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Weltethik ein Phantom?

Ein Deutscher, ein Ägypter, eine Koreanerin

trafen sich beim Politik-Forum (2/08) zum Gespräch darüber, ob ein kulturübergreifendes Weltethos mit, ohne oder trotz Religionen erreichbar sein werde.

Die unterschiedlichen Ausgangspositionen entpuppten sich am Ende als gar nicht so verschieden.

Karl-Josef Kuschel

geboren 1948 in Oberhausen, lehrt Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen und ist stellvertretender Leiter der Stiftung Weltethos. Seine Positionen:

  • Das “Projekt Weltethos” ist nicht einseitig “aufklärerisch, christlich und europäisch” geprägt.
  • Auf 4 “unverrückbare Weisungen” habe man sich bereits einigen können: Du sollst nicht morden, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht lügen, du sollst die Sexualität nicht mißbrauchen.
  • Es gibt ein Weltgewissen.
  • Keine Einheitskultur, keine Einheitswerte, keine Welteinheitsgesellschaft, keine Einheitsethik – aber “ein Mehr an Bewußtsein für verbindende Werte”.
  • Wir leben in der einen gemeinsamen Welt, das Wohl des einen hängt vom Wohl des andern ab, dafür kann man “nie genug Bewußtsein wecken”.
  • Durch “Spiritualisierung der Religion” sollten die parallel unverbundenen Religionen verbunden werden, Beispiel: in einem “Aufruf von 138 muslimischen Autoritäten aus aller Welt” wurde die Liebe (Gottesliebe und Nächstenliebe) als “oberster Wert des Islam” herausgefiltert – “und plötzlich sind vermeintliche Parallelgesellschaften gar nicht mehr so parallel.”

Hamed Abdel-Samad

geboren 1970 in Giza/Ägypten, studierte in Ägypten, Japan, Deutschland, arbeitet als Politikwissenschaftler u. a. am Forschungsverbundprojekt “Mobilisierung von Religion in Europa”. Seine Positionen:

  • Religionen sind in sich widersprüchlich: Einerseits mahnen sie zu Liebe und Frieden, andererseits fördern sie Ausgrenzung und Gewalt.
  • Mit dem Versuch, aus der Religion eine Ethik zu begründen, spielen wir “den Fundamentalisten in die Hände, denn wir heben die Macht der Religion. Religionen sind gefährliche Kräfte. Auch Fundamentalisten begründen ihre Überzeugungen und Taten religiös.”
  • Je weniger Religion in der Debatte um globale Ethik, desto besser.
  • Das Christentum kämpfte gegen die Wissenschaft und die Kreativität des Menschen. Man mußte sich also im Dienst des Fortschritts von der Übermacht der Religion trennen … das europäische Christentum hat sich durch diesen Prozeß verändert, und zwar zu seinem Vorteil.”
  • Gewissen: in Japan existiert das Wort “Gewissen” “meines Wissens nach überhaupt nicht” (hat 1 Jahr in Japan gelebt und ist mit einer Japanerin verheiratet) – in einem Dorf in Ägypten in der Familie eines Imams aufgewachsen, hat er sein “Gewissen nach dem ausgebildet, was ich gelernt habe”. – Jene Kultur fördert beim Menschen also eher ein angelerntes, weniger ein eigenes Gewissen.
  • Dialog kann nur auf gleicher Augenhöhe stattfinden, in der Welt herrscht jedoch wirtschaftliche und politische Asymmetrie, viele Nationen sehen sich in untergeordneter Opferrolle gegenüber dem “Westen”.
  • Dialog braucht das Vertrauen in den andern, das gelingt, “wenn ‘die andern’ nicht mehr einfach ‘die andern’ sind, sondern Menschen, die man zu kennen beginnt.”

Sung Hee Lee-Linke

geboren 1953 in Seoul/Korea, promovierte als Theologin in Tübingen, ist Studienleiterin in der Evangelischen Akademie im Rheinland und Professorin in Marburg. Ihre Positionen:

  • Sie will den “Dialog des Herzens”, Weltpathos, “also den Willen, die Gefühle, die Traditionen, die Gedanken des anderen erst mal aus sich heraus zu verstehen”.
  • In Europa ist Religion mit Institutionen verbunden.
  • “In vielen anderen Kulturen bedeutet die Religion so etwas wie die Luft zum Ein- und Ausatmen … Religiös zu sein ist einfach Teil des Lebens.”
  • Ein Weltgewissen gibt es nicht. “Es gibt Kulturen, in denen die Pflicht den Vorrang vor dem Gewissen hat.”
  • “Das Gewissen eines Menschen ist immer auch Produkt der jeweiligen Kultur und Tradition einer Gesellschaft.”
  • Sie ist “… überzeugt, daß die Religionen zum Problem beitragen, immer dann, wenn sie ihre Wahrheiten verabsolutieren und dogmatisieren. – Eine Lernübung des 21. Jahrhunderts wäre, die Wahrheit des andern zu würdigen.”
  • “Wenn wir den Weltfrieden wollen, brauchen wir nicht die eine Welt. Wir brauchen mehrere Welten, die nebeneinander existieren und miteinander kommunizieren. Schon in Deutschland gibt es nicht die eine Welt.”
  • “Die Eine-Welt-Gesellschaft ist eine negative Utopie.”

Adelindes Positionen

  • Der Mensch ist Einzelwesen und Gemeinschaftswesen zugleich.
  • Das Ethos der Gemeinschaft ist das Ergebnis der moralischen Höhe, die die Einzelnen verwirklichen und mit der sie aufeinander Einfluß nehmen.
  • Moral entsteht aus dem Wunsch zum Guten, Wahren, Schönen, der jedem einzelnen Menschen angeboren ist, aus der Liebe zum Göttlichen und zu allen Lebewesen, insbesondere zum Mitmenschen. Die Moral kann nur von ihm selbst entfaltet oder niedergehalten werden, je nach seiner Wahl, es sei denn, es liegen genetische oder traumatisch zugefügte Beeinträchtigungen vor.
  • Je höher entwickelt die eigene Moral, desto feiner und eigenständiger das Gewissen, desto freier, d. h. weniger gegängelt von vorgegebenen Dogmen ist der Geist.
  • Die Religions-, Volks-, Partei-Gemeinschaft bietet dem Einzelnen bis zu einem gewissen Grade Schutz und Heimatlichkeit. Wenn er sich einfügt, die “Harmonie” nicht stört dadurch, daß er aus seinem Freiheitswollen und Verantwortungsbewußtsein heraus eigene Wege begeht, die “Pflicht” seiner Rolle erfüllt und nicht weiter abweichend denkt und handelt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß er den Schutz der Gemeinschaft behält. Doch was ist das für ein Schutz, der die Flügel beschneidet? Welche Moral soll sich da – unter ruhigstem Gewissen der Mitwelt – entfalten?
  • Der Weg zu wahrem Gutsein führt unweigerlich über die Individualisierung der Menschen, über die Eigenverantwortlichkeit und die freie Wahl der eigenen Lebensgestaltung, weg von der Fremdgesteuertheit. Völker, die um der Gemeinschaft willen die Einzelnen in Ketten legen, haben noch einen weiten Weg zu wirklichem Ethos vor sich.
  • Der Mensch braucht Heimat. Die findet er unter Gleichen, bei seinen Wurzeln und im überschaubaren Rahmen. Heimat heißt nicht nur Geborgenheit, nicht nur Geliebtwerden, sondern auch Liebenkönnen.

Abdel-Samad meinte zum Schluß: “… zuerst braucht es mal den Willen, das Gute, das Richtige auch wirklich zu tun…” – Was aber das Gute und Richtige ist, darüber sich zu verständigen, das ist die Aufgabe. Dazu braucht es das Gespräch auf gleicher Augenhöhe, mit ruhiger Zuwendung zum Andern, mit Bereitschaft zum verstehenden Zuhören. Da haben überhebliche Besserwisser, Priester, Missionare, Leute, die sich über den andern erheben wollen, nichts zu suchen.

Und dann sollten Taten folgen.

Lee-Linke sagte: “Und dafür braucht es Leidenschaft! Pathos!” Ich sage: Begeisterung, aber auch Besonnenheit und Anstand.

Abdel-Samad ergänzte: “Und wenn wir dann miteinander reden, dann eröffnen wir auch Horizonte füreinander.”

So ist es. Und dazu ist auch das ADELINDE-GESPRÄCH da.

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Erich Meinecke
16 Jahre zuvor

Was ich bemerkenswert finde, ist, daß sowohl der Ägypter, der in Japan gelebt hat und mit einer Japanerin verheiratet ist, wie die Koreanerin, die derzeit in Deutschland lebt und offenbar mit einem Deutschen verheiratet ist, offenbar besonders auf die EIGENSTÄNDIGKEIT der ostasiatischen Kultur und ihrer Mentalitäten im Vergleich zu der islamischen und der europäischen verweisen.

Das würde doch auch auf die wesentliche Tatsache verweisen, daß eben doch nicht jeder “Ethos” von jeder Kutur, d.h. dem Angehörigen jeder Kultur gleich gelebt werden kann. Dafür könnte man nun auch viele Beispiele nennen.

Zum Beispiel hat Südkorea aus typisch konfuzianischer “Ehrfurcht”, Respekt gegenüber dem größeren Bruderland China Jahre lang darauf verzichtet, China für die immense Luftverschmutzung international anzuklagen, die in Südkorea jeder Mensch am eigenen Leib an vielen Tagen im Jahr nur allzu deutlich erlebte. (Man kennt die Bilder von Menschen, die auf die Straßen nur noch mit Mundschutz gehen können … )

Kritik am anderen wird oft zugunsten von “Höflichkeit” vermieden. Nun könnte man sagen, das wäre eine Sache von Korea allein. Aber nein, die Luftverschmutzung, die China schon seit Jahren verursacht, betrifft die ganze Erde. Und wenn der direkteste Nachbar davon am meisten mitbekommt, hat er auch – zumindest nach meinem westlichen Verständnis – die nachdrücklichste Pflicht, nicht “höflich” zu warten, bis der “große Bruder” von selbst drauf kommt, daß er da etwas falsch macht und auch nicht die Kritik in so höfliche (“asiatische”) Formeln zu verstecken, daß der andere vielleicht gar nicht merkt, daß er kritisiert wird.

Aber das ist ein langes Thema.

Wer andere Kulturen intensiver Gelegenheit hat kennenzulernen, kann auch eine tiefe Ehrfurcht bekommen vor der unerschütterlichen Andersartigkeit, von der eine solche Kultur erfüllt sein kann. Diese Ehrfurcht fehlt uns oft heute. Und wenn immer nur von “Welt(monokultur-?)ethos” geredet wird, nicht aber von der Ehrfurcht vor der möglicherweise ganz anderen Ethik ganz anderer Kulturen, könnte das auch als eine Gefahr angesehen werden.

Man könnte es auch als schön empfinden, wenn sich jedes Volk, jede Religion auf seine eigene Ethik besinnt, auf seinen eigenen Weg zum Gutsein und nicht immer so geradezu hoffnungslos zu “anderen” hinüberschaut, die einem meist gar nicht helfen können, die eigene Ethik zu leben, sondern einen eher nur davon abbringen.

Erich Meinecke
16 Jahre zuvor

Wenn ich übrigens die Unterscheidung zwischen “Gewissen” und “Pflicht”, die hier in den Texten gemacht werden, recht verstehe, dann geht man davon aus, daß der Individualismus des Westens viele Dinge im Leben zu Gewissens-Entscheidungen des einzelnen macht, die auch kontrovers untereinander ausdisktutiert werden, während das gesellschaftliche “Pflichtgefühl” Ostasiens auf den Konsens aller Gesellschafts- und Familienmitglieder gleichzeitig abhebt, aus dem kein einzelner aufgrund irgendwelcher persönlicher “Gewissens-Entscheidungen” ausbrechen soll und darf, weil mit einem sehr krassen Individualismus dort im Grunde niemand umgehen kann.

In Korea ändern sich alle oder niemand. Noch vor ein paar Jahren war es üblich, daß sich auch Eheleute auf der Straße nicht küssen. Diese Sitte hat sich vor einiger Zeit innerhalb von wenigen Monaten “schlagartig” geändert. Und solche “schlagartigen”, “einheitlichen” kulturellen Reaktionen findet man viele in Ostasien. Man sieht daraus: der einzelne braucht und kann meist auch gar nicht individuelle “Gewissens-Entscheidung” treffen. Im Schreiben von “Erörterungs-Aufsätzen” sind die Koreaner alle Nieten, da sie gar keine persönliche, individuelle Meinung haben, artikulieren können, wie jeder Deutschlehrer weiß, der in Korea unterrichtet hat. Die tun und denken dort einfach immer das, was alle tun.

Halten wir aber fest: Auch dieses ostasiatische Pflichtgefühl, nämlich sich “konform” zu verhalten, ist für sich eine – wenn auch eher unbewußter getroffene – Gewissens-Entscheidung. Nur eben eine ganz andere als im Westen. Es ist eine Gewissenentscheidung, die aus der gesellschaftlich vorherrschenden Mentalität abgeleitet ist, die so tief in der Seele verankert ist, daß sie meist gar nicht mehr als eine einzelne Gewissens-Entscheidung verstanden wird.

Wiesemann, Michael
Wiesemann, Michael
16 Jahre zuvor

Ich möchte Herrn Meinecke in seinem letzten Absatz seines 2. Kommentars v. 4. 2. 08 voll beipflichten, wenn ich auch auf andere Weise zum gleichen Ergebnis komme. Mein Weg führt über die “Goldene Regel” (Lk 6,31) in ihrer positiven, also inhaltlich unverfälschten Wiedergabe*: “Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr.”
Hier wird ein “Tun” verlangt, das das Unterlassen umfasst, vergl. § 241 BGB: …”Die Leistung (=das Tun) kann auch in einem Unterlassen bestehen.” Moralisch, ethisch Gebotenes als gesellschaftlich Erwartetes zu unterlassen ist völlig gleichzusetzen mit aktivem Missverhalten. Beides führt zur Störung des besseren Miteinanders.
Die konfuzianisch begründete Erwartung der Koreaner, die Alten pflichtbewußt zu ehren, ist genau Ausdruck des dortigen, gesellschaftlich gewachsenen Verständnisses dieser Menschheitsregel – vielleicht ganz unbewußt aber mit demselben Ergebnis. Wir kennen diese Pflicht als Gebot im Christentum ja auch. Das “Gewissen” als solches ist ja immer und immer wieder auch Pflichtenabwägung. Die Pflicht steht deswegen m. E. nicht über dem Gewissen – auch wenn dies in den ostasiatischen Kulturen lt. Frau Lee-Linke ein weitverbreitetes Missverständnis zu sein scheint – sondern sie ist ein Teil des Gewissens, soweit sie als moralisch und ethisch akzeptiert und in dieser Weise adaptiert in Funktion tritt. Es kann nämlich nie auf die nackte, unreflektierte Pflichterfüllung ankommen, wenn dahinter nicht die ethisch-moralische Rechtfertigung steht. Das gilt m. E. nach auch in Korea und hätte von Frau Lee-Linke besser herausgearbeitet werden müssen. Konfuzius ist ohne eine derartige Reflexion für mich nicht vorstellbar. Wir Deutschen haben dies doch zuletzt beim Gröfatz gelernt, was es heißt, Pflichten losgelöst vom Ethos zu erfüllen, oder?
* Die negativ ausgedrückte, jedem Kind geläufige Form der “Goldenen Regel” lautet schädlicherweise: “Was du nicht willst, dass dir man tu, das füg’ auch keinem anderen zu!” Das führt zu dem misslichen Ergebnis, das wir aus dem Gleichnis vom armen Samariter her kennen: Die des Weges kommenden Pharisäer und Schriftgelehrten können getrost an dem zusammengeschlagenen Samartiter vorübergehen, weil sie sich sagen, ich habe dem ja nichts getan, also: was geht mich der an? Liest man die Regel aber in der engeren, ursprünglicheren, wahren Form, dann kämen sie mit dieser Ausrede nicht durch und müßten ihre unterlassene Hilfeleistung als moralisches Versagen erkennen. Es gibt eben auch Pflichten, die unabhängig von der jeweiligen Kultur nach meiner Auffassung a priori zum unteilbaren Menschenrecht gehören.
Michael Wiesemann

Wiesemann, Michael
Wiesemann, Michael
16 Jahre zuvor

Liebe Adelinde,
ich sehe mich sehr missverstanden. Aus dem Begriff “Regel” darf man doch nicht folgern, es sei etwas Zwanghaftes, was da zu tun oder zu unterlassen geboten wird. Die Regel setzt einen autonomen, eigenverantwortlichen Menschen voraus, der von sich aus sich für Tun oder/und Unterlassen entscheidet. Ganz freier Wille regiert hier. Es ist zunächst einmal der in seiner Willensentscheidung freie Mensch und auf die Frage ‘wozu er frei ist?’ antwortet er natürlich ganz moralisch-ethisch gerechtfertigt, dass er inhaltlich dem folgen will, was die positive Form der “Goldenen Regel” meint. Von daher kann es nur die positive Variante sein, weil sie allein das Unterlassen an eine Erwartung knüpft und ebenso geißelt wie die schändliche Tat. Das von Dir ins Feld geführte “Unterlassen des Unterlassens”, also das Tun wiederum, führt hier wirklich inhaltlich nicht weiter.
Ich sehe überhaupt kein Problem in Deinem Beispiel mit der “aufgedrängten Hilfe”, wenn sie moralisch-ethisch geboten war. Wir alle haben einen Mund zu sagen: Nein, Danke! Von der aufgedrängten Hilfe ist aber in der Regel nun gar nicht die Rede, sondern ausschließlich von jener, die aus menschlicher Sicht erwartet wird. Was erwartet wird, kann doch wohl kaum als aufgedrängt verstanden werden.
Natürlich kann man des Guten zu viel tun, dagegen kann man sich zur Wehr setzen. Aber gegen die unterlassene Hilfe gibt es kein Mittel, wenn sie nicht noch von anderen erbracht wird und einem Rettung dadurch zuteil wird. Hier kommt die Rettung eben nicht von jenem, von dem dies die Moral fordert. Moral ist zwar ein Sittengesetz, das Menschen in übereinstimmender Willensbekundung so kodifizieren, es ist nach meiner Auffassung aber auch immer auch Ausdruck und Teil jener a priori vorhandenen Menschlichkeitsregeln. Letztlich ist die “Goldene Regel” in ihrer positiven Ausdrucksweise tiefgreifender und klarer als jede doppelte Verneinung.
Auch der Hinweis aus die Erziehungswelt überzeugt mich nicht. Kinder brauchen – wie Du selbst sagst – Führung. Sie werden dankbar dafür sein – wenn sie erst die eigene Einsichtsfähigkeit in Moral und Ethik erreicht haben – die richtige Regel (hier: die positive Fassung) erfasst zu haben. Daran werden sie sich solange freiwillig ausrichten, solange sie ihnen nicht methodisch-didaktisch, ideologisch und pädagogisch falsch “eingetrichtert” wird. Es ist nicht die Regel, die Kinder bockig macht, es sind die Methoden und durchsichtigen Hintergründe, die sie schrecken.

Im Einzelnen sagst Du dann wieder genau das, was ich auch ausführe:
1. “Eine unterlassene Hilfeleistung ist zu unterlassen” (=negativ ausgedrückt). Dies grenzt m. E. schon an Rabulistik und man sagt einfach und sprachlich besser gleich und kürzer positiv, weil es das verdient: die Hilfeleistung ist zu tun. Damit vermeidet man gerade die Missverständnisse und Ausreden, die ich in meiner Stellungnahme aufführte. Ebenso: eine Pflicht ist zu erfüllen, zu erbringen und nicht umständlich, eine Pflicht darf nicht verletzt werden. Diese positivere Ausdrucksform unterstreicht gleichzeitig eine insgesamt positivere Haltung, die ich befürworten möchte.
2. Ich finde die Kennzeichnung “Spielregel” hier nicht gelungen. Es geht um mehr als um Höflichkeitsfloskeln, für die das zutreffen mag.
3. Auf das “Gute” als Umschreibung der Moral – wovon ich überhaupt nicht spreche – will ich nicht eingehen. Den Zusammenhang zum Kontext erkenne ich nicht, weil für mich Moral (schon von seiner lat. Herkunft des Wortes mos her) eine Sittengesetzlichkeit ausdrückt, der wohl ein übereinstimmender Wille von Völkern und Menschen gegenübersteht, die diese “Sitten” als “Sitte”, also als etwas über allen Stehendes beachten wollen. Wollen und Freiheit – der Zusammenhang ist Dir ja geläufig. Freier Wille, der sich selbst die Regeln setzt, ist eben Ausdruck der Freiheit zum Menschsein und -werden. Bitte siehe “Regeln” auch mal von der seklbstgesetzten Seite her an.
4. Deinen Ausführungen hinsichtlich aufoktroyierter Liebesgebote stimme ich vollkommen zu, nur das gehört hier auch nicht hin. Ich habe mich – soweit dies die “Goldene Regel” betrifft, dazu bereits weiter oben unter dem Begriff “Einsichtsfähgkeit” der Kinder geäußert. Daran will ich festhalten.
Michael Wiesemann

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