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Vor 75 Jahren, am 23. Mai 1945, starb das „Dritte Reich“.

12 Millionen wehrlose Deutsche hatten das Grauen der alliierten Bombenangriffe auf die deutschen Städte, das Grauen des Einmarsches feindlicher mord- und vergewaltigungsgieriger Truppen vor allem im Osten Deutschlands sowie Flucht und Vertreibung aus der Heimat nicht überlebt. Die Dichterin

Agnes Miegel

überlebte die Vertreibung aus ihrer Heimat Ostpreußen. In diesen Tagen gedenken wir ihrer mit einer Lebensbeschreibung aus der Feder von

Gisela Stiller.

Frühling im Osten

Braune Erde der Heimat, noch stehst du kahl!
Schon blühen an Main und Donau Hügel und Tal,
Lind kommt der Frühling im Westen, zögernd und sacht,
Süß unter den Bergen die warme Frühlingsnacht!

Aber deine Mainacht, Mutter, ist klar und kalt.
Kristallen steht der Himmel über knospendem Wald.
Weiter mit jedem Abend wandert nach Norden der Schein,
Erde der Heimat, du Strenge, – wann wird es Sommer sein?

Masuren/Ostpreußen (Bild: brylla reisen)

Wer sich an Ostpreußen erinnert oder wer es von seinen Landschaften und Städten und vom Lebensgefühl her kennenlernen will, kommt an der großen Dichterin Agnes Miegel nicht vorbei.

In zauberhaften Erzählungen und Gedichten läßt sie ihre ostpreußische Heimat wiedererstehen, an die sie sich – mit Abstand und Trauer – erinnert.

Agnes Miegel (Bild: kulturportal-west-ost.eu)

Menschenkenntnis und Menschenliebe haben sie geprägt, und so verschmilzt das persönliche Geschick der großen Dichterin mit der Biographie und Naturgeschichte ihres Landes auf ergreifende Weise.

Besonders in ihren Dichtungen ist das spürbar. Das Land Ostpreußen mit seinen Dünen und Gärten, seinen Menschen und seiner Geschichte wurde durch sie und in ihr lebendig:

„Es war ein Land“, „Mein Bernsteinland“, „Hinter der Hohen Düne Vergangenheit“, „Die Frauen von Nidden“, um nur einige bekannte Beispiele zu nennen.

Ina Seidel, mit der sie sehr gut befreundet war und in lebhaftem Briefwechsel stand, drückte es einmal so aus:

Agnes Miegel hat alles ausgeschöpft, was uns östliche Menschen erfüllte und bewegte.

Und Paul Fechter, Schriftsteller, Journalist und Kritiker, der ebenfalls aus dem Osten stammte, schrieb:

Das Entscheidende an Agnes Miegel war für die Menschen des Ostens der Klang des Ostens, die Wirklichkeit des Osten in ihrem Werk. Diese Frau besitzt so beglückend die Kraft der Verzauberung, die nur die wirklichen Dichter haben, deren Worte mehr als Worte, nämlich verdichtetes, geformtes Leben, Klang gewordene Seele sind.

Wenn der Name Agnes Miegel fällt, entsteht sofort eine gedankliche Verbindung zu Ostpreußen.

Ostpreußen ist Agnes Miegel, und Agnes Miegel ist Ostpreußen.

Doch wer war nun Agnes Miegel? Was weiß die Jugend, was wissen wir heute noch von ihr? Von der Germanistik ist sie in den letzten Jahren sehr vernachlässigt worden, und auch in neueren Lexika findet sie keine angemessene Darstellung mehr.

Geboren wurde sie 1879 in Königsberg, im Herzen der Stadt, auf der alten Kaufmannsinsel des Kneiphofs, der von beiden Armen des Pregel eingeschlossen wird.

Kneiphöfische Langgasse – Grünes Tor in Königsberg – alte Postkarte

Hier wuchs sie in einem christlich geprägten Elternhaus auf im Schatten des Ordensdomes, nahe der Alten Universität, an der einst Immanuel Kant lehrte, nahe dem Hafen mit seinen Schiffen aus aller Herren Länder, nahe auch dem bunten Treiben der Märkte zu Füßen des Krönungsschlosses der preußischen Könige.

Diese Umwelt, dazu die Spaziergänge mit dem geliebten Vater, der dem Kind die wechselvolle Geschichte der Stadt Königsberg in fast sieben Jahrhunderten nahe zu bringen wußte, haben ihr dichterisches Werk später nachhaltig beeinflußt.

Das Haus, in dem Agnes Miegel aufwuchs, war behaglich eingerichtet mit Möbeln des Biedermeier, schmalen Spiegeln, Stahlstichen an den Wänden und vielen Büchern. Zeichnungen und Reproduktionen berühmter Gemälde wurden sorgfältig in Schubladen aufbewahrt und in Feierstunden zum Betrachten hervorgeholt.

Liebevoll verwahrt wurde auch das handgewebte Leinen aus der Aussteuer der Mutter, die aus einer Salzburger Familie stammte. Die Vorfahren mußten wegen ihres Glaubens ihre Heimat verlassen und siedelten sich 1732 in Ostpreußen an.

Die Vorfahren des Vaters stammten ebenfalls teilweise aus dem Salzburger Land, aber auch aus dem Elsaß, vom Rhein, aus Schweden und aus dem Oderbruch.

Bücher wurden zu vertrauten Gefährten für das heranwachsende Mädchen. Oft hat die Muter ihr aus Werken vorgelesen, die diese selbst liebte. So lernte sie – als Einzelkind aufgewachsen – schon früh die Lektüre der Klassiker, aber auch historische Werke kennen.

Lange wirkte die Begegnung mit den Dichtungen von Annette von Droste-Hülshoff nach, die sie sich heimlich aus dem mütterlichen Bücherspind ausgeliehen hatte. Ein Mädchen, das Gedichte geschrieben hatte!

Agnes Miegel berichtet später, sie sei ihren Eltern dankbar dafür, daß sie ihr als literarische Kost keinen „Säuglingsbrei“ vorgesetzt hätten –

sie ließen mich allein lesen und redeten später mit mir darüber wie mit einem Erwachsenden.

Im Alter von 15 Jahren kommt Agnes nach Weimar in die Pension Koch, wo sie mit 50 bis 60 Gleichaltrigen lebt und lernt. Sie schließt neue Freundschaften und erlebt eine besonders glückliche Zeit.

Und immer wieder schreibt sie Gedichte. Bereits 1896 erhält sie ihr erstes Honorar für ein Gedicht. Die Familie sieht ihre Dichtkunst zunächst einmal schweigend an und meint, daß sei wie eine Krankheit, Röteln z.B. und werde wieder vorübergehen.

Für ein Mädchen kommt als Beruf nach den Gegebenheiten der damaligen Zeit eigentlich nur Lehrerin oder Krankenschwester in Frage. So lernt Agnes als erwachsende Haustochter zunächst einmal in Königsberg kochen, malen und tanzen.

In Berlin absolviert sie dann eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester, kann den Beruf aber wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit nicht ausüben.

Von 1902 bis 1904 folgt sie der Schulfreundin Lise nach England, um Englisch zu lernen und im Internat Clifton bei Bristol eine Stelle als Erzieherin junger Engländerinnen anzunehmen.

Die schöne Landschaft Westenglands, die große Geschichte des Landes, alles stürmte auf mich ein wie etwas immer Ersehntes, endlich Wiedergefundenes, das etwas in mir aus einem Bann befreite,

schreibt sie später über diese Zeit. So entstehen hier die großen Balladen, die 1907 in dem Band „Balladen und Lieder“ erscheinen und die junge Dichterin zum Ruhm führen sollten. Ebenso wie lyrische Gedichte, darunter das Gedicht „Heimweh“, das in späteren Jahren vertont wurde.

Frühe Balladen und Gedichte

Agnes Miegel war eine Lyrikerin und Erzählerin mit Vorliebe für die Ballade, schwermütige Stimmungen und bedeutungsvoll Unheimliches.

Die Geschichten sind aus unbekannten Tiefen meines Wesens gespeist …

äußerte sie einmal, und damit deutete sich etwas an, was sie später ihre „Gabe“ nannte. 

Ich habe soviel, woran mein Herz hängt, daß der Tag nicht lang genug ist, um an alles zu denken,

sagte sie einmal als junges Mädchen.

Obwohl in dem späteren Werk Agnes Miegels, in den Balladen und Gedichten wie in den Prosastücken, die Schauplätze wie die zeitlichen Räume wechseln und nur ein Teil ihrer
Dichtung sich unmittelbar mit ihrer Heimat im Osten befaßt, wäre ihr Schaffen ohne den Urgrund des in jungen Jahren – besonders im Elternhaus – Erlebten und Geschauten nicht denkbar.

Sie lernte schon als Kind scharf zu beobachten und die bunten Bilder des Tages zu bewahren.

Agnes Miegel gehörte zu den Dichtern unserer Zeit, die den Menschen in der Einheit mit sich selbst und mit der Natur begriffen.

Damit suchte sie den zerstörenden Kräften der Gegenwart zu begegnen.

Zugleich war ihr dichterisches Werk von gläubiger Gewißheit und fröhlicher Weltoffenheit erfüllt, die ihm einen weiten Horizont gaben.

Wie Annette von Droste-Hülshoff, ihr großes Vorbild seit Jugendtagen, oder der von ihr verehrte Theodor Fontane es verstand, einer Landschaft und ihren Menschen Stimme und Gestalt zu verleihen, ohne darüber zu „Heimatdichtern“ zu werden, so verwandelte Agnes Miegel alles, was sie darstellte – Ferne und Nähe, Helles und Dämonisches, Alltag und Feiertag – in Bilder von allgemeiner Gültigkeit.

Als Beispiel, wie sie Stimmungen einzufangen verstand, möchte ich den Anfang der Erzählung
„Herbstfahrt“ vortragen:

Es war im Reich Nirgendwo, im Land Nimmermehr. Von den Wiesen, goldgrün im Spätnachmittagslicht, trieb der warme Wind den Duft des Grummets. Von den Birken am Chausseerand, deren Stämme rosig vor der Vergißmeinnichtbläue des Septemberhimmels glänzten, taumelten erste gelbe Blätterherzen in unseren Wagen. Rote Quitschen leuchteten von den Feldwegen zwischen glänzenden Stoppeln, zwischen dem Saum goldgelben Rainfarns, am Rand des braunvioletten Ackers.

Ein feines leichtes Sausen wehte um unsere Stirnen beim Fahren, der Dunst der Goldfüchse, der kräftige Geruch des Ledergeschirrs. Und über allem der wilde herbe Duft des Blumenstraußes, den du im Schoß hieltest. Letzte Kornblumen, Maßliebchen, Skabiosen, helle Glockenblumen, gelbe Katzenpfötchen, eine Nachtkerze, die sich licht und selig öffnete, hell wie ein Zitronenfalter. Und in all die Blumen hingen die großen, runden, rotflammenden Perlen deiner Bernsteinkette.

Der Wagen knarrte leise, fuhr langsamer, bergauf in einen weißgoldenen Abendweg. Kühler wehte der Wind, ein großes Glänzen unten zwischen den Wiesenhängen spiegelte Himmelsbläue und zarten Wolkenduft perlmuttern wider.

O wie schön war der See!

Dann hielt der Wagen, und wir blickten über das leuchtende Wasser, in das feuchte Grün der Erlensäume nach den rotglühenden Kieferstämmen am anderen Ufer, auf den geheimnisvollen Urwaldfrieden des Inselchens, das unerreichbar in dem lichten Frieden schwamm.

Der „Göttinger Musenalmanach“

Im Jahre 1898 durfte Agnes Miegel mit ihrer Freundin Lise ein Vierteljahr in Paris sein – ein Fest im Frühling, das sie nie vergessen konnte.

Auf der Rückfahrt nach Königsberg machten die beiden Station in Berlin. Hier war ein Treffen mit Carl Busse, dem damals sehr bekannten Kritiker und Schriftsteller geplant, aber nicht Busse erschien, sondern Börries von Münchhausen.

Es war eine der Schicksalsstunden im Leben zweier Menschen. Der Freiherr, nur fünf Jahre älter, stammte aus dem Geschlecht des sogenannten „Lügenbarons“.

Von 1897 bis 1923 war er der Herausgeber des „Göttinger Musenalmanachs“, der – mit
Unterbrechungen – jährlich erschien. In der Literaturgeschichte wird er häufig als der
bedeutendste deutsche Balladendichter des 20. Jahrhunderts und als Erneuerer und
Theoretiker der Ballade bezeichnet. Um so bedeutsamer ist es, was er zu Beginn der
zwanziger Jahre über Agnes Miegel schrieb:

Von allen lebenden Balladendichterinnen und Balladendichtern ist Agnes Miegel ohne jede Frage die genialste, die größte! Das habe ich 1897 gewußt, als zuerst auf meinem Berliner Studentenschreibtisch eine Auslese dieser ganz unvergleichlichen Gedichte lag, und das weiß ich heute nach einem Vierteljahrhundert, in dem ich wahrhaftig mancherlei gute Verse der Zeitgenossen sah, ..sie ist zweifellos der größte lebende Balladendichter…

Das Treffen im Jahre 1898 war wohl bestimmend für den Lebensweg der Dichterin. Die beiden vereinbarten den Abdruck einer Reihe von Gedichten und Balladen im dem „Göttinger Musenalmanach für 1901“. Und Münchhausen wurde ihr zweiter Lehrmeister im Bereich der Dichtkunst – wohl der bedeutendste, denn sie sprachen die gleiche Sprache, spürten gleichermaßen hinter dem realen Geschehen einen mystischen Urgrund allen Seins. Eine Liebesbeziehung der beiden war allerdings nicht von Dauer.

Mit dem Namen Agnes Miegel tief verbunden ist in der Geschichte der Literatur die Ballade, die sie zu einer klassischen Höhe geführt hat. Ihre Balladen und Lieder machten sie mit einem Schlag berühmt.

Darüber hinaus enthält ihr Werk eine Einheit von Landschafts- und Sprachbildern von menschlichen und geschichtlichen Schicksalen Ostpreußens, aber auch von Wesen und Kultur eines Landes, wie sie in ähnlicher Glaubwürdigkeit etwa Gottfried Keller für die Schweiz oder Theodor Storm für Schleswig-Holstein zugeschrieben werden.

Auch wenn sie später für ihre Landsleute zum Symbol und Inbegriff der Heimat, zur „Mutter Ostpreußen“ wurde, ist ihr Wirken und Schaffen weit tiefer und umfassender, als daß Begriffe wie „Heimatkunst“ oder Heimatdichter ausreichten.

Bereits 1913 erhielt sie den angesehenen Kleistpreis, 1924 den Ehrendoktor der Universität Königsberg und 1959 den Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste.

Das erste Buch

Korrekturen lesen ist gräßlich!

schrieb Agnes Miegel an ihre Freundin Lulu von Strauß und Torney, als ihr erstes Buch, allen Zweifeln zum Trotz, im Jahre 1901 bei dem angesehenen Verlag Cotta in Stuttgart erschien.

In der Biographie von Anni Piorreck lesen wir darüber:

Es ist unverkennbar das Buch eines jungen Menschen, voller Freude am Dasein und zugleich voller Melancholie und Trauer, wie sie zu einer sensiblen Jugend gehören. Es finden sich mitunter Sätze, als ob hier dichterische Intuition einem sehr jungen Menschen eine Summe von Lebenserfahrungen lange vor dem selbst gelebten Leben gegeben hätten …

Einen besonderen Raum nehmen in dem ersten Buch die Liebesgedichte ein, die lange Zeit eine starke Wirkung ausüben sollten. Ein sehr junges Mädchen besingt hier mit großer Kraft das Verhängnisvolle der Liebe, ihren Todeskeim, die unumschränkte Verherrlichung der Leidenschaft.

Die Verse galten als kühn, ja als verwegen. In der bürgerlichen Umgebung ihrer Vaterstadt erregte der Gedichtband zunächst Befremden und Ablehnung. Diese Verse erschienen den Königsbergern zu modern, zu revolutionär, zu „sinnlich“, wie man damals sagte …

Die Mutter wird auf der Straße von einer Bekannten angehalten, die ihr im Ton höchster Entrüstung die Verkommenheit der Tochter, die „solche“ Dinge schreibt, vor Augen hält …

Damals sprach man nicht über seine Gefühle, das gehörte sich nicht,

schrieb eine Gleichaltrige zu jener Zeit.

Aus den Briefen, die Agnes Miegel an die sechs Jahre ältere Freundin Lulu v. Strauß schrieb
und die getreulich aufbewahrt wurden, wissen wir mehr aus diesen Jahren des Werdens und
Reifens. Zahlreiche Briefe wurden in dem Buch „Als wir uns fanden, Schwester, wie waren
wir jung …“, von Marianne Kopp veröffentlicht.

Fortsetzung folgt

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