den Krieg mit Deutschland,

und Deutschland wird ihn nicht verhindern können,

selbst wenn es das  wollte.

Inzwischen trafen die englischen und französischen Militärmissionen zu Verhandlungen über eine

Militärkonvention in Moskau

ein.

  • Am 12. August fand im Kreml die erste Arbeitssitzung statt.
  • Die sowjetische Seite legte großen Wert auf Durchmarschrechte in Polen und Rumänien, was die Westmächte in Absprache mit den betroffenen Staaten definitiv nicht zugestehen konnten.
  • Als am 21. August die Militärmissionen Englands, Frankreichs und der Sowjetunion zu einer weiteren Sitzung zusammenkamen,
  • verkündete der russische Marschall Woroschilow gleich zu Beginn eine Unterbrechung der Verhandlungen auf unbestimmte Zeit.
  • Die Begründung war ganz einfach: die Sowjets zweifelten aufgrund der unlösbaren Durchmarschrechtfrage an der Aufrichtigkeit des Wunsches zur militärischen Zusammenarbeit und schoben den Westmächten die Verantwortung für Dauer und schließlichen Abbruch der Verhandlungen zu.

Auf der anderen Seite war die Stagnation einer deutsch-sowjetischen Annäherung mit der Wiederaufnahme wirtschaftlicher Verhandlungen seit Juli 1939 überwunden.

Der deutsche Botschafter Graf v.d. Schulenburg traf sich am 3. August zu einem ausgiebigen Gespräch mit Außenkommissar Molotow.

Dieser erklärte, daß sich die Sowjetregierung eine Besserung der Beziehungen wünsche.

Weil jedoch die Reichsregierung wegen der gleichzeitig laufenden Verhandlungen Moskaus mit den Westmächten unter Zeitdruck geriet, wobei die Spannungen mit Polen sich verschärften, beschloß Hitler, seinen Außenminister v. Ribbentrop persönlich nach Moskau zu entsenden, der durch umfassende Zugeständnisse alle russischen Einwände möglichst entkräften sollte.

Schulenburg wurde am 18. August von Ribbentrop beauftragt, so schnell wie möglich erneut eine Unterredung mit Molotow herbeizuführen, denn die deutsch-polnischen Beziehungen seien inzwischen so gespannt, daß jederzeit Zwischenfälle einen militärischen Konflikt unvermeidbar machen könnten.

Ribbentrop hielt es für angebracht zu betonen:

Nach der ganzen Haltung der polnischen Regierung hätten wir die Entwicklung der Dinge in dieser Beziehung keineswegs in unserer Hand.

Der Führer hält es für notwendig, sich bei Bemühungen um Klärung des deutsch-russischen Verhältnisses nicht vom Ausbruch eines deutsch-polnischen Konfliktes überraschen zu lassen.

Er hält vorherige Klärung für notwendig, um bei diesem Konflikt russischen Interessen Rechnung tragen zu können. (31)

Das hieß nichts anderes, als daß die deutsche Führung ihre außenpolitische Handlungsfreiheit bereits verloren hatte.

Nach Einschätzung des Historikers Walter Post war nunmehr der Pakt mit Moskau

der einzige Ausweg, um nicht eine schwere diplomatische Niederlage zu erleiden oder in einen Krieg gegen eine übermächtige Koalition zu geraten.

Jedenfalls erkannte Hitler die Chance, eine akut drohende Einkreisung und wirtschaftliche Erdrosselung Deutschlands auf diesem Wege zu verhindern.

Über Stalins Doppelstrategie täuschte er sich jedoch,

  • denn nicht nur in dessen Politbüro-Rede vom 19. August 1939,
  • sondern auch in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden der Komintern Georgi Dimitroff am 7. September 1939 (von diesem in seinen später veröffentlichten Tagebüchern festgehalten)
  • offenbarte der sowjetische Diktator, daß er mit dem Abschluß des Paktes das Ziel verfolgte, Polen zu vernichten und einen Krieg zwischen Deutschland und den Westmächten auszulösen.(32)
  • Das von Moskau gewünschte streng geheime Zusatzprotokoll mit den gegenseitig vereinbarten „Interessensphären“ in Osteuropa entsprach genau dieser Zielsetzung.
  • In Berlin verband man, wie sich später herausstellte, allerdings mit dem Begriff „Interessensphäre“ eine andere Vorstellung als in Moskau.

Am 23. August 1939 unterzeichneten der deutsche Außenminister v. Ribbentrop und der sowjetische Außenkommissar Molotow im Moskauer Kreml im Beisein Stalins den Nichtangriffspakt mit dem „Geheimen Zusatzprotokoll“ (auf der Grundlage des sowjetischen Entwurfs).

Unmittelbar nach Unterzeichnung des Paktes erfuhr der amerikanische Präsident Roosevelt durch Verrat des deutschen Botschaftssekretärs Herwarth v. Bitterfeld über ein chiffriertes Telegramm vom Inhalt des streng geheimen Zusatzprotokolls.

Washington hatte zuvor die polnische Regierung ausdrücklich ermutigt, sich Hitlers Forderungen in der Danzig-und Korridor-Frage entgegenzustellen.

In Kenntnis der deutsch-russischen Absprache wäre es nun Pflicht der Washingtoner Administration gewesen, Polen auf die drohende Gefahr aufmerksam zu machen.

Dies wurde indes bewußt unterlassen, vermutlich weniger, um den Verrat zu decken, vielmehr um eine dann vielleicht doch noch denkbare polnische Verhandlungsbereitschaft unbedingt zu verhindern.

Der zwei Tage später geschlossene Bündnisvertrag Englands mit Polen sah ebenfalls ein geheimes Zusatzprotokoll vor, dergestalt, daß der Beistand nur für den Fall eines deutschen Angriffs gelten sollte.

Deshalb unterblieb auch eine entsprechende Kriegserklärung an die Sowjetunion, als die Rote Armee am 17. September ihrerseits Polen angriff.

In Wirklichkeit konnte Polen ohnehin keine Unterstützung erwarten, denn England genügte es, einen Kriegsgrund gegen Deutschland zu haben.

Aber selbst in dieser höchstbedrohlichen Situation war die polnische Führung nicht willens oder fähig, die ständigen Provokationen gegen das Reich abzustellen.

Eine völlige Fehleinschätzung der Lage ließ Militär und große Teile der Öffentlichkeit davon überzeugt sein, im Kriegsfall werde die polnische Armee innerhalb von 14 Tagen in Berlin einmarschieren.

polnisches Plakat 1939

Monate vor Kriegsausbruch forderten in Warschau martialische Plakate zum Marsch nach Berlin auf!

Wie ist eine derartige Selbstüberschätzung zu erklären?

Das hatte verschiedene Gründe.

  • Amerikanische Versprechungen spielten dabei ebenso eine Rolle wie das sehr geheime Militärabkommen zwischen Polen und Frankreich vom 19. Mai 1939.
  • Von erheblichem Einfluß dürften aber die über London und Paris mitgeteilten Aussichten auf einen Umsturz in Deutschland gewesen sein, wie sie aus Kreisen des deutschen Widerstandes verbreitet wurden.
  • Damit weckte der deutsche Widerstand gegen das NS-Regime bei ausländischen Staatsmännern gefährliche Illusionen, die der Friedenserhaltung keinesfalls förderlich sein konnten.
  • Derselben Illussion gab sich der polnische Botschafter Lipski hin, der sich auf Weisung seiner Regierung „unter keinen Umständen“ auf Verhandlungen einlassen sollte:

Wenn es zu einem Kriege zwischen Deutschland und Polen kommt, wird in Deutschland eine Revolution ausbrechen, und die polnischen Truppen werden dann auf Berlin marschieren. (33)

Den Hitler-Stalin-Pakt als direktes Vorspiel zum Krieg zu betrachten, erscheint nach Einschätzung Stefan Scheils als

  • überzogene Interpretation, die aus dem späteren Gang der Ereignisse auf angeblich vorhandene Absichten schließt.
  • Die Einbeziehung der UdSSR in das europäische Mächtesystem machte den Krieg trotz der Moskauer Hintergedanken nicht notwendig, sie konnte ihn durchaus auch verhindern.
  • Welcher Fall eintrat, hing vom weiteren Verhalten der Westmächte, Polens und Deutschlands ab.
  • Die Verhinderung eines großen Konflikts sollte dabei aus deutscher Sicht der eigentliche Zweck des Abkommens sein. (34)

Bis zum Schluß dauerte das Ringen um eine Verhandlungslösung an (Hitlers 16-Punkte-Angebot, Vermittlungsbemühungen des schwedischen Industriellen Birger Dahlerus zwischen Berlin und London).

  • In England war es Churchill und seinen Anhängern gelungen, öffentliche Meinung und Parlamentarier gegen Chamberlains Kompromißpolitik aufzubringen.

  • In Warschau wurde am 30. August eine allgemeine Mobilmachung angeordnet.

  • Zum Angriff auf Polen am 1. September 1939 entschloß sich Hitler, nachdem er alle politischen Möglichkeiten für erschöpft hielt,

um auf friedlichem Wege eine für Deutschland unerträgliche Lage an seiner Ostgrenze zu beseitigen.

Mit Ablauf des Ultimatums der Westmächte vom 3. September befand sich das Deutsche Reich auch mit England und Frankreich im Kriegszustand.

______________________

wird fortgesetzt

______________________

Anmerkungen

27) Walter Post, Die Ursachen des Zweiten Weltkrieges. Ein Grundriß der internationalen Diplomatie von Versailles bis Pearl Harbor, Tübingen 2003, S. 312

28) Stefan Scheil, Polen 1939 Kriegskalkül, Vorbereitung, Vollzug, Schnellroda 2013, S. 50

29) Ebd., S. 55

30) J. Burckhardt, Meine Danziger Mission, S. 156 F., zit. nach Scheil, a.a.aO., S. 56

31) ADAP D VII; Nr. 113, zit. nach W. Post, a.a.O., S. 355

32) Walter Post, a.a.O., S. 371

33) Birger Dahlelrus, Der lezte Versuch, München 1949, S. 110, zit. nach Walter Post, a.a.O., S. 418

34) Stefan Scheil, Ribbentrob, S. 244

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