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Der in verschiedenen erhellenden Abhandlungen zur neueren Geschichte bei Adelinde bereits bewährte und bekannte

Historiker Gerhard Bracke

hat in den „Deutschen Annalen 2019“, dem bei Druffel & Vowinckel herausgegebenen „Jahrbuch des Nationalgeschehens“, einen vortrefflichen Beitrag erbracht mit dem Titel

Von der Geschichtswissenschaft zur Geschichtspolitik

Seine wichtigen Gedanken und Schlüsse zu den heute zwar „politisch korrekten“, aber extrem entstellenden Darstellungen deutscher Geschichte, den volkspädagogischen“ Vorgaben, sollen hier in Auszügen und mehreren Folgen vorgestellt werden.

In dieser 1. Folge zeigt Bracke, was nach dem

Bild: zvab.com

„Vater der objektiven Geschichtsschreibung“ Leopold von Ranke

eine Geschichts-WISSENSCHAFT in Wirklichkeit ausmachen sollte. Lesen Sie Bracke selbst:

„Die Forschungsarbeit des Historikers verlangt drei Voraussetzungen:

1. Den inneren Trieb, Fragen an die Vergangenheit zu stellen – also nicht nur rezipierend Geschichte in sich aufzunehmen, sondern aktiv an der Entstehung und Vervollkommnung des gültigen Geschichtsbildes mitzuwirken.

2. Die natürliche Begabung und den Sachverstand, die Erkenntnisquellen aufzuspüren, die zur Beantwortung der gestellten Fragen verhelfen können.

3. Die  kritische Fähigkeit, die gefundenen Quellen fehlerfrei auszuwerten, d. h. ihnen durch einen Schleier von Entstellung und Lückenhaftigkeit, von Verworrenheit und  Mehrdeutigkeit, von Widersprüchen, Tendenzen und Lügen ein möglichst hohes Maß von wahren Aussagen abzuzwingen.

Um diese Voraussetzungen zu erfüllen, bedarf es nicht nur einer bestimmten geistigen Veranlagung und einer bestimmten wissenschaftlichen Allgemeinschulung, sondern auch der – theoretischen und praktischen – Beherrschung einer Anzahl mehr ‚handwerklich‘-methodischer Fähigkeiten und Sachkenntnisse, die zum Teil aus anderen wissenschaftlichen Bereichen beschafft werden müssen. Diese Bereiche handwerklicher Voraussetzung und Übung stehen gegenüber der wissenschaftlichen Hauptaufgabe der historischen Arbeit in einer mehr oder minder dienenden Funktion: sie sind Hilfswissenschaften der Geschichte.“

Mit dieser klaren Definition der Aufgabenstellung des Historikers und seines wissenschaftlichen Grundverständnisses leitet der Mediävist Ahasver von Brandt das Kapitel „Grundlagen der Forschung“ in seinem 1957 zuerst erschienenen, bis heute grundlegend gebliebenen Buch „Werkzeug des Historikers“ ein.[1] Der damalige Archivdirektor der Hansestadt Lübeck lehrte zugleich diese Hilfswissenschaften, u.a. Paläographie, an der Hamburger Universität.

Den Geschichtsstudenten wurden und werden diese Voraussetzungen beim Studium, beginnend in den Proseminaren, so vermittelt, daß sie später in der Lage sein müßten, an der „Vervollkommnung des gültigen Geschichtsbildes“ mitzuzwirken.

Nach dem wissenschaftlichen Selbstverständnis sollte der Historiker ebenso wie der Naturwissenschaftler von der Ergebnisoffenheit seiner Forschungsarbeit ausgehen, um zu einer möglichst objektiven Geschichtsschreibung in der Lage zu sein.

Dem unbestechlichen Wahrheitswillen ist die größtmögliche Annäherung an die Verwirklichung solcher Grundprinzipien durchaus keine Utopie, trotz der Tatsache, daß kein Forscher die subjektiven Momente seines Bestrebens wird gänzlich ausschließen können. Allein die Auswahl der Gegenstände seines Forschens durch das besondere historische Interesse spielt dabei eine Rolle und natürlich der persönliche Standort des Forschenden.

Einem so verdienstvollen Historiker des 19. Jahrhunderts, wie dem Ranke-Schüler Heinrich von Sybel (1817-1895), Gründer der „Historischen Zeitschrift“, 1875-95 Direktor der Preußischen Staatsarchive in Berlin, der bis heute nachwirkende Grundlagen für die deutsche Geschichtswissenschaft legte, blieben zahlreiche wissenschaftliche Kontroversen aufgrund seiner gemäßigt liberalen und kleindeutsch politischen Überzeugung nicht erspart.

Aber – und darin zeigt sich die innere Einstellung eines um Objektivität bemühten Wissenschaftlers – in einem seiner Hauptwerke „Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ (1889-1894, 7 Bde.) betont v. Sybel, dem die Möglichkeit gegeben war, „nach den Documenten, welche im Gange der preußischen Action erwachsen waren oder denselben bestimmt hatten, die Geschichte jener Jahrzehnte zu schreiben“, ausdrücklich:

„Mit Freude würde ich für jede weitere Belehrung und spezielle Berichtigung dankbar sein, wenn … das Erscheinen dieses Buches auf andern Seiten archivalische Mittheilungen und damit eine Erweiterung unserer historischen Kenntniß veranlaßte.“

Und dann folgen einige Sätze, wie man sie heute wohl kaum in entsprechenden historiographischen Arbeiten finden dürfte:

„An keiner Stelle des Buches habe ich meine preußischen und nationalliberalen Überzeugungen zu verläugnen gesucht. Jedoch wird man, wie ich hoffe, mein Streben nicht verkennen, die im eignen Lager vorgekommenen Fehler und  Mißgriffe ohne Beschönigung einzugestehen, das Verhalten der Gegner aber gerecht und billig zu beurtheilen, oder mit andern Worten, die Motive ihres Thuns nicht aus Thorheit oder Schlechtigkeit abzuleiten, sondern nach den historischen Voraussetzungen ihrer ganzen Stellung zu begreifen.“[2]

Über dem eigenen Standpunkt hat nach diesem Maßstab dennoch die Sachlichkeit als oberstes Prinzip zu stehen.

Als „Vater der objektiven Geschichtsschreibung“ zählt Leopold von Ranke zu den bedeutendsten deutschen Historikern, denn er hat mit Einführung des Individualitätsgedankens und dem Anspruch auf Objektivität die Geschichtswissenschaft nicht nur des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt.

Sachlichkeit für die gesamte historische Forschungsarbeit wurde zum obersten Grundsatz erhoben.

Ranke, den die Geschichtswissenschaft daher immer noch als größten Vertreter einer sachlichen Geschichtsbetrachtung verehrt, wurde am 21. Dezember 1795 in Wiehe an der Unstrut im damaligen Kursachsen geboren.

Von 1814 bis 1818 studierte er Philosophie und Theologie (allerdings mehr Geschichte als diese) an der Universität Leipzig, war dann bis 1825 Gymnasiallehrer in Frankfurt an der Oder.

Großes Aufsehen erregten in der Fachwelt wissenschaftliche Arbeiten über geschichtliche Fragen, die Ranke als junger Fachlehrer veröffentlichte. Sein Erstlingswerk „Die Geschichte der germanischen und romanischen Völker“ brachte ihm 1825 die Berufung als außerordentlicher Professor für Geschichte an die Universität Berlin.

In den Jahren 1827 bis 1831 lernte er durch gründliche Quellenstudien in den Archiven Wiens und einer Reihe italienischer Städte eine große Zahl historischer Urkunden kennen und dabei Echtes von Unechtem zu unterscheiden. Ranke legte damit den Grund für sein umfassendes Wissen auf dem Gebiet der europäischen Geschichte.

Daß Ranke 1832 bis 36 auch Schriftleiter und Herausgeber der „Historisch-politischen Zeitschrift“ war, ist im Rahmen unseres Themas bemerkenswert. Seit 1834 Ordinarius, hatte er bis 1871 seinen Lehrstuhl inne.

1841 wurde Leopold v. Ranke zum Historiographen des preußischen Staates berufen und hatte damit die Quellen für eine Geschichte Preußens zu sichten. Zwischen 1841 und 1874 veröffentlichte er insgesamt 24 Bücher über preußische Geschichte. Zuvor hatte er in drei Bänden eine Geschichte des Papsttums im 16. und 17. Jahrhundert herausgegeben, außerdem eine sechsbändige deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation.

Als Ranke die Geschichte der Päpste schreiben wollte, wurde ihm jedoch im vatikanischen Archiv, wie er schrieb, „die Freiheit, die ich mir gewünscht hätte, keineswegs gewährt.“[3] Und trotz seiner zurückhaltenden Sachlichkeit wurde das Werk „Die römischen Päpste“ auf den Index gesetzt.

1858 übernahm Ranke den Vorsitz der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Nach Beendigung seiner akademischen Laufbahn 1871 widmete er sich  bis zu seinem Tode 1886 seiner „Weltgeschichte“ und der Herausgabe seiner „Sämtlichen Werke“.

Das reiche Lebenswerk umfaßt zusammen mit der französischen und der englischen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts sowie seiner bis zum Ende des Mittelalters reichenden Weltgeschichte die stattliche Zahl von 54 Bänden.

Stets hielt er an dem Grundsatz fest, „zu sagen, wie es eigentlich gewesen sei“.

In dem Bemühen, nur zur Sache Gehörendes zu berichten und dem Leser seiner Werke die Beurteilung eines Zeitabschnitts selbst zu überlassen, hoffte Ranke mit der Forderung nach Objektivität in der Darstellung Tendenzen zu überwinden, wie sie  teilweise in der Geschichtsphilosophie zutage getreten waren oder in den Geschichtswerken der Aufklärungszeit.

Es lag ihm fern, die Leser zu bevormunden oder tendenziös zu beeinflussen.

Vielmehr hielt er sie für mündig, in der Überzeugung, daß sie auf der Grundlage der übermittelten geschichtlichen Tatsachen und der Erhellung historischer Zusammenhänge sich ihr eigenes Urteil zu bilden in der Lage sind.

Ranke versuchte die Vergangenheit aus der Vergangenheit heraus zu verstehen, nicht aber, wie das heute meist üblich ist, von der Gegenwart aus zu werten. Folgerichtig schließt Rankes Geschichtsbetrachtung auch jedes moralische Werturteil oder jede Wertbeziehung zur Gegenwart aus:

„Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“, sagt er, „und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst.“

Deshalb äußerte Johannes Scherr bei aller Verehrung wegen dieser sachlichen Zurückhaltung etwa in der Darstellung der Gestalt der Katharina von Medici (Bartholomäusnacht 1572) berechtigte Vorbehalte.

Ranke hat aber für die Dokumentation seiner geschichtlichen Abhandlungen ein Quellen- und Urkundenstudium  betrieben wie kein anderer Geschichtsforscher vor ihm. Er förderte Urkunden zutage, von deren Existenz noch niemand Kenntnis hatte, und er bewies die Falschheit anderer, die bisher als historische Dokumente galten.

Von dieser Konsequenz einer Quellenkritik sind wir heute aus Gründen unwissenschaftlicher Rücksichtnahme oft weit entfernt!

Bild: tour-de-kultur.de

Rankes Forschertätigkeit verband sich außerdem mit dem Bestreben, andern die Urkunden zugänglich zu machen, Zusammenhänge zu erkennen und das Wesentliche einer Epoche darzustellen sowie die Charakterzüge eines Volkes herauszuarbeiten.

Weil für Ranke die Tatsachen wichtiger waren als eine eher zweitrangige Analyse der Gegebenheiten und Strukturen, wurde ihm in einer Zeit sich entwickelnder moderner Sozialwissenschaften vorgeworfen, in der Geschichte die Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte verkannt zu haben.

Sein Blick war hauptsächlich auf die staatlich-politische Ordnung gerichtet. Gesellschaftliche Faktoren fanden in seinen Werken nur dann Berücksichtigung, wenn sie sichtbar in das politische Geschehen eingriffen und die staatliche Ordnung umgestalteten. Gegenstand einer sozialgeschichtlichen Analyse wurden sie nicht, und deshalb setzte hier die Kritik an.

Allerdings war die Vernachlässigung dieses Bereichs durch die von Ranke benutzte Art der Quellen – Briefe von Gesandten, Reichstagsakten, Urkunden – wesentlich bedingt.

Das ändert nichts an der überragenden Bedeutung Rankes für die deutsche Geschichtswissenschaft, denn seine Methode hat die deutsche Geschichtsschreibung auf Jahrzehnte hinaus geprägt.

Wenn sich die Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg von der Rankeschen Tradition gelöst hat, so hängt das keineswegs allein mit der Annäherung an eine methodische Vielfalt zusammen, die neue Wege zur Erfassung der immer schwerer durchschaubaren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wirklichkeit eröffnet. Die eigentlichen Ursachen sind ganz anderer Natur.

Erinnern wir uns daran, daß der Verfasser des Buches „Werkzeug des Historikers“ die Forschungsarbeit als Voraussetzung definierte, an der „Vollendung des gültigen Geschichtsbildes“ mitzuwirken.

Was aber heißt hier „gültig“? Es kann nur heißen, daß ein Geschichtsbild wissenschaftlich und damit quellenkritisch und tatsachengerecht im Sinne Rankes erarbeitet wird.

„Gültig“ bedeutet keinesfalls nach der vorliegenden Definition Prof. v. Brandts, daß es außerfachlichen, nämlich rein politischen oder juristischen Ansprüchen der Gegenwart unterworfen zu sein hat.

Und doch stellt sich die Situation heute im allgemeinen, zumindest im Hinblick auf die Zeitgeschichte der beiden Weltkriege, so dar, daß, ähnlich wie während der Scholastik im Mittelalter der Philosophie die Rolle der „Magd der Theologie“ zugedacht war, gegenwärtig die Geschichtswissenschaft ausschließlich  geschichtspolitischen Vorgaben zu genügen hat.

An sich sind Wechselbeziehungen zwischen Geschichtswissenschaft und aktueller Politik durchaus etwas ganz Selbstverständliches von beiderseitiger Bereicherung.

Es gilt jedoch, die Grundsätze der Wissenschaftlichkeit nicht bedingungslos den politischen Zweckmäßigkeiten preiszugeben.

Fortsetzung folgt

[1]A. v. Brandt: Werkzeug des Historikers (17. Aufl. 2007
[2]Heinrich v. Sybel: Die Begründung  des Deutschen Reiches durch Wilhelm I, Bd. 1, S. XII f.
[3]Zit. nach Walter Löhde, „Der Quell“ 1956 Folge 10, S. 480

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