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Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.

Goethe

Gefahren für den Bestand des deutschen Volkes und seiner Seele, wie wir sie heute dank der Unfähigkeit, wenn nicht Niedertracht der eigenen Führungs-„Elite“ erleben, hat es in unserer Geschichte immer wieder gegeben.

Und immer wieder haben die sich vereinigenden Kräfte des Volkes und ihr volkserhaltender Wille sie gemeistert. Solche Vorgänge haben sich auch im 19. Jahrhundert in Deutschland abgespielt. Die Brüder Grimm haben sie hautnah miterlebt, und was sie dazu zu sagen haben, ist beispielhaft. Lesen Sie den nachfolgenden Beitrag

von Roswitha Leonhard-Gundel

Es waren einmal zwei Brüder … So beginnen viele Märchen, und man kann hinzufügen: die sich bis zum Lebensende treu blieben.

Wilhelm Grimm (1786-1859) und Jacob Grimm (1785-1863), Radierung von Ludwig Emil Grimm 1843 (Bild wie alle folgenden Bilder aus: Hans-Georg Schede, Die Brüder Grimm)

Jacob fügt hinzu: „Weder dem leib noch dem geiste nach sind sich je, solange die welt besteht, zwei menschen vollkommen einander gleich gewesen…“[1]

Wenn man sich näher mit ihnen beschäftigt, erkennt man schon Unterschiede. In ihrem tiefsten Wesensgrunde waren sie jedoch aus einem Holz geschnitzt.

Hanau

Jacob und Wilhelm Grimm kamen östlich von Frankfurt am Main in Hanau zur Welt.

Sie wurden in eine kinderreiche Familie hineingeboren. Die Mutter Dorothea Grimm, geb. Zimmer, brachte 9 Kinder zur Welt, von denen 6 am Leben blieben. Jacob und Wilhelm waren die Ältesten.

Die Mutter Dorothea Grimm, geb. Zimmer (Zeichnung von Ludwig Emil Grimm 1808)

Die Vorfahren der Mutter waren Juristen, die des Vaters Philipp Grimm hatten als Pfarrer der Reformierten Kirche gewirkt. Philipp Grimm selbst verschrieb sich jedoch der Juristerei und wurde „Hofgerichtsratadvokat“, das entspricht dem heutigen Notar.

In der Familie Grimm herrschte eine einfache, schlichte Lebensweise. Jacob Grimm schreibt darüber in seiner Selbstbiographie:

Wir geschwister wurden alle, ohne daß viel davon die rede war, aber durch tat und beispiel streng reformiert erzogen.

In ihren Schriften kommt jedoch kein Fanatismus oder religiöser Bekehrungswille zum Ausdruck. Sie fühlten sich anderen Aufgaben verpflichtet.

Schon als Kinder waren die beiden Ältesten, Jacob und Wilhelm, feine Beobachter. Sie sammelten Blumen, Federn und Steine und zeichneten sie auch. In Ludwig, dem 5. Kind, dem Malerbruder, kam diese Begabung zum Erblühen.

Mit Freude nahmen die Grimms an allen Lebensäußerungen des Volkes teil, an Sitte, Brauchtum, Literatur und Religion.

Ein großer Schicksalsschlag erfolgte dann aber 1796 –  Jacob war 11 Jahre, Wilhelm 10 Jahre – mit dem Tod des Vaters. Nun stand die Mutter da mit 6 kleinen Kindern, 5 Söhnen und 1 Tochter. Sie mußte kurze Zeit nach dem Tod des Mannes die Amtswohnung verlassen.

Schon bald darauf wendet sich Jacob an seine Tante. Später berichtet er:

Das vermögen der mutter war schmal, und sie hätte uns 6 kinder schwer auferziehen können, wenn nicht eine ihrer schwestern, Henriette Zimmer, die bei der kurfürstin oder damaligen landgräfin von Hessen erste kammerfrau und von der reinsten, aufopfernden liebe zu uns beseelt war, sie treulich unterstützt hätte.

Henriette Zimmer (Zeichnung von Ludwig Grimm)

Mit gerade 11 Jahren übernimmt Jacob die Aufgabe, die Familie nach außen zu vertreten. Denn die verwitwete Mutter ist nicht rechtsfähig. Der Großvater übernimmt die Vormundschaft.

Nun dürfen die beiden Ältesten, Jacob und Wilhelm, durch die Hilfe der Tante aufs Gymnasium nach Kassel.

Kassel

Von Anfang an waren sie darauf bedacht, die Mutter so früh wie möglich finanziell unterstützen zu können. Davon abgesehen, erkannten die Lehrer bald ihre Begabung. In einer Beurteilung heißt es von Jacob:

… zeigt vorzügliche Fähigkeiten, großen Fleiß und ein sehr anzurühmendes gesittetes Betragen.

Auch Wilhelm wurde etwas später in gleicher Weise gelobt.[2]

Sie durchlaufen in der Hälfte der vorgesehenen Zeit die Gymnasialjahre und können früher als geplant auf die Universität wechseln.

Immer mehr kommt eine große Lust zur Literatur zutage. Ihr gesamtes Taschengeld haben sie in Antiquarien und auf Buchauktionen gelassen. Und was sie sich nicht anschaffen konnten, schrieben sie ab.

Immer auf der Suche nach denkwürdigen Handschriften blieben sie dieser Methode bis ans Lebensende treu.

Da der Vater beruflich eine zu niedrige Rangordnung eingenommen hatte, mußte die Mutter „unterthänigst“ eine Erlaubnis zum Studium ihrer Söhne beim Landesherrn beantragen. Sie wurde in beiden Fällen „gnädigst ertheilt“.

Jacob studiert Jura und hofft auf eine baldige Anstellung. Wilhelm entschließt sich für dasselbe Fach und wird ebenso wie Jacob auf der Universität Marburg zugelassen, aber erst 3 Jahre später, 1805.

Marburg

Jacob und Wilhelm bekommen keinerlei Stipendien und müssen mit dem Wenigen, das ihnen die Familie geben konnte, auskommen. Darüber schrieb Jacob später in seiner Biographie:

Dürftigkeit spornt zu fleiß und arbeit an, bewahrt vor mancher zerstreuung und flößt einen nicht unedlen stolz ein, den das bewußtsein des selbstverdienstes gegenüber dem, was andern stand und reichthum gewähren, aufrecht erhält.

Ich möchte sogar die behauptung allgemeiner fassen und vieles von dem, was deutsche geleistet haben, gerade dem beilegen, daß sie kein reiches volk sind. Sie arbeiten von unten herauf und brechen sich viele eigenthümliche wege, während andere völker mehr auf einer breiten gebahnten heerstraße wandeln.[3]

Viele Vorlesungen wurden noch ganz oder halb auf Lateinisch gehalten, und die beiden Brüder fanden sie oft langweilig. Ihre Begeisterung den Professoren gegenüber hielt sich in Grenzen, bis auf eine Ausnahme: Friedrich Karl von Savigny.

In einem Brief schreibt Wilhelm:

Er ist der einzige Mann, den ich in dem Grad verehre. Mein Zutrauen zu ihm ist grenzenlos. Ich würde ohne Bedenken mein ganzes Leben in seine Hände legen.[4]

Was Savigny so grundlegend von den anderen Professoren unterschied, war außer seiner Menschlichkeit, die Studenten zu eigenen Forschungen anzuspornen, und seine Methode, die Dinge, eben auch das Recht, aus historischer Sicht zu betrachten.

Er glaubte, das Gesetz sei nicht das Resultat vernunftmäßiger Folgerung, sondern natürlich entstanden, verbunden mit dem Wachstum des jeweiligen Volkes.[5]

Diese Art des Lehrens traf die Brüder in ihrem tiefsten Verlangen, ihre eigene Herkunft und die ihres Volkes zu erforschen. Außerdem gewährte Savigny den beiden den Zutritt zu seiner reichhaltigen Bibliothek.

Dort trafen sie auf die Minnelieder, die Tieck zusammengestellt hatte. In seiner Vorrede zu der Ausgabe, die die Brüder Grimm in Händen hielten, vertrat Tieck die Idee, daß die Dichtungsgeschichte unmittelbar die geistige Geschichte eines Volkes spiegele.[6]

Das hat die Brüder nachhaltig beeindruckt. Unter diesem Einfluß fassen sie den Entschluß, altdeutsche Denkmäler, wie es damals heißt, zu sammeln, um auf ihrer Grundlage einmal eine Geschichte der Poesie des deutschen Volkes zu schreiben.[7]

Hier zeichnet sich bereits ganz deutlich ab, welchen Weg sie gehen werden:

gefährdete Quellen deutscher Kultur zu sichern und weiterzuentwickeln.

Durch Savigny lernen sie Clemens von Brentano und Achim von Arnim kennen, die eine wesentliche Rolle beim Sammeln der Märchen spielen sollen.

Paris

1804 beginnt Savigny in Paris ein Quellenstudium für seine Arbeit Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter und bittet Jacob, ihm bei seinen Studien zu helfen.

Jacobs Mutter und die Tante sind schließlich damit einverstanden, und so reist Jacob mit 20 Jahren für ein dreiviertel Jahr nach Paris, wo er täglich von 10 bis 14 Uhr an der Bibliothek arbeitet.

Die Brüder unterhalten einen reichen Briefwechsel, in dem jedoch von der Arbeit für Savigny nur anfangs die Rede ist. Das Hauptthema ist, sich ein reiches Wissen über Literatur anzueignen, sowohl moderne wie vor allem alte deutsche Gedichte wie Poesien aufzusuchen.

Ein reger Austausch entsteht und überbrückt den Trennungsschmerz, unter dem beide Brüder leiden. Wo immer eine Bibliothek alte Handschriften verwahrt, suchen die Grimms sie auf.

Jacob fürchtet, daß er nach seiner Rückkehr aus Paris für solche Forschungs- und Sammeltätigkeiten keine Zeit mehr haben wird. Besonders sein großes Verantwortungsgefühl für die Familie, Geld zu verdienen, drängt ihn, eine regelmäßige Tätigkeit anzunehmen. Von dem kränkelnden Wilhelm ist das nicht zu erwarten.

Zurück in Kassel

1806 erhält Jacob die Möglichkeit, beim Sekretariat des Kriegskollegs eine Stelle anzunehmen, nur pflichtgemäß, ohne Begeisterung. Nebenher beschäftigt er sich mit Volksbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts.

Im selben Jahr schließt Wilhelm sein Studium in Marburg ab.

Die politische Lage 1806

Im Oktober 1806 besiegt Napoléon Preußen in der Schlacht bei Jena und Auerstädt, und der deutsche Kaiser verkündet die Auflösung des Reiches. Napoléon ist auf dem Höhepunkt seiner Macht, und wie nicht anders zu erwarten, ziehen seine Truppen auch in Kassel ein, der Heimat der Brüder Grimm.

Jacob schreibt darüber:

Mit herbstem schmerz sah ich Deutschland in unwürdige fesseln geschlagen, mein geburtsland bis zur vernichtung seines namens aufgelöst. Da schienen mir beinahe alle hoffnungen gewichen und alle sterne untergegangen …

Das hessische Kriegskollegium wird Kommissariat für französische Truppen.

Kurhessen verschwindet von der Landkarte und wird als Westfalen, also als künstliches Gebilde des Siegers, neu erfunden.“[8]

Damit es auch recht herrschaftlich zugeht, wird der jüngste Bruder Napoléons, Jérôme, König. Wilhelm schreibt in seiner Selbstbiographie:

Jener Tag des Zusammenbruchs wird mir immer vor Augen stehen. Ich hatte am letzten Oktober abends die französischen Wachfeuer in der Ferne mit einiger Bangigkeit gesehen, aber daß Hessen unter fremde Herrschaft geraten sollte, konnte ich nicht eher glauben, als bis ich am anderen Morgen die französischen Regimenter bei dem alten, ietzt niedergerissenen Schloße in vollem militärischen Glanz einziehen sah. Bald änderte sich alles von Grund auf:

Fremde Menschen, fremde Sitten, auf der Straße und den Spaziergängen eine fremde, laut geredete Sprache.

Die Abteilung des ehemaligen Kriegskollegs wird nicht mehr gebraucht und sofort in eine Truppenverpflegungskommission umgewandelt, die Tag und Nacht Sitzungen hält. Weil Jacobs Französisch-Kenntnisse recht gut sind, lastet ein großer Teil der für ihn lästigen Arbeit auf seinen Schultern. Nach einem halben Jahr hält er es nicht mehr aus und sagt den Dienst auf.

Nach dem Tod der Mutter

1808 stirbt die Mutter, erst Anfang 50. Keines ihrer Kinder ist versorgt. Lotte, die Jüngste, ist erst 15 Jahre alt und soll die Pflichten der Haushaltsführung übernehmen.

Jacob mit erst 23 Jahren fühlt sich besonders verantwortlich, für die elternlosen Geschwister zu sorgen, bei der wirtschaftlichen Lage und dem Wegfall der Rente seiner Mutter keine leichte Aufgabe!

Endlich bekommt Jacob die Stelle eines Bibliothekars in der Privat-Bibliothek des französischen Königs, die recht gut bezahlt wird. Dennoch ist die Trauer um den trostlosen Zustand der engeren und weiteren deutschen Heimat ein anhaltendes Thema dieser Jahre.

Dies zeugt wieder einmal davon, daß die Brüder Grimm ihr gesamtes Leben stets in den großen Zusammenhang ihrer Kultur und ihres Volkes stellten. Doch von den abstoßenden politischen Verhältnissen lassen sich die Brüder ihre schöpferische Kraft nicht lähmen.

Wilhelm beschäftigt sich seit langem schon mit nordischer Sprache und Dichtung und erweitert seine Kenntnisse in erstaunlicher Geschwindigkeit.

Vor Vollendung ihrer großen Aufgabe der Fertigstellung ihrer Geschichte der Poesie wenden sich die Brüder zunächst den Sagen zu, welche sie für die Grundlage der Poesie halten. Sie wollen die Sagen aus ihren unendlichen Verzweigungen bis zu ihren Quellen zurückverfolgen.

Oft schmerzen abends Jacobs Augen, und auch Wilhelms Gesundheit ist immer noch angeschlagen. Er begibt sich in die Obhut eines Arztes in Halle. Beide Brüder leiden unter der Trennung. Jacob berichtet einmal:

Seit dem Tod der Mutter sei ihr Haushalt unangenehm geworden, weil sich keins an das andere binde und keine Ordnung mehr sei.[9]

Wilhelm, obwohl er mehr Geselligkeit pflegt als Jacob, arbeitet auch während seiner Kur ständig an den Übersetzungen dänischer Balladen weiter und beendet sie.

Für Jacob dagegen sind Übersetzungen Verfälschungen. Entsprechend gibt er später Altspanische Romanzen im Original heraus. Hierbei kommt eine Eigenschaft Jacobs zutage: nur das Ursprüngliche gelten zu lassen. Hierin stimmt er nicht ganz mit Wilhelm überein.

Die beiden Brüder entscheiden sich deshalb, ihrer Ausgabe der Altnordischen Edda 1815 zwei Übersetzungen anzufügen: eine wissenschaftlich strenge von Jacob und eine freie von Wilhelm.

Sie nehmen sich später jedoch vor, ihre Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und die Ergebnisse ihrer Forschungen möglichst nur in gemeinsamer Form herauszugeben.

Jacob findet neben seiner Tätigkeit als Bibliothekar am französischen Hof Zeit, seinen eigentlichen altdeutschen Studien nachzugehen.

Wilhelm nimmt schon auf der Heimfahrt von seiner Kur in Halle nach Kassel jede Gelegenheit wahr, für ihn wichtige Persönlichkeiten zu treffen: Achim von Arnim oder Goethe, der ihm und Jacob Zutritt zu den Bibliotheken in Weimar und Jena verschafft.

Immer steht beiden das große Ziel vor Augen, altdeutsche Altertümer wie das Nibelungenlied oder die Edda aufzuspüren und sie zu bearbeiten und sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Die Entstehung der Kinder- und Hausmärchen

1811 entschließen sich die Brüder Grimm, einen öffentlichen Aufruf herauszugeben und zum Sammeln von alten Texten aufzufordern.

Auf hohen Bergen, in geschlossenen Tälern lebt noch am reinsten ein unveralteter Sinn, in den engen Dörfern, dahin wenig Wege führen und keine Straßen, wo keine falsche Aufklärung eingegangen oder ihr Werk ausgerichtet hat, da ruht noch an vaterländischer Gewohnheit, Sage und Gläubigkeit ein Schatz im Verborgenen. Wir Unterzeichnete haben seine Wahrheit vielfach erfahren, aber auch, wie schwer es, ihn zu heben, nunmehr geworden …[10]

Achim von Arnim und Clemens von Brentano haben auch schon Märchen und Gedichte gesammelt und Des Knaben Wunderhorn herausgegeben. Das bewirkt eine langjährige mehr oder weniger herzliche Freundschaft mit ihnen.

Vor allem Arnim trägt dazu bei, daß 1812 die erste Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen (KHM) erscheint. Neuland beschreiten die Brüder Grimm damit nicht. Jedoch heben sie sich von anderen Romantikern dadurch ab, daß sie unverfälschte, lebendig fortwirkende Texte bewahren wollen.

Eine wissenschaftlich nüchterne Ausgabe als Teil einer deutschen Poesie hätte ihnen dennoch nicht den großen Erfolg beschieden. Zum Glück hat sich der dichterisch veranlagte Wilhelm seinem Bruder gegenüber durchgesetzt und die aufgefundenen Texte behutsam bearbeitet.

Ihm ist es zu verdanken, daß der unverwechselbare Märchenton uns allen – ob Jung oder Alt – so zu Herzen geht, daß schon André Jolles 1930 in seinem Buch Einfache Formen den treffenden Begriff „Gattung Grimm“ erfindet.

Um die Märchen zu sammeln, sind die Brüder Grimm – entgegen landläufiger Meinung – nicht über Land gefahren. Die meisten Texte wurden ihnen zugetragen, oft von gebildeten Frauen, z. B. die Mütter und deren Töchter aus der Familie Hassenpflug und Wild. Dorothea Wild, „Dorthchen“, wird später Wilhelms Frau.

Daß mehrere Erzählungen mit der französischen Märchentradition übereinstimmten, hindert die Brüder Grimm nicht, sie dennoch aufzunehmen. Sie nehmen sich aber auch die Freiheit, sie wieder zu entfernen, wie z. B. den Gestiefelten Kater (darauf komme ich später zurück).

Dorothea Viehmann, die "Viehmännin" (Radierung von Ludwig Grimm)

Die bekannteste Märchenfrau ist Dorothea Viehmann. Sie wird von den Brüdern Grimm sehr verehrt. Denn sie erzählt ihre mehr als 30 Märchen stets in ein und demselben Wortlaut. Wilhelm nimmt das als Anzeichen, daß sie ein zuverlässiges Sprachrohr der Volksüberlieferung ist.

Die Brüder Grimm

sahen das Märchen als Zeuge der Menschheitsgeschichte und glaubten an sein hohes Alter. In ihren Anmerkungen und Wilhelms Vorworten zu vielen Ausgaben der Märchen bestanden sie auf die nahe Verwandtschaft mit Mythen und der epischen Dichtung der Vergangenheit.

War nicht Dornröschen, das in einen tiefen Schlaf fällt, nachdem es sich an einer Spindel gestochen hat, gleich Brynhild in tiefen Schlaf versetzt durch den Stich eines Dorns? Brynhild schlief, umgeben von Flammen, und im Märchen wurden die Flammen zur Dornenhecke. Schneewittchen verglichen sie mit Snäfridr, der schönsten aller Jungfrauen.[11]

Die geistreiche, etwas verspielte Art, mit der manche Dichter Märchen behandeln, ist den Brüdern Grimm zuwider.

1812 erscheint die erste Auflage der KHM. Nicht alle sind mit dieser Ausgabe einverstanden. Manche vermissen entsprechende Bilder. Da kann Ludwig, der Maler-Bruder, Abhilfe schaffen. Er bestückt den zweiten Band mit einfühlsamen Bildern.

Wilhelm hat an den Märchen ein Jahr lang gearbeitet, oft unter seltsamen Umständen, mit fremder Besatzung und Kriegsunruhen rings umher.

Ein Beispiel für die stilistische Bearbeitung der Märchen durch Wilhelm Grimm bietet der Froschkönig in der Urfassung, die die Brüder Grimm 1810 an Brentano geschickt haben. Sie beginnt folgendermaßen:

Die jüngste Tochter des Königs ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Darauf nahm sie eine goldene Kugel und spielte damit, als diese plötzlich in einen Brunnen hinabrollte …

In der Fassung letzter Hand 1857 lautet der Anfang so:

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen; wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens; und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.

Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hineinrollte …

Durch diese Ausschmückungen gewannen die Kinder- und Hausmärchen (KHM) immer mehr an Berühmtheit.

Heute sind sie in 160 Sprachen übersetzt, das weitestverbreitete Buch deutscher Sprache.

Wilhelm hat die Fähigkeit, in der einfachen Erzählweise des 16. und 17. Jahrhunderts zu gestalten. Da gab es in Kassel den „Schnarrpeter“, der närrische Redensarten von sich gab, oder den „Blaubart“, ein Handwerksbursche, der sich schimpfend in den Gassen herumtrieb. Wilhelm hat auch für deren Aussprüche ein offenes Ohr und baut originelle Wendungen in die Märchen mit ein. Er ist immer nahe am Volk und „schaut ihm aufs Maul“, wie Luther sagen würde. Während sich Jacob mehr und mehr wissenschaftlichen Aufgaben zuwendet, ist es Wilhelm, der die oft kargen Texte, die ihm geliefert werden, künstlerisch ausgestaltet.

Zusammenfassung und Würdigung ihrer Lebensleistung

Über die Märchen haben wir schon einiges gehört. Die KHM sind von 1812 bis 1857 in sieben Textausgaben erschienen. Wilhelm veränderte die Märchen von Ausgabe zu Ausgabe und war immer bestrebt, den echten Kinderton zu finden.

Darüber hinaus liegt es ihm am Herzen, den ursprünglichen Kern einer Erzählung zu betonen und schlicht und wahrhaftig zu gestalten.

So wird verständlich, weshalb wohl die Brüder Grimm den Gestiefelten Kater, der  ursprünglich in der französischen Sammlung enthalten war, aus den KHM entfernt haben: Die Handlung in diesem Märchen wird von einer ständig wiederholten Unwahrheit bestimmt!

1914 empfiehlt Hugo von Hoffmannsthal vor allem die KHM:

Tiefe und schöne Geschichten, in denen das wahre Herz des Volkes darin ist, die wahre, scharf umgrenzte Wesenheit des deutschen Gemütes, das nichts Schwimmendes und nichts Schweifendes in sich hat, sondern etwas Verhaltenes, Maßvolles.

Auch in den Deutschen Heldensagen, für die Wilhelm Material vom 6. bis 16. Jahrhundert sammelt, erklärt er, daß sie nicht einfache Kunstdichtungen sind, sondern geschichtliche Entwicklung und Volksbewußtsein widerspiegeln.

Die Deutsche Grammatik von Jacob Grimm wurde zunächst belächelt, dann zum Bestseller. Sie ist heute noch gültig.

Seit langem wurde der deutschen Sprache – überlagert von der französischen – ein zweitklassiger Platz eingeräumt, hatte man sie „barbarisch“ genannt und ihr einen geringen Wert beigemessen.

Als den Brüdern der Auftrag erteilt wird, ein Deutsches Wörterbuch zu erstellen, äußert Jacob: Es

… soll ein Heiligtum der Sprache gründen, ihren ganzen Schatz bewahren, allen zu ihm den Eingang offenhalten.[12]

Welch große Verantwortung einem der größten Kulturgüter, der Sprache, gegenüber drückt sich in diesen Worten aus. Andererseits hat Jacob etwas gegen die lächerlichen Puristen, die mit „plumpem Hammerschlag“ die Sprache reinigen wollen.

So gibt Jacob zu, man könne z. B. das Wort „Appetit“ und davon abgeleitet „appetitlich“ stehen lassen, da ihnen nichts anderes genau entspräche. Campe verwendet noch „lüstlich“![13]

Nicht zu vergessen sind die von Jacob Grimm sogenannte Deutschwissenschaft (heute „Germanistik“ genannt), die sich mit allen Sprachepochen beschäftigt, sowie die Deutschen Rechtsaltertümer, die er herausgibt. Sie sind nicht nur eine rechtsgeschichtliche Sammlung, sondern ein Beitrag zur germanisch-deutschen Volkskunde.

Als Jacob Grimm durch seine Forschungen auf die Quellen des Heidentums stößt, erkennt er, daß es sich in Sagen, Brauchtum und Sitten äußert und ihr Glaube aus „inniger Naturanschauung“ entstand. Es zieht Jacob an, die Lebensgestaltung unserer Urahnen zu ergründen, als sie noch frei von kirchlichem Zwang war und sich ihre eigenen Gesetze gab.

Der Mensch würde sich selbst gering schätzen, wenn er das, was seine Ureltern nicht in eitlem, vorübergehendem Drang, viel mehr nach bewährter Sitte lange Zeiten hindurch hervorgebracht haben, verachten wollte.[14]

In den einfachen Weisungen deutscher Volksgerichte empfindet er eine reiche Quelle für seinen Entwurf der Rechtsaltertümer, hier einige Beispiele:

  1. Erde und Gras als Symbol haben immer denselben Sinn. Wer sein Grundstück auf einen anderen übertragen wollte, tat es mit diesem Symbol, indem er dem neuen Besitzer eine Hand voll Erde oder ein Rasenstück überreichte.
  2. Größere Güter wurden mit dem Stab übergeben.
  3. Über dem Haupt des Verurteilten wird der Stab gebrochen und ihm vor die Füße geworfen (Redensart).
  4. Allgemeine Bekräftigung aller Verträge ist der Handschlag.
  5. Den Schuh bringt der Bräutigam der Braut, sobald sie ihn angezogen hat, gilt das Verlöbnis.
  6. Der neue Hausbesitzer löschte das alte Herdfeuer und entzündete es neu.

Diese wenigen Beispiele sollen zeigen, daß dem Rechtsleben, besonders dem der Bauern, einfache, von jedem Anwesenden nachvollziehbare Handlungen zu Grunde lagen. Es waren Bilder, durch die die Weisheit der Germanen vermittelt wurden.

Wenn man bedenkt, welch einem Wust von Paragraphen wir heute auch bei einfachen Rechtsangelegenheiten ausgesetzt werden, sieht man mit Ehrfurcht auf die Schlichtheit und Weisheit der Alten.

Die Brüder Grimm richten ihre Tätigkeit bei weitem nicht ausschließlich auf deutsche Geschichte und Sprache: Wilhelm übersetzt dänische Heldenlieder, Jacob slawische Grammatik. Slawische Gelehrte bringen mit Jacobs Hilfe ihre Mythologie heraus.

In ganz Europa berufen sich die Märchensammler auf die Brüder Grimm. Somit führen die Grimms über das eigene Volk hinaus viele europäische Völker zu ihrem Selbstbewußtsein und der Wertschätzung ihrer ureigenen Kultur.

Die Brüder Grimm führen uns Deutsche zu unseren Wurzeln.

In der Edda, die von ihnen ebenfalls herausgegeben wurde, spricht die Seherin von den drei Wurzeln der Weltenesche Yggdrasil. Unter jeder Wurzel ist ein Brunnen:

  • Im ersten hausen Neid, Mißgunst und Bosheit.
  • Der zweite heißt Mimir und bedeutet „ich selbst“ oder auch „Erinnerung“. Wer aus diesem Brunnen trinkt, gewinnt Weisheit, denn Mimir ist der Brunnen des Erbwissens.
  • Der dritte ist der Brunnen der Urda oder des Werdens und ist der heiligste.

Dieses alte Wissen um die Weltenesche ist immer noch in unseren Märchen enthalten. Wie oft kommen Brunnen oder Bäume vor (Frau Holle, Brüderchen und Schwesterchen, Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein …)! Und auch in unserem Brauchtum noch heute werden Bäume aufgestellt: der Maibaum, der Weihnachtsbaum, der Richtbaum.

Selbst die über die Jahrhunderte dauernde Christianisierung konnte diese Zeichen der tiefen Natur- und Gottverbundenheit unseres Erbgutes nicht ausmerzen.

Weitere Stationen in ihrem Lebenslauf

In all den Jahren arbeiten die Brüder Grimm mit größter Beständigkeit, obwohl um sie herum im öffentlichen Leben sehr viel Tumult und Unruhe herrschen, bis 1813 dann der große Durchbruch kommt und Napoléons Macht durch die Völkerschlacht von Leipzig zusammenstürzt.

Schon vorher hatte dessen Bruder Jérôme Bonaparte, der König des künstlich gegründeten Königreichs Westfalen, gewarnt:

Die Gärung hat den höchsten Grad erreicht … und wenn der Krieg ausbricht, werden alle Gebiete zwischen Rhein und Oder zum Herd eines heftigen Aufstandes werden. Die mächtige Triebfeder dieser Bewegung ist nicht nur die Ungeduld über das fremde Joch. In stärkerem Maße liegt die Ursache dieser Unruhe im Ruin aller Schichten der Gesellschaft, in der Überlastung durch Steuern, Kriegskontributionen, der Unterhaltung von Truppen, dem Durchzug von Soldaten, den sich ständig sich wiederholenden Quälereien.[15]

Nicht nur Napoléon, auch Jérôme muß die Flucht ergreifen, und als der Kurfürst von Hessen aus dem Exil zurückkehrt, schreibt Wilhelm in seiner Selbstbiographie:

Die Wiederherstellung von Hessen ist von uns in der reinsten Freude gefeiert worden … Mir schien in diesem Augenblicke, als könne keine Hoffnung auf die Zukunft unerfüllt bleiben.

Mit wieviel Anteilnahme und Wärme nehmen doch die Brüder am öffentlichen Leben teil! Die Begeisterung hält jedoch nicht lange vor, da der Kurfürst zu keinerlei Reform bereit ist. Geiz, Mißtrauen und Unwirtschaftlichkeit bestimmen seine Haltung. Schede schreibt dazu:

Dabei wünscht sich Jacob, daß man etwas davon empfindet, das Volk bedeute in dieser Zeit etwas und sei etwas Herrliches.[16]

Die Brüder Grimm wollen nicht nur durch ihre wissenschaftlichen und dichterischen Arbeiten zeigen, daß das Volk etwas Herrliches sei, sie wollen sich auch unmittelbar an der Opferbereitschaft zur Befreiung ihres Volkes beteiligen.

Sie freuen sich und sind stolz darauf, daß wenigstens zwei ihrer Brüder der Landwehr beigetreten sind. Jacob und Wilhelm setzen sich finanziell ein, indem sie den Erlös ihrer Edition des Armen Heinrich von Hartmann von Aue zur Ausrüstung der Freiwilligen bereitstellten.

Ist das nicht ein beeindruckendes Beispiel, wie die Not Menschen gleichen Sinnes zusammenschmiedet und zur Gemeinschaft beiträgt! Das wünscht man sich für die heutige Zeit ebenso.

Allerdings hält Jacob, der inzwischen als Legationssekretär im Auftrag Hessens auch in Frankreich unterwegs ist, wenig von der Politik und dem Auftreten der sog. Alliierten gegen Napoléon.

Die französische Bevölkerung ist des Krieges und des Kaisers müde,

berichtet Jacob an Wilhelm in einem Brief. Die Alliierten verspielen jedoch durch ihr Auftreten viele Sympathien.

Wir hätten unsere reine Sache auch in dem reinen Kleid erhalten sollen.[17]

Wie schwer ist es doch für Sieger, menschlich zu bleiben! Solche Beispiele kennen wir heutigen Deutschen auch aus der Zeit unmittelbar nach den letzten beiden Weltkriegen.

Jacob fordert keinen machtpolitischen Friedensschluß. Zudem verlangt er innere Reformen,

… die langsam und öffentlich vollzogen werden und die besten Individualitäten der Deutschen in alle Entscheidungen einbeziehen sollen.[18]

Anfang 1814 wird Wilhelm Bibliothekssekretär an der Kasseler Bibliothek im Museum Fridericianum und erhält nur eine kleine Vergütung dafür. Da immer noch einige seiner Geschwister miternährt werden müssen, ist er gezwungen, Geld aufzunehmen.

Welch ein schweres Leben! Und wie wenig Verständnis wird ihm von seinem Kurfürsten entgegengebracht!

Inzwischen ist Jacob gezwungenermaßen zum Wiener Kongreß aufgebrochen. Mit gemischten Gefühlen sieht er diesem Aufenthalt entgegen, wobei er sich einzig auf die Besuche in den dortigen Bibliotheken freut.

Insgeheim schienen ihm die Verhandlungen als ein

Gewirr von Grobheiten, Welthöflichkeiten, Intrige, Verschlossenheit und Leichtsinn.[19]

Man könnte meinen, Jacob gibt in seinem Bericht einen schwachen Abglanz von der heutigen Politik. Er beklagt sich jedoch nicht nur, sondern verfaßt Aufsätze, in denen er sich mit Fragen der Reichsinnen- und -außenpolitik, der Heeresverfassung, Religion und Freizügigkeit der Studenten beschäftigt.

Später wird von den Brüdern Grimm ein Plan des Reichsfreiherrn vom und zum Stein für eine Gesellschaft für deutsche Geschichte aufgegriffen.

Hauptsache daran sei, daß jetzt ein Anfang gemacht werde, denn noch nie habe es unter den dafür geeigneten Männern in Deutschland eine für ein solches Projekt so günstige Stimmung gegeben, die auch mit den durch den guten, gesunden Beistand unseres Volks gerade durchgreifenden Gefühle alles des Undeutschen, was die Regierungen verschulden und einer erhöhten Sehnsucht nach Zusammenhang übereintreffe.[20]

Die Brüder versuchen mit allen Mitteln, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen durch Erhalten und Erleben ihrer Kulturgüter zu stärken.

Die Restauration in Kurhessen

Die Spannungen zwischen Fürst und Untertanen nehmen zu. Äußerlich drückt sich das in der Einführung des Zopfes für die Truppen aus, worüber sich auch Jacob beklagt.

Die Kontrollsucht des Fürsten und sein Geiz müssen unerträglich gewesen sein, auch wird die versprochene Verfassung nicht eingeführt. Obwohl

meine Aussichten in die Zukunft trüb und eingeschränkt sind, hat meine Zuneigung zu dem Land nicht abgenommen, sondern sich eher verstärkt.[21]

Die Brüder Grimm nehmen lieber Unannehmlichkeiten in Kauf, als sich durch Beförderungen selbst zu verleugnen. So ging es ihnen finanziell unter Jérôme besser als unter dem abscheulichen Kurfürst Wilhelm II. von Hessen, der ihnen eine Mißachtung nach der anderen angedeihen läßt und sie in ihrer Arbeit demütigt, indem sie z. B. Kataloge abschreiben müssen.

Vor allem durch Jacobs wissenschaftliche Betätigung nehmen jedoch die auswärtigen Verbindungen ständig zu: Als Gäste werden z. B. Wilhelm von Humboldt, Heinrich Heine, Johanna Schopenhauer empfangen, um nur einige zu nennen.

Die Arbeitsbedingungen aber werden immer widerwärtiger, so daß die Brüder schließlich schweren Herzens dem Ruf nach Göttingen folgen.

Anfangs leiden sie unter großen Schwierigkeiten der Gewöhnung. Dann aber haben sie durch ihre Lehrtätigkeit an der Universität großen Erfolg.

Die Brüder sehen mit Freuden der dritten Herausgabe der KHM entgegen, das Buch, das schon die größte Verbreitung errungen hatte.

Sind Jacob und Wilhelm die ersten 7 Jahre in Göttingen in ihrem Wirken sehr schöpferisch gewesen, so wird nun ihr Arbeitsfriede durch politische Veränderungen empfindlich gestört:

1837 stirbt William IV., König von Großbritannien, Irland und Hannover. Auf den Thron von Hannover folgt der Herzog von Cumberland als König Ernst August II. Die Personalunion von Hannover und Großbritannien endet.

Schon kurze Zeit darauf erklärt er, sich nicht an das erst 1833 verabschiedete, verhältnismäßig freiheitliche Staatsgrundgesetz gebunden zu fühlen, das er dann auch aufhebt, wodurch alle königlichen Diener aller eidlichen Verpflichtungen dem Staatsgrundgesetz gegenüber enthoben sind.[22]

Niemand im Land ist auf diesen Verfassungsbruch vorbereitet. Nur 7 Professoren von der Universität Göttingen melden ihren Widerspruch an und fordern, diese Maßnahmen nicht anzuerkennen.

Die "Göttinger Sieben" (oben: Wilhelm und Jacob Grimm; 2. Reihe in der Mitte Dahlmann, re. Gervinus) (unbezeichnete Lithographie 1838)

Ernst August schreckt nicht davor zurück, die Göttinger Sieben zu entlassen, und ermächtigt sich als ihr alleiniger Dienstherr. Er schämt sich nicht, drei der sieben Professoren zu zwingen, innerhalb von 3 Tagen das Land zu verlassen:

  • Friedrich Christoph Dahlmann
  • Georg Gottfried Gervinus
  • Jacob Grimm

Die anderen Professoren – so verfügt er als absolutistischer Herrscher – dürfen, sofern sie sich ruhig verhalten, im Land verbleiben. Darunter befindet sich auch Wilhelm Grimm.

Als die Studenten erfahren, daß ihre Professoren entlassen und 3 von ihnen ausgewiesen worden sind, kommt es zu Unruhen. Die Studenten sollen es auch gewesen sein, die für die schnelle öffentliche Verbreitung des Protestes gesorgt haben.

Über Göttingen wird der Belagerungszustand ausgerufen. Um zu verhindern, daß die Studenten Dahlmann, Jacob Grimm und Gervinus einen triumphalen Auszug aus dem Königreich Hannover bereiten, wird kurzfristig ein Verbot erlassen, Reitpferde und Kutschen zu vermieten!

Daraufhin marschieren mehrere hundert Studenten in der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember bei eisiger Kälte bei Witzenhausen zur Grenze zu Kurhessen. Als die drei Vertriebenen an der Grenzbrücke über die Werra eintreffen, werden sie begeistert gefeiert.

Die Studenten spannen sich selbst vor die Kutschen, um ihren Lehrern auf den letzten Metern ihre besondere Anhänglichkeit und Treue zu bezeugen. Diese Kundgebung bildet gewissermaßen den Auftakt zu einer Welle öffentlicher Solidarität mit dem Schicksal der Göttinger Sieben.

Im Volk zeigt sich eine große Bereitschaft, die aufrechten Professoren in jeder Hinsicht zu unterstützen, auch durch Geldspenden. Jacob Grimm, dem es besonders wenig liegt, gefeiert zu werden, zögert zunächst, fremdes Geld anzunehmen. Dahlmann kann ihn aber davon überzeugen,

nicht durch „eine Weigerung ein warmes vaterländisches Interesse zu ersticken.“[23]

Auch hier zeigt Jakob wieder einmal eine stark ausgeprägte Bescheidenheit und seinen Willen, zweckfrei allein der Sache zu dienen und damit seinem Volk.

In seiner Schrift Jacob Grimm über seine Entlassung 1838, an der auch Wilhelm mitgewirkt hat, stellt er nach Schede (a.a.O.,  S. 208) fest:

Motiviert sei seine Haltung allein durch sein Gewissen und die Verpflichtung für das geschichtlich überlieferte rechtliche Bewußtsein, das er lehre, auch persönlich einzustehen.

Jacob fügt noch einen Vers aus dem Nibelungenlied hinzu: „War sint die eide kommen?“ (Wohin ist es mit den Eiden gekommen?)

Aufschlußreich ist, daß die übrigen Fürsten die Sache sehr zurückhaltend betrachten.

Von Savigny ist Jacob sehr enttäuscht, da er den Schritt der Brüder nicht grundsätzlich gutheißt. Schon seit langem empfindet Jacob,

daß Savigny in Preußen zu sehr Politiker geworden ist, um einfache Gewissensentscheidungen anzuerkennen.[24]

Ein treffendes Beispiel, wie der politische Aufstieg einen charakterlichen Abstieg bewirken kann!

Die Brüder Grimm scheuen sich nicht, Benachteiligungen infolge ihres Handelns hinzunehmen, weil sie sich nur ihrem Gewissen verpflichtet fühlen. Für sie gilt Theodor Storms Ausspruch:

„Der Eine fragt, was kommt danach, der Andre fragt nur, ist es recht,
und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.“

Ein leuchtendes Beispiel für uns alle.


[1] Jacob Grimms Rede auf Wilhelm ein halbes Jahr nach dem Tod des Bruders.
[2] Ruth Michaelis-Jena, Die Brüder Grimm, London 1970, S. 29
[3] Jacob Grimm, Kleine Schriften, Band 1, S. 5
[4] Hans-Georg Schede, Die Brüder Grimm, Hanau 2009, S. 32
[5] Michaelis-Jena, a.a.O., S. 33
[6] Schede, a.a.O., S. 34
[7] ebd., S. 34/35
[8] Schede, a.a.O., S. 46
[9] Schede, a.a.O., S. 65
[10] Röllecke
[11] Michaelis-Jena, a.a.O., S. 45
[12] Theodorf Matthias, Der deutsche Gedanke bei Jacob Grimm in Grimms eigenen Worten dargestellt, Leipzig 1915, S. 81
[13] ebd., S. 83
[14] ebd., S. 94
[15] Schede, a.a.O., S. 93
[16] ebd., S. 94
[17] ebd., S. 98
[18] Brief an Savigny 1814
[19] Schede, a. a. O., S. 108
[20] Jacob Grimm in einem Brief vom 28. September 1816(?)
[21] Schede, a. a. O., S. 156
[22] ebd., S. 199
[23] ebd., S. 205, Brief v. 30.12.1837
[24] ebd., S. 210

 

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