„Kommt ein Vogel geflogen …“
Samstag, 6. August 2022 von Adelinde
Ganz wie die Mutter Gerhard Brackes, der den folgenden Text einsandte, so sang auch meine Mutter uns Kindern und später ihren Enkeln das einfache, aber so tiefsinnige, gemütvolle Volkslied-chen immer wieder einmal vor.
Unvergessen – und ein Schatz im Gemüt bis ins hohe Alter!
Man fragt sich, was Mütter heute ihren Kindern ins Gemüt senken und fürs Leben mitgeben. Ob da-runter noch unser schlichtes Liedchen sein wird?
Gerhard Bracke
geht dem traurigen Hintergrund des Liedes nach:
Text und Melodie des bekannten Kinderliedes sind mir seit dem ersten Lebensjahr vertraut, da meine Mutter es mir öfter vorgesungen und mich dabei zum Mitsingen angeregt hatte:
Kommt ein Vogel geflogen,
Setzt sich nieder auf mein‘ Fuß,
Hat ein Briefchen im Schnabel,
Von der Mutter ein‘ Gruß.
Lieber Vogel, fliege weiter,
Nimm mein‘ Gruß und einen Kuß,
Denn ich kann dich nicht begleiten,
Weil ich hier bleiben muß.
Und daran erinnere ich mich genau, daß meine Mutter sinnigerweise die Variante für sich erfand „… von der Oma einen Gruß“. Die Vorstellung von räumlicher Trennung wurde sogleich sinnvoll vermittelt. Daß aber neben räumlicher Trennung eine stille Sehnsucht in dem Lied mitschwingt, wurde mir damals nicht bewußt.
Erst 2022 vernahm ich zufällig im Rahmen einer Radiosendung die mir bis dahin unbekannte Deutung, die auf einen ge-schichtlichen Zusammenhang mit der in frü-heren Zeiten verbreiteten Müttersterblich-keit infolge Kindbettfiebers hinweist.
So sagt die zweite Strophe in der Ich-Form aus, daß ein Waisenkind „hier bleiben“, allein mit dem Leben zurechtkommen, auf der Erde allein seinen Standort finden muß.
Die Beschäftigung mit Geschichte und Her-kunft des Liedes vertieft diese Zusam-menhänge, wenn man im Internet den Spuren folgt.
Erstmals belegt ist das Lied in Form einer Parodie 1824 in der Liederposse „Die Wiener in Berlin“ von Karl von Holtei (1798 – 1880), Schriftsteller, Schauspieler, Rezitator, Thea-terregisseur und Theaterleiter.1
Offensichtlich diente als Vorlage ein älteres österreichisches Lied, denn in der Berliner Uraufführung der Liederposse von 1824 for-dert ein in Berlin lebender Wiener seinen Sohn auf, „das Lied‘l, was die seelige Frau Muder immer g‘sungen hat, – vom Zetterl im Goscher‘l“ zu singen.
Beide stimmen sogleich „Kommt a Voger‘l geflogen“ an. Holtei hat das Lied, das in Wien schon vor 1824 bekannt gewesen sein muß, wie im Text selbst angedeutet, auf sechs Strophen angelegt. Die auf die Handlung unmittelbar bezogene 5. Strophe fällt dabei aus dem Rahmen:
„In der Fremd‘ seyn d‘Wiener
Und d‘Wiener seyn harb,
Machen damische Mienen,
Weil’s Muetterli starb“.Unerwartet, gleichsam verschlüsselt taucht in befremdlichem Zusammenhang hier das To-desmotiv auf.
Karl Eduard von Holtey (so die ursprüngliche Schreibweise) entstammte einer Offiziers-familie kurländischen Adels und wurde am 24. Januar 1798 in Breslau geboren, als Sohn des Husarenoffiziers Karl von Holtey (1766 – 1845) und dessen erster Ehefrau Wilhelmine Gottliebe geb. von Kessel (1773 – 1798).
Da die Mutter am 4. Februar 1798 am Kindbettfieber starb, wurde der Junge der jüngeren Schwester der Mutter, Dorothea Marianne Eleonore Baronin von Arnold geb. Freiin von Seydlitz-Golau (1779 – 1821) vom Vater anvertraut und von ihr erzogen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Karl von Holtei zu den populärsten Gestalten der deutschsprachigen Literatur und hatte Kontakt zu vielen berühmten Zeitgenossen wie Fürst Metternich, Alexander von Humboldt, Gustav Freytag, Franz Grillparzer, Joseph von Eichendorff, Johann Wolfgang Goethe, Clara Schumann.2
Daß Karl von Holtei die ältere Vorlage von Johannes Strolz, die 1807 in einem Artikel über die „Schnodahaggen“ im Tiroler Unter-inntal erschienen war, in Form einer Lie-derposse parodistisch gestaltete, verwundert vielleicht. Man kann darin aber auch ein Zeichen innerer Distanzierung zur Überwin-dung des Tragischen seiner eigenen müt-terlichen Geschichte sehen, die möglicher-weise mit unbegründeten Schuldgefühlen verbunden war.
Die verborgene Ernsthaftigkeit des Kinder-liedes „Kommt ein Vogel geflogen“ wird in einer weiteren Strophe aufgegriffen, die der Sänger Mark Forster 2014 veröffentlichte.3
„Und der Vogel flog weiter
Über Berge und Tal,
Und die Kinder am Fenster
Sahen traurig ihm nach.“Mit einem allzu auffälligen Paradigmenwech-sel von der Gegenwart in die Vergangenheit wird das Lied zugleich aus der Ich-Form ins Allgemeine transformiert. Ob beabsichtigt oder nicht:
Diese Plural-Variante weist ebenfalls auf einen tragischen Hintergrund hin. Denn die Deutung erscheint naheliegend, daß die Kinder „am Fenster“ mit Aussicht auf das Leben stehen, jene Kinder, denen selbst aber der Zugang zum Leben „nachhaltig“ verwehrt wird, weshalb sie dem sich entfernenden Vogel „traurig“ nachblicken.
Auch in diesem Zusammenhang könnten Schuldgefühle im Einzelfall aufkommen, al-lerdings nicht bei den Kindern.
Thematisiert werden hier ebenfalls Unwie-derbringlichkeit und Verlust durch Trennung und Entfernung. Jedoch erhielte das schlichte Lied durch die „aktualisierte Variante“ eine ganz andere, eine „moderne“ Dimension.
Die kindertümliche Ursprungsfassung vom geflügelten Boten ist bis heute populär ge-blieben, wurde andererseits häufig auch zu politischen Zwecken parodiert:
Die Zeitschrift „Kladderadatsch“ veröffent-lichte z. B. 1920 eine aktuelle Umdichtung, die den unversöhnlichen Geist nach dem Ersten Weltkrieg widerspiegelte. Darin wurde die Regelung angeprangert, derzufolge im Postverkehr in die ehemaligen preußischen, nun polnischen Gebiete nur polnische Orts-namen erlaubt waren. 4
Als Objekt scherzhafter Verfremdung wurde die Melodie musikalisch auch beliebt in Form des Klavierstückes „Ein deutsches Volkslied, ’s kommt ein Vogel geflogen‘ im Style älterer und neuerer Meister“ (1885) von Siegfried Ochs (1858 – 1929), darunter u.a. in der cha-rakteristischen Art von Richard Wagner.
Die bekannteste Komposition des seinerzeit prominenten Berliner Chorleiters, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert für Or-chester bearbeitet worden war, ist auch heute noch auf Tonträgern erhältlich.5
Die Lockerheit all dieser „Spielarten“ verdeckt im Grunde den vermutlich ernsten Hinter-grund bei der Entstehung des Bildes vom Vogel mit dem „Briefchen“ (in anderer Lesart: mit dem „Zettel“) im Schnabel als Gruß von der Mutter.
Mein eigenes Erleben, Schicksal erkenne ich hier.
Nein, bei der Schulschwester (katholisch) haben wir das auch nicht gesungen, aber bei Muttern. Klar, ich fragte, was wohl in dem Brieferl drin gstanden hat. Na, Mutti hat denn eine schöne Geschichte parat gehabt…
Unsere Mutter hatte dasselbe Schicksal; meine Oma starb nach der Geburt meiner Mutter. Irgendwann bei einem meiner Besuche bei ihr „gestand“ sie mir: „Junge, ich konnte Euch nie in den Arm nehmen!“ Allein daß ich dieses Geständnis bis heute nicht vergaß, weist auf das tiefgreifende hin, bei ihr und bei mir. Ich bin überzeugt, daß diese Tatsachen – bei ihr und bei mir – den Menschen anders sein lassen. Denn wenn etwas fehlt, dann sehnt man sich danach.
Und wie ist das heute?
Doch, ja man singt noch…im Kindergarten; was? Manches ist merkwürdig bei den Kindergartenliedern, nicht bei allen.
Bei diesem Adelinde-Beitrag kommt bei mir die Frage auf, wie und mit welchen Inhalten werden heute Kindergärtnerinnen ausgebildet; und wie werden die Elternpaare in das Kindergartengeschehen mit einbezogen?
Als Nikolaus im Kindergarten verteilte ich an die Eltern ein von mir selbst gemachtes, kleines Lieder- und Spieleheft. lch bekam hierüber Null Resonanz, nie… (!!!)
Meine Oma sang mit den Hausbewohnern noch auf ihrem Hof, meine Mutter sang mit mir auch dieses Lied, ich mit meinen Kindern, aber die schon nicht mehr mit den Enkeln.
Im Altenheim bei meinem demenzkranken Onkel war noch etwas wie Vergangenheit an Möbeln und Hausrat konserviert worden, der wurde gefüttert, und der Pfleger sang dabei dieses Lied „Kommt ein Vogel geflogen…“ Grotesk wie alles heute. Heute früh beim Hundespaziergang hatte ich den Gedanken, warum die Kirche ihren Erlöser am Todeskreuz anbetet, ist auch mehr als grotesk, oder?
Das Gute wird durch die Minusseelen ins Gegenteil verkehrt.