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Fortsetzung von Teil 1

Die Befreiung von den Konventionen ihres Standes

Welch freier, tiefgründiger Geist reift bereits in der jungen Malwida von Meysenbug heran! Damit entfernt sie sich von den Konventionen ihres Standes.

In Frankreich hat sie bald Gelegenheit, einen Strafvollzug mitanzusehen, der entwürdigender nicht gedacht werden kann: An Händen und Füßen Gefesselte werden zur Schwerarbeit angetrieben!

Angesichts dieser zutiefst gedemütigten und gequälten Menschen kommt sie auf Gedanken, mit denen sie ihrer Zeit um über 100 Jahre voraus ist:

In Deutschland ist in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts der Strafvollzug im Sinne des Grundgesetzartikels 1 von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde reformiert worden.

Armut im 19. Jahrhundert (Bild: „Ein Hundeleben“ von Gustave Doré, pinterest.com)

Als Malwida ihr humanitäres Denken in die Tat umsetzt und einen Jungen beim Sterben begleitet, in dessen Zimmer sich kein Prediger hineinwagt, weil der Fäulnisgestank – verursacht durch Knochenfraß am Bein – nicht auszuhalten ist, begegnet sie in ihrer Familie einer „stummen Opposition“.

Sie waren so aufrichtig gut, fromm, mildthätig … und begriffen doch nicht, warum man gerade „so weit“ gehen müsse.

Malwida läßt sich nicht beirren und fährt fort, „die Armen und Unglücklichen zu besuchen …“

Dann begegnet sie ihrer großen Liebe, dem vom Glauben abgefallenen Theologen und bekennenden Demokraten Theodor Althaus, der sich als einer der Vordenker der 48-Revolution einen Namen machen wird.

Beide sind begeistert von ihrer Gleichgesinntheit, die vor allem ihre selbstgewonnene innere Freiheit dem überkommenen Glauben gegenüber betrifft.

Beide streifen auch den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit ab.

Der Bund unserer Herzen wurde doppelt fest und heilig während dieser Verständigungen über die höchsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens …

Malwida aber erlebt, wie sich ihre Familie wieder ein Stück weiter von ihr zurückzieht. Der Umgang mit dem Demokraten Althaus paßt nicht in ihr aristokratisches Weltbild. Theodor Althaus wurde von einigen ihrer Angehörigen geschnitten.

So weit ging der Absolutismus damals in Deutschland, dass in einem solchen Duodezländchen … kein freies Wort, kein gerechter Tadel über Angelegenheiten, die das allgemeine Wohl betrafen, ausgesprochen werden konnte, und dass ein Mensch verpönt wurde, der an den Nimbus dieser kleinen Majestäten zu rühren wagte.

Georg Büchner (Bild: Wikipedia)

Das schildert auch Georg Büchner sehr anschaulich in seinem „Hessischen Landboten“, dem er einen „Vorbericht“ voranstellt. Da heißt es:

Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit melden, aber wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt, ja sogar der, welcher die Wahrheit liest, wird durch meineidige Richter vielleicht gestraft. Darum haben die, welchen dies Blatt zukommt, folgendes zu beobachten:

1. Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses vor der Polizei verwahren;
2. sie dürfen es nur an treue Freunde mittheilen;
3. denen, welchen sie nicht trauen, wie sich selbst, dürfen sie es nur heimlich hinlegen …

Das kommt uns heute doch sehr bekannt vor. Büchner leitet dann seine Botschaft ein:

„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Im Jahr 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft … als hätte der Herr … gesagt: Herrschet über alles Gethier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm (hinzu)gezählt.

Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker …

Das entsprach Malwidas Erfahrungen. In ihrem aristokratischen Umfeld aber fand sie nur noch Ablehnung, selbst aber fühlte sie dabei, daß sie – wie sie schreibt –

eine Individualität wurde, mit Ueberzeugungen und mit der Energie, sie zu bekennen. Ich begriff nun, dass dies mein Verbrechen sei.

Die allgemeine Anerkennung fing an, ihren Werth für mich zu verlieren, und ich sah ein, dass ich hinfort nur mein Gewissen zur Richtschnur nehmen und nur thun würde, was dasselbe mir vorschrieb.

Mit Mathilde Ludendorff gesprochen bedeutet das:

Der göttlichen Richtkraft in ihrer Seele hin auf das Gute, auf Achtung und Wahrung der Würde aller Menschen, hatten sich Gestaltungs- und Wahlkraft hinzugesellt. Sie entschied nun selbst, was sie für gut und richtig zu halten habe.

Und mit Immanuel Kant gesprochen bedeutet es, überhaupt den Mut gefunden zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und sich aus der Unmündigkeit selbst zu befreien.

Ihr Freiheitskampf als Frau

Aber der Kampf wurde alle Tage schwerer,

berichtet Malwida. Mit ihrem von zu Hause abwesenden Vater hatte sie versucht, brieflich ihre Gedanken zur politischen Lage zu erörtern. Aber er hatte darauf nicht geantwortet,

da er diese Dinge als ausserhalb der weiblichen Sphäre liegend betrachtete.

Tief in ihrem Stolz traf sie die Entdeckung, daß er glaubte, ihre politische Einstellung sei nicht das Ergebnis ihres eigenen Beobachtens und Denkens, sondern auf den

beklagenswerthen Einfluss der „unglücklichen Neigung“ für einen Menschen mit excentrischen und falschen Ansichten,

also auf Althaus zurückzuführen, und die Kluft zwischen ihr und dem Elternhaus wurde tiefer und breiter.

Bemerkenswert an dieser Stelle ist vielleicht, daß ihr Vater Freimaurer war und nach Meinung von Malwida „die höchsten Grade des Ordens erreicht“ hatte.

Malwida aber war allmählich gar

im offenen Krieg mit der Welt, in der (ich) erzogen worden war …

Ich hatte den Kampf der Freiheit gegen die absolute Autorität begonnen.

Ihr Freiheitswollen ist so klar, daß sie ihren Freund „mehr als einmal“ – wie sie schreibt – zurückhalten mußte,

wenn er schwören wollte, dass seine Neigung (zu ihr) ewig sein werde. Ich begriff es nicht, dass eine Liebe wie die unsere enden könne, und wenn sie es konnte, wozu half dann ein Schwur?

Und sie endete dann später auch tatsächlich – wegen seiner Untreue.

Als nach dem Tode des Vaters bei der Testamentseröffnung klar wurde, daß das Vermögen viel kleiner war als erwartet, stieg in ihr der Gedanke auf, „selbst ihr Brod erwerben“ zu müssen. Von den Brüdern abhängig zu werden, fiel ihr nicht ein.

Ich fing ohnehin an zu fühlen, dass ich nicht lange mehr mit denen würde leben können, welche meine heiligsten Ueberzeugungen für falsch hielten.

Aber zu gleicher Zeit stand ich betroffen vor der Frage: „Was thun, um mir mein Brod selbst zu erwerben?“ …

Ich hatte viel gedacht … viel gelesen. Aber wusste ich eine Sache so gründlich, um darauf meine Unabhängigkeit zu stützen? Hatte ich eine Fachkenntniss irgend einer Art?

Ich fühlte das Ungenügende meiner Erziehung mit tiefer Pein.

Wir befinden uns nun mit Malwida von Meysenbug im Jahr

1848!

Während so der Horizont meines Lebens düster und verschleiert war, fing derjenige der Völker an, sich aufzuhellen.

Die Zeitungen brachten die Nachricht von Bewegungen in Sicilien und Neapel.

Der harte und verdummende Despotismus, der auf jenen schönen Ländern lastete, schien plötzlich still zu stehen, und ein neues Leben schien bereits aufzublühen.

Meysenbug läßt uns ihre Begeisterung miterleben, wenn sie berichtet:

Die Nachrichten von der Pariser Revolution am 24. Februar waren angekommen! Mein Herz klopfte vor Freude.

Die Monarchie gestürzt, die Republik erklärt, ein provisorisches Gouvernement, das einen berühmten Dichter und einen einfachen Arbeiter zu Mitgliedern zählte – es schien ein himmlischer Traum, und war doch Wirklichkeit. Nur wenig Blut war für so hohen Preis vergossen worden …

Malwidas Angehörigen mag die Erinnerung an die Greuel der Französischen Revolution von 1789 wieder vor Augen gestanden haben, ihrem Stand würde es jetzt auch in Deutschland an den Kragen gehen.

Sie selbst erleidet nun – wie sie berichtet –

Todesqual, mein Glück nicht zeigen zu dürfen, meine Erregung in mein Herz verschliessen zu müssen, es zu sehen, dass man um mich her da, wo ich nur Hoffnungen sah, grosses Unglück erwartete!

Die Familie war nach Frankfurt am Main umgezogen. Von dort berichtet Malwida, was sie als nun 32-Jährige miterlebte:

Der electrische Strom verbreitete sich bald in allen Richtungen.

Deutschland, welches so fest eingeschlafen schien,

erbebte wie von einem unterirdischen Feuer …

Der Fürst der politischen Finsterniss, Metternich, war entflohn! Die Grundlagen des Despotismus schienen überall zu wanken.

Die Stütze des Absolutismus, die Militärmacht, schien unvermögend vor der Begeisterung der Völker, die für ihre Rechte aufstanden. Die drei glorreichen Märztage in Berlin bewiesen es. …

März 1848, Berlin (Bild: Wikipedia)

Die Nachricht, dass ein deutsches Vorparlament sich in Frankfurt versammeln werde, erfüllte mich mit namenloser Freude. Die Stadt war in einer grenzenlosen Aufregung …

Draußen hörte man Waffengeklirr, denn die Bürger eilten in das nahe Zeughaus, um sich zu bewaffnen.

Mir war todesfreudig zu Muthe. Ich hätte gewünscht, dass der Feind draussen vor dem Thore der kleinen Kirche gestanden hätte, und dass wir Alle hinausgezogen wären, Luther’s Choral singend, um für die Freiheit zu kämpfen oder zu sterben. –

… Ich mischte mich unter die Volkshaufen, welche fortwährend die Strassen füllten.

Ich theilte ihre Freude, als man die dreifarbige Fahne auf dem Palais in der Eschenheimer Gasse anpflanzte, wo der deutsche Bund so lange nicht zum Heile, sondern zum Unheile Deutschlands, getagt hatte …

Friedrich Schiller (Bild: Prezi)

Überschäumende Freude der Deutschen

Auch im Theater erschienen die Schillerschen Dramen wieder, die lange von den deutschen Bühnen verbannt gewesen waren.

Ich wohnte der ersten Aufführung von Don Carlos bei. Es war, als finge man jetzt erst an, den edelsten der deutschen Dichter zu begreifen, als spräche seine grosse Seele jetzt zum ersten Mal zu dem erwachenden Vaterland.

In der Scene, wo Posa für die unterdrückten Niederlande Freiheit erbittet und mit dem Zauber seiner schönen Seele sogar des Despoten Herz bewegt, brach der Jubel in un-bändiger Weise aus.

Zu gleicher Zeit tönte Freudengeschrei von der Strasse her.

Alles fragte nach der Ursache; die Antwort wurde laut von Jemand aus dem Parterre verkündet; es zogen eben einige Männer des Vorparlaments in die Stadt ein, welche Jahre lang Märtyrer ihrer freien Ansichten gewesen waren.

Das Volk hatte ihnen die Pferde abgespannt und zog sie im Triumph durch die Strassen. Ein Rausch des Entzückens war in Aller Herzen.

Der Römer, Frankfurt am Main (Bild: Wikipedia)

Sie schildert dann das herrliche Wetter und die vielen Blumen, mit denen die Stadt geschmückt war, und

die Eisenbahnen, die Dampfschiffe, mit Fahnen und Blumen geschmückt, die unaufhörlich Schaaren fröhlicher Pilger [heranbrachten, so daß in Frankfurt so viele Menschen versammelt waren,] wie selbst in den Tagen des Ruhmes bei den Kaiserwahlen nicht …

In dem alten Kaisersaale sollte das Vorparlament sich constituiren, seinen Präsidenten wählen und von da sich in die Paulskirche begeben, die in Eile für die Sitzungen zubereitet war.

Endlich nahte der Zug der Abgeordneten, die, je zwei und zwei, auf dem offen gehaltenen Pfad entblössten Hauptes und nach allen Seiten die jubelnde Menge grüssend zum Römer gingen.

Vor allen wurden die Männer aus Baden mit freudigem Zuruf begrüsst, die schon lange als Vorkämpfer einer freieren Zukunft bekannt waren.“

Doch Meysenbug überlegt auch:

Wohl mochte auch die Furcht manches Herz bewegen, aber sie schwieg vor der Freudenfülle des Tages, und

die Bosheit stand, im Stillen lauernd, um ihr geheimes und gefährliches Spinnennetz zu weben, in welchem die sorglos Freudigen und die übereilt Sicheren zur bestimmten Stunde wieder gefangen werden sollten.

Als vom großen Fenster des Römer der Name des Präsidenten des Vorparlaments ausgerufen wurde,

ein Name, der Allen, welche die Freiheit liebten, bekannt und lieb war [es handelt sich um Carl Joseph Anton Mittermaier] da blieb kein Auge trocken:

Einzug der Abgeordneten des Vorparlamentes in Frankfurt am Main am 31. März 1848 zur Paulskirche (Bild: Wikipedia)

Wer hätte nicht gehofft, … dass das deutsche Volk, das Volk ernster Denker, so unterrichtet, so ruhig besonnen, mündig sei und die Verantwortlichkeit für seine Zukunft selbst in die Hand nehmen könne?

 Niemals hatte ich Deutschland so heiss geliebt.

Noch vor einigen Wochen hatte ich gewünscht, in dem sich erhebenden Italien zu sein.

Jetzt hätte ich um keinen Preis von Deutschland weg gemocht; ich fühlte mich mit allmächti-gen Liebesbanden daran geknüpft und war überzeugt, dass nirgends die Entwicklung so vollständig und schön sein würde.

Paulskirchen-Parlament 1848 (Bild: Wikipedia)

Frauen sind indes bei den Sitzungen des Vorparlamentes – auch als Zuschauerinnen – unerwünscht.

Malwida kann sich in den oberen Rängen hinter Vorhängen verstecken und die Debatten der Herren Abgeordneten verfolgen. Sie schreibt:

… auf der Rednerbühne daselbst ertönten herrliche Reden, in welchen die edelsten Ansichten über die höchsten Fragen der Menschheit entwickelt wurden.

Man sah es bei dieser Gelegenheit recht, welch ein Volk von Denkern das deutsche Volk gewesen war, und wie schnell dem vorbereitenden Gedanken sich nun die Worte, ja glänzende Rednergaben zur Verfügung stellten, wie andere Völker sie erst in langer parlamentarischer Uebung entwickeln.

Noch war auch jedes Herz gläubig und zweifelte nicht, dass dieser glänzenden Reife der Anschauungen, diesem hohen Flug der Gedanken das praktische Können zur Seite stehen werde.

Die Grundrechte des deutschen Volkes erschienen, kurz, prägnant, Alles umfassend, was ein Volk braucht, um glücklich und mächtig zu werden.

Sie wurden, als Flugblätter gedruckt, durch ganz Deutschland verbreitet, und es gab fast keine Hütte, wo man sie nicht an die Wand angeschlagen und voller Hoffnung gelesen hätte. …

Die schönste der Frankfurter Verhandlungen war die über den öffentlichen Unterricht.

Was Fichte und andere Patrioten einst verlangt hatten, war erfüllt, ja übertroffen …

Ein Volk von vierzig Millionen Seelen hatte nicht nur durch die Grundrechte die Garantie Alles dessen, was zu einer menschlichen Existenz gehört, erlangt, durch die Annahme der Beschlüsse über den öffentlichen Unterricht erhielt es auch die Garantie eines geistigen Lebens durch das Mittel der Erziehung.

Wissenschaften und Künste sollten nicht mehr von den begünstigten Klassen monopolisiert werden; ihr tröstendes Licht sollte in die Hütte des Armen, wie in den Palast des Reichen, dringen.

Der Unterricht war obligatorisch. Bis zu einem gewissen Alter durften die Kinder nicht zu einer andern Arbeit als der der Schule verwendet werden …

Also erstmals: Schluß mit der Kinderarbeit! Dafür Beschulung aller Kinder in Deutschland.

Die Reaktion siegt

Familie Meysenbug aber beschließt, Frankfurt zu verlassen. Malwida war es

wie ein Todesurtheil …

Malwida von Meysenbug 1847 (Bleistiftzeichnung ihrer Schwester Laura, Bild: Kassel-West e.V.)

Ich wusste, dass ich eine grosse Kraft der Entsagung besass für Alles, was die Menschen gewöhnlich Glück nennen.

Aber dem entsagen, was das geistige Leben fördert – sich ausschliessen müssen von den grossen Ereignissen des Lebens der Menschheit, von den Eindrücken, welche uns über uns selbst und die Kleinheit der Existenz erheben – das war für mich stets der untragbarste Schmerz und schien mir die wahre Sünde wider den heiligen Geist.

Das grosse Recht der Individualität an Alles, was ihr nöthig ist, um Alles zu werden, was sie werden kann, stellte sich mir in bitterer Klarheit dar.

Dass es erlaubt sei, jede Autorität zu brechen, um dieses Recht zu erobern, war mir keinem Zweifel mehr unterworfen.

Der letzte Satz ist einer, wie wir ihn auch von den 68ern des 20. Jahrhunderts kennen. Und es sind Worte, wie sie deutlicher nicht auf die zersetzenden Kräfte der Gleichmacherei weltmachterstrebender überstaatlicher Kräfte gesagt werden könnten.

In der Tat, stand die Freimaurerei mit ihrer Absicht, die Völker zu zerstören, um eine Weltdiktatur zu errichten, hinter dem klar auf Tag und Stunde angesetzten Ausbruch der Revolution in ganz Europa.

Diesen Kräften ging es in Wahrheit nicht um die göttliche Freiheit zur Entfaltung jeder Persönlichkeit, die ihre Grenze an der Freiheit aller anderen findet.

Diese Kräfte wollten den Umsturz, wollten die Völker nicht allein von Unterdrückern und Blutsaugern in Gestalt gewisser Monarchien befreien, sie wollten die Völker aller, auch ihrer tüchtigen Königshäuser berauben.

Davon scheint Meysenbug nichts geahnt zu haben. Ihre deutsche Seele verstand unter denselben Worten etwas ganz anderes als die rassistischen Völkerverderber. Sie wollte dem Volk helfen. Ihr ging es um Moral.

Aber leider gehört zu der Erreichung dieser moralischen auch die öconomische Unabhängigkeit …

Zum ersten Mal stellte sich in meinen Gedanken die Nothwendigkeit der öconomischen Unabhängigkeit der Frau durch ihre eignen Anstrengungen fest.

Meysenbug, jetzt immerhin 32 Jahre alt, erlebt

„die Tyrannei der Familie,

die sich in diesem Fall noch auf den bedauernswerthen Grundsatz stützte, dass die Frau nicht für sich selbst denken, sondern auf dem Platz, den ihr das Schicksal angewiesen hat, bleiben soll, einerlei ob ihre Individualität dabei untergeht oder nicht.

Die Familie macht den Fehler, stur-reaktionär am Hergebrachten zu klammern, in der Annahme, nur dieses starre Korsett halte die Ordnung aufrecht. Doch was für eine Ordnung ist das denn?

Malwida befreit sich, indem sie zu einer Freundin nach Berlin zieht. Sie berichtet:

Die preussische Kammer in Berlin war noch der einzige leuchtende Punkt, der von der Revolution übrig war; das Frankfurter Parlament ging zu Grunde seit der Wahl des Reichsverwesers, Johann von Oesterreich.

Die Freiheit der Entwicklung war von diesem Augenblick an vorbei und die Reaction zog mit vollen Segeln, unter dem Schutz des österreichischen Absolutismus und Jesuitismus wieder ein.

In Berlin hielt die radicale Partei noch Stand und kämpfte tapfer. …

Ich ging natürlich oft in die Kammersitzungen und wohnte Verhandlungen von höchstem Interesse sei, wo der entschiedenste Radicalismus stets den Sieg behielt.

Die Abschaffung der Todesstrafe und des Adels wurde mit großer Majorität beschlossen. Man ging viel gerader auf das Ziel los wie in Frankfurt.

Auflösung des Rumpfparlaments am 18. Juni 1849 in Stuttgart: Württembergische Dragoner treiben die Demonstration der ausgesperrten Abgeordneten auseinander (Buchillustration von 1893; Wikipedia).

Doch bald gab es Zeichen, die „einen Gewaltstreich gegen die Abgeordneten“ befürchten ließen.

Dass man die Kammer auflösen und Berlin in Belagerungszustand erklären werde, schien abgemacht, nach den Truppenmassen zu urtheilen, die zusammengezogen wurden.

Die Aufregung unter den Arbeitern und den Studenten war ungeheuer.

Wir hatten uns am Nachmittag auf den Platz begeben, wo die Kammer tagte, und standen mit einer Menge Arbeitern, alles ernste, entschlossene Menschen, zusammen, denen wir mittheilten, was wir durch den Deputirten wussten.

Plötzlich ertönte militärischer Lärm, und zu gleicher Zeit rückte von mehreren Seiten her Cavallerie heran und fing an, den Platz zu besetzen.

Den Abgeordneten wurde befohlen, auseinander zu gehen, und sie, nur der Gewalt weichend, zogen nun in geordneter Procession zum Hause hinaus über den Platz, um sich dann zu vertheilen.

Es war ein trauriger Anblick, und uns Allen, die wir da standen, kochte das Blut vor Empörung und Schmerz.

Schweren Herzens verläßt sie Berlin, um noch einmal zur Mutter zurückzukehren. In Potsdam macht sie Zwischenstation und sieht an den eingeschüchterten Gastgebern:

Der Geist, der die Märztage hervorgerufen hatte, war im Erlöschen. (Sie meint den echten ehrlichen Freiheitsgeist.) Der Fall von Wien, der Belagerungszustand in Berlin hatten den Glauben an die Revolution erschüttert. Die Reaction siegte.

Auf der Weiterreise erfährt sie aus erster Hand, wie die Reaktion alles eingefädelt hatte:

Ausser mir waren im Waggon nur zwei Herren, die ich gleich für Mitglieder der äusserten Rechten des aufgelösten Parlaments erkannte.

Ich hatte die Augen geschlossen, schlief aber die ganze Nacht nicht.

Die Herren, die sich mit einer Schlafenden allein glaubten, sprachen ohne Rückhalt zusammen.

Sie kehrten nach Hause zurück, freuten sich, dass „die Geschichte“ vorüber sei, dass die Tage der Ordnung wiederkehren würden, und dass der Pöbel nun endlich haben werde, was er verdiene.

Der, der ganz eingeweiht schien in das geheime Getriebe der „höhern Politik“, erzählte mit Wohlbehagen, wie die Auflösung der Kammer und der Belagerungszustand längst vorbereitete Massregeln gewesen seien und wie man nur die Rückkehr der Truppen aus Schleswig-Holstein und „das Ende dieser Geschichte“ abgewartet habe, um gegen die Revolution in der Hauptstadt selbst vorzugehen …

Ich erkannte in dem allen, wie stark die Reaction sei und wie sie systematisch die Netze ausgestellt habe, um die Revolutionäre zu fangen.

Die „äußerste Rechte“ war auf ihre Weise so freiheits-feindlich wie die jahweistische Freimaurerei und der Jesuitismus.

Rückblick und Zusammenfassung

Meysenbug gereift (Bild: Spiegel online)

Durch viele Lebensstürme gereift, blickt sie später sehr differenziert auf 1848 zurück:

… wie Viele, wie Unzählige, die zur herrlichsten Entwicklung berufen gewesen wären, gehn auch verloren in der Masse, durch Mangel an Mitteln, und in jedem Falle: war nicht das Leiden da, das tiefe Elend, und fühlten das nicht Alle? Musste da nicht geholfen werden? –

… wir, die wir alle Idole und falschen Götter zertrümmert zu haben meinten, (hatten) uns freiwillig einen neuen Götzen geschaffen … : das Volk nämlich.

„Das Volk“

war der Refrain der demokratischen Phrase geworden, als wenn es ein Wesen höherer Art, eine bisher verkannte Gottheit sei, als wenn von ihm der Inhalt der neuen Weltlehre ausgehn und eine verklärtere Moral an die Stelle der alten gesetzt werden würde.

Was die Massen, das sogenannte Volk, in ihrem bisherigen Zustand waren, das hatten wir in den Jahren Achtundvierzig und Neunundvierzig gesehen: ein Werkzeug in den Händen geschickter Führer.

Was sie mit der Freiheit anzufangen wussten, ohne dafür erzogen zu sein, das bewiesen die Plebiscite in Frankreich.

Dass in diesen unwissenden brutalen Massen auch schöne menschliche Empfindungen, erhabne Tugenden, rührende Entsagung und Selbstverleugnung vorkommen, dass Talente aller Art dort im Keime vorhanden sein könnten, wer hätte es leugnen wollen?

Worauf kam es also an?

Nicht darauf, die rohe Masse, als solche, zur Herrschaft zu erheben, wie die Demokratie es ihr schmeichelnd versprach, sondern die Wege zu öffnen, die Rechte festzustellen, die Institutionen zu gestalten, damit Arbeit und Verdienst für Alle da sein und in die dumpfe Oede der Lastthierexistenz der beglückende Strahl wahrer Bildung dringen könne.

Dieses that und thut noth, aber nicht nur nach Unten, sondern auch nach Oben hin, um alle Stände zu vereinen zu einem Volk, das sich in freudiger Anerkennung um seine Genien und Heroen schaare und in ihrem segenspendenden Lichte beglückt lebe; wie es denn ja, nach dem Genius selbst, das Grösste ist, den Genius zu erkennen und zu lieben.

Aus reicher eigener Lebenserfahrung setzt sie also in Gegensatz:

• auf der einen Seite das Volk, das sich aus seelisch hochstehenden, freien Einzelpersönlichkeiten zusammensetzt und geeint ist in seiner Genialität und Kultur,
• und auf der anderen Seite die leichtverführbare sogenannte „Masse“ – auch hier ganz die eigenständig denkende, klarsehende deutsche Idealistin Malwida von Meysenbug.

Fortsetzung folgt

 

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Kersti
Kersti
5 Jahre zuvor

Die leicht verführbare Masse habe ich gestern in einem Sender in einer Schlagersendung sehen können. Es war zum Fremdschämen. Die Masse ist wirklich dumm, da hilft auch kein obligatorischer Schulunterricht. Deshalb können auch wenige einen Umsturz bewirken.

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