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Die alte Frage: Was ist der Mensch

– das Ergebnis seiner Gene, seiner Umwelt oder gar seiner Willensfreiheit? – hat neuerdings Antwort erhalten auch von Seiten der Naturwissenschaft. Spannend berichtet darüber Joachim Bauer, Professor für Psycho-Neuro-Immunologie in seinem 2005 erschienenen Buch:

Buchtitel Joachim Bauer

Wer bisher glaubte, der Mensch sei eine von seinen Genen gesteuerte Maschine, muß umlernen.

Wo bliebe die Willensfreiheit und Möglichkeit zur Selbstgestaltung des Menschen, wenn die Gene die alleinige Macht über ihn hätten und ihn bis ins Letzte determinierten, d.h. vorherbestimmten? Doch wissen wir auch seit langem, daß unser Erbgut nicht wegzuleugnen ist und wir ihm zumindest bis zu einem gewissen Grade ausgeliefert sind, uns nichts übrig bleibt, als uns mit dem uns Gegebenen abzufinden.

Dennoch gehen wir in unseren Moralbewertungen und Rechtsgepflogenheiten davon aus, daß der Mensch für die Art seines Handelns verantwortlich ist, also die Freiheit hat, sein Leben und sich selbst nach eigenen Vorstellungen von Ethik zu gestalten und auf Einflüsse aus der Umwelt zu antworten. Wir nehmen also auch Willensfreiheit an.

Erbgut, Umwelteinflüsse und Willensfreiheit halten wir für gegeben. Wie aber sind sie miteinander zu vereinbaren? Was spielt sich biologisch ab? Denn auch freies Seelenleben ist ohne Erscheinung, ohne Biologie, vor allem ohne Gehirn, nicht möglich. Ist unser Gehirn abgeschaltet, sind wir tot, die Seele ist erloschen.

So sagt auch Bauer:

Verhalten findet nicht im körperlosen Raum statt, sondern ist immer zugleich auch Biologie … sämtliche biologischen Prozesse (basieren) auf der Aktivität von Genen.

Aber, und nun kommt das Überraschende:

Tatsächlich könnte ein lebendes System nicht auf Signale reagieren, wenn es die Gene nicht auch könnten. Entgegen einer zum Teil immer noch verbreiteten Ansicht fahren Gene nicht auf Autopilot, sondern werden in ihrer Aktivität durch Signale reguliert. Diese können ihren Ursprung in der Zelle selbst, außerhalb der Zelle oder in der Umwelt haben.

Die Gene

Jeder Mensch verfügt über einen Satz von rund 35 000 Genen in jeder seiner Zellen. Die Gene sind an einem 2 Meter langen, verknäuelten Faden aufgereiht, der DNS – für uns unvorstellbar bei der Winzigkeit einer Zelle.

DNA_Overview

Wikipedia: Strukturmodell eines Ausschnitts aus der DNA-Doppelhelix (B-Form) mit 20 Basenpaarungen

Im Elektronenmikroskop ist diese Gen-Perlenkette sichtbar in ihren Abschnitten, in die sie aufgeteilt ist: den Chromosomen. Die Gene enthalten je einen Bauplan zur Herstellung eines Proteins aus Aminosäuren. 20 unterschiedliche Aminosäuren werden in einer Reihenfolge aneinandergereiht, die dem jeweiligen Individuum eigen ist.

Ob und in welchem Umfang die Proteine tatsächlich erzeugt werden, hängt von mehreren Bedingungen ab. Einerseits werden in den Zellen jedes Organs nur ganz bestimmte, organspezifische Gene zum Tätigwerden freigegeben, und andererseits können die freigegebenen Gene in ihrer Wirkungsstärke hoch- oder heruntergefahren werden. Nur ein Teil der Gene, die innerhalb einer Zelle freigegeben sind, sind dauernd und ohne Schwankungen aktiv. Sie halten die Grundausstattung der Zelle aufrecht.

Ein großer, sehr bedeutender Teil der Gene einer jeden Zelle wird jedoch reguliert.

Die Gesamtheit der 35 000 Gene, das Genom, ist bei allen Menschen zu 99,9 % gleich.

Der Bauplan für ein Protein ist eine unveränderliche, im “Text” des zuständigen Gens enthaltene Erbinformation. Dieser Bauplan wird weitervererbt.

Von den Genen her also unterscheiden wir uns fast gar nicht. Und doch ist jeder Mensch eine einzigartige Besonderheit. Wie ist das biologisch möglich? Außer den 0,1 % der Gene, die uns voneinander trennen, können es die Gene selbst nicht sein, die unsere Persönlichkeit ausmachen. Es ist – neben der Reihenfolge der Aminosäuren im Protein eines Individuums – das Ausmaß, in welchem die Gene angeregt oder stillgelegt werden. Und dies

ist größtenteils nicht genetisch vererbbar. (Bauer)

Der erwähnte Anteil von 0,1 % des vererbbaren DNS-Textes beinhaltet „ethnische“, sprich rassische, „und konstitutionelle Unterschiede“, Abweichungen innerhalb einer Bevölkerung z. B. in Stoffwechselfunktionen und „außerordentlich seltene“ „echte Erbkrankheiten“ , die auf einer Mutation beruhen, welche zur Veränderung eines Proteins, daraus zu einer Störung des Stoffwechsels und daraus zu einer Krankheit führt.

Lediglich ein bis zwei Prozent aller menschlichen Erkrankungen sind durch eine genetische Mutation bedingt … Das Geheimnis der Gesundheit liegt, was die große Mehrheit aller Krankheiten betrifft, nicht im Text der Gene, sondern in der Regulation ihrer Aktivität.

Zwischen den Genen befinden sich auf der „Perlenkette“ DNS die Anreger und Hemmer für die Gene, im Wissenschafts-Englisch Promoter bzw. Enhancer genannt. Sie können die ihnen auf dem DNS-Faden nachfolgenden Gene an- oder abschalten. Diese beiden Arten von Gen-Regulatoren werden ihrerseits gesteuert durch Substanzen, die sich bei ihnen anlagern können.

Diese Substanzen können aus der Zelle, aus dem Organismus außerhalb der Zelle oder aus der Umwelt kommen … Nach Anlagerung dieser Substanzen an den Promoter oder an den Enhancer verändert sich die Gen-Aktivität, das heißt, das Gen wird jetzt entweder stärker oder weniger stark als zuvor abgelesen.

Diese Substanzen übersetzen also Signale von „außen“ in Gen-Aktivität, sie heißen daher Transkriptionsfaktoren. Bei den beschriebenen Vorgängen kommt es zu äußerst feinen Abstimmungen der Substanzen untereinander und zu sehr feiner Regulation der Gen-Aktivität.

Gehirn, Nerven, Hormone

Joachim Bauer

Joachim Bauer

Joachim Bauer:

Den größten Einfluß auf die Regulation von Genen haben nichtstoffliche Signale jedoch im Gehirn: Mit den Nervenzell-Systemen der fünf Sinne wahrgenommene zwischenmenschliche Situationen werden vom Gehirn fortlaufend in biologische Signale verwandelt, die ihrerseits massive Effekte auf die Bereitstellung von Transkriptionsfaktoren haben. Dies erklärt, warum seelische Erlebnisse innerhalb kürzester Zeit zahlreiche Gene aktivieren oder abschalten können. Die Zeit von der Aktivierung eines Gens bis zur Fertigstellung des Proteins kann im Bereich weniger Minuten liegen.

Seelische Erlebnisse also sind die stärksten Ursachen zur Gen-Regulation. Dabei bewertet die Seele – unbewußt, unterbewußt oder bewußt – die über die Sinne eingegangenen Reize und aktiviert ihrer Bewertung entsprechend ein „Orchester“ von Genen. Das „Gen-Orchester“, das auf Reize antwortet, die als angenehm bewertet wurden, ist ein andersgeartetes als ein „Gen-Orchester“, das auf Reize antwortet, die als Gefahr eingeschätzt wurden.

Bei der Bewertung „Gefahr“ werden die Gene der Alarmzentren (hauptsächlich im Hirnstamm sowie im Hypothalamus) aktiviert, deren Proteine die Bereitstellung von Alarmbotenstoffen bewirken, die nun ihrerseits im ganzen Körper Veränderungen einschließlich der Aktivierung weiterer Gene hervorrufen. Diese Dominokette reicht bis hin zur Ausschüttung des Streßhormons Cortisol durch die Nebenniere und braucht zu ihrem Aufbau nur wenige Minuten.

Dagegen aktivieren angenehme, anregende Umweltbedingungen – wie gegenseitiges Verstehen in Gesprächen mit anderen Menschen, Lob, Anerkennung, reizvolle Aufgabenstellung – Gene im Gehirn, deren Proteine die Funktion von Nervenzellen steigern und die Zahl ihrer Verknüpfungen erhöhen.

Allerneueste Untersuchungen ergaben sogar Hinweise dafür, daß sich unter dem Einfluß positiver Umweltsituationen und aufgrund der dadurch gesteigerten Produktion von Nervenwachstumsfaktoren auch die Zahl der Nervenzellen vermehren kann (was die bisherige Lehrmeinung, daß sich Nervenzellen nicht vermehren können, in Frage stellt) … Positive Umweltreize haben sich für Nervenzellen als ein Überlebensfaktor herausgestellt, da sie zur Aktivierung zahlreicher Gene führen, welche die Nervenzellfunktionen verbessern.

Wir sehen:

• Das Gehirn verwandelt jeden seelischen Vorgang in einen biologischen, was wiederum auf die Seele zurückwirkt.
• Die Lehre von der maschinenartigen Wirkungsweise des Körpers ausschließlich aufgrund einseitiger Befehle von Genen hat sich endgültig als falsch erwiesen.
• Nervenzellen im Gehirn können sich verstärken und möglicherweise vermehren.
• Gene, Seele und Umwelt wirken zusammen. Daraus gestaltet sich die Persönlichkeit.

Zeichnung 2

Mathilde von Kemnitz

Der Mensch ist eine Leib-Seele-Einheit. Das hatte die Psychiaterin Mathilde von Kemnitz bereits im ersten Weltkrieg erkannt. Sie konnte gelähmten Menschen allein über die Behandlung ihrer Seele zur Wiedergewinnung ihrer Beweglichkeit verhelfen, nachdem Arzt-Spezialisten aller Richtungen die körperlichen Symptome mit mechanischen Mitteln vergeblich zu beseitigen versucht hatten.

Jetzt scheint die Zeit gekommen zu sein, daß die Naturwissenschaft sich anschickt, auch die Seele der Natur zu berücksichtigen. Die Medizin wird ihr auf breiter Front folgen und Pioniere der Leib-Seele-Heilkunst nicht länger im Regen stehen lassen oder gar als Ketzer verfolgen.

Die Spiegelneuronen

Der Entdecker der Spiegelneuronen ist

Giocomo Rizzolatti

Giacomo Rizzolatti

Rizzolatti, Chef des Physiologischen Instituts der Universität Parma. In Tierversuchen mittelst bildgebender Technik offenbarte sich ihm, wie bestimmte Nervenzellen in bestimmten Bereichen der Hirnrinde „feuern“, sobald das Tier eine Handlung plant. Das Beispiel

Ein Affe greift nach einer Nuß, die auf einem Tablett liegt

zeigte, wie die dafür zuständige Nervenzelle feuerte, und zwar auch dann, wenn der Affe in völligem Dunkel saß und nach der Nuß griff, die ihm vorher bei Licht gezeigt worden war. Ja, sie feuerte sogar, wenn der Affe die gleiche Handlung bei seinem Gegenüber nur beobachtete.

Man braucht einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. Es war eine neurobiologische Sensation. (Bauer)

Makak_neonatal_imitation

Diese Entdeckung ist deshalb eine Sensation, weil wir jetzt zu wissen beginnen, wie das intuitive Erfassen der Seele des Andern biologisch abläuft: Spiegelneurone in unserm eigenen Gehirn werden beim Miterleben der Handlungen eines Gegenübers in derselben Weise aktiviert, wie sie aktiviert werden würden, wenn wir jene Handlungen selbst ausführten. Die Spiegelung geschieht nicht nur gleichartig und -zeitig, sondern auch unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken.

Beim Menschen genügt es zu hören, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneurone in Resonanz treten zu lassen …

Beim Menschen funken die handlungssteuernden Nervenzellen schon bei bloßen Vorstellungen. Sie liegen bezeichnenderweise in einem Hirnbereich, das auch Sprache steuert. Allein schon durch Sprache können wir einander Handlungen vorstellbar machen.

Die Bedeutung der Spiegelung

Die Spiegelneurone ermöglichen uns somit, unsere Umwelt, vor allem Menschen, zu verstehen, und zwar gerade in ihren verborgenen Feinheiten. Wir haben z. B. in Gegenwart eines Menschen ein „ungutes Gefühl“, wir ahnen intuitiv, ohne es beweisen zu können, was von diesem Menschen ausgeht.

Mit einem geliebten, mit uns innigst verbundenen Menschen spiegeln wir uns derart, daß unsere Gedanken jeweils vom anderen bereits mitgedacht werden, ehe wir sie aussprechen. Das ist in des Wortes wahrster Bedeutung der Gleichklang der Seelen, denn wie bei einem Musikinstrument schwingende Saiten andere Saiten zum Mitschwingen bringen, so daß der Klang der tatsächlich angeschlagenen Saiten voller ertönt, so regt das Denken des einen das des andern an.

Schon der 24jährige Schiller weiß von der Anregung zu berichten, die ein Geist dem andern sein kann:

Friedrich Schiller (Gemälde von Anton Graff)

Friedrich Schiller (Gemälde von Anton Graff)

Mühsam und wirklich oft wider allen Dank muß ich eine Laune, eine dichterische Stimmung hervorarbeiten, die mich in zehn Minuten bei einem guten denkenden Freunde sonst anwandelt; oft auch bei einem vortrefflichen Buch oder im offenen Himmel. Es scheint, Gedanken lassen sich nur durch Gedanken locken …

Arme Menschen, die solche Geistesanregung nicht erlebt haben, weil sie in „Gesprächen“ nur Monologe halten, sich selbst darstellen können, ihnen die Antennen für die Spiegelung fehlen. Sie nerven ihr Gegenüber, weil sie diesem eine einseitige Dauerspiegelung zumuten, ohne zur Gegengabe bereit zu sein. Bei wirklichen Gesprächen, die ihren Namen verdienen, findet gegenseitige Spiegelung statt, ein Geben und Nehmen, ein gemeinsames Vortasten zum Erkennen, beglückend für alle Beteiligten.

Der Selbstdarsteller bringt die Beteiligten in Anspannung und Mißstimmung, setzt sie durch seine Nichtbeachtung bzw. Benutzung herab, was nachweislich „die Signalrate der Spiegelneurone massiv“ vermindert. Gute Gespräche ermöglichen ausgiebige Spiegelung, reiche Intuition.

Wer den andern nicht wahrnimmt und spiegelt und somit nicht versteht, verarmt nicht nur in seinen Bewußtseins-Inhalten, er entwickelt auch kein Mitgefühl. Denn seine Nervenzellnetze geraten nicht in Resonanz, ja, sterben wegen Nichtgebrauchs ab.

Dauerhafte Dysbalancen … sind ein häufiger Ausgangspunkt für seelische Störungen und begünstigen körperliche Erkrankungen. (Bauer)

Absichtlicher Entzug von Spiegelung wird modern als „mobbing“ bezeichnet. Eine solche soziale Isolierung bedeutet für den Betroffenen Lebensgefahr. Nicht nur wird die Ausschüttung lebenswichtiger Botenstoffe (Hormone) stark vermindert, darunter die köpereigenen Opioide Dopamin und Oxytocin, sondern der Ausgegrenzte gerät in Angst und Streß, und damit ist die Dominokette (s. o.) in Gang gesetzt, die bis zur Überflutung des Blutes mit Cortisol führt.

Bei Naturvölkern kennt man den sogenannten Voodoo-Tod. Hat ein Stammesmitglied ein heiliges Verbot (Tabu) übertreten, wird es vollständig aus der Gemeinschaft ausgeschlossen; es stirbt daran innerhalb kurzer Zeit.

Noch viel schlimmer wirkt sich mangelnde Spiegelung beim Säugling aus. Der Säugling kommt mit einer Grundausstattung von Nervenzellen und schon einigen Vernetzungen auf die Welt und ist dringend darauf angewiesen zu spiegeln. Wird ihm das durch abweisende, sich abwendende, in ihrer Mimik unlebendige Erwachsene verweigert, kommt es bei ihm nicht zur Bildung von Nervenzell-Netzen, die ihrerseits spiegeln könnten.

So ist erklärlich, weshalb aus einer liebearmen Familie Kinder hervorgehen, die selbst zu Hinwendung und Liebe, zu Spiegelung des andern nicht fähig sind. Die dazu notwendigen Netze sind nicht entstanden, die Nerven abgestorben.

Use it or loose it,

heißt es in der Neurologie, d. h. entweder du nutzt deine Gehirnzellen, oder du verlierst sie.

Spiegelaktionen entwickeln sich nicht von allein, sie brauchen immer den Partner,

und zwar beim Kind den lebendigen Partner, nicht den Bildschirm. Denn dieser kann ja mit dem Kind keine Spiegelungen austauschen.

Daraus ergibt sich, und die Erfahrung lehrt es auch, daß es in unseren Schulen nicht so sehr auf die Systeme ankommt, die wir panikartig immer wieder umstellen zu müssen glauben, als vielmehr auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Lehrende, die die ihnen anvertrauten Lernenden mitzunehmen wissen durch Vormachen, Zeigen, Sinne-Ansprechen, Selbst-Tun und Selbst-Erfahren, deren Unterricht daher für alle spannend ist, ein gemeinsames Schreiten zur Erkenntnis, die erreichen einen Bildungsstand bei den ihnen Anvertrauten, der befriedigt und haften bleibt.

Aber gerade diese zwischenmenschlichen Arbeitsbedingungen sind heute oft schwierig zu erreichen, weil viele Jugendliche durch Mangel an Zuwendung und Erziehung, durch Mangel an Spiegelung in ihrer Kindheit nicht mehr fähig sind, sich dem Andern zuzuwenden, und sogar täglich und stündlich darauf aus sind, ihre Lehrer „fertigzumachen“, indem sie das Aufkommen zwischenmenschlicher Verbindungen im Unterricht von vorn herein zerstörend behindern, auch um ihre Macht zu beweisen.

Dies zeigt Wirkung, und so schaukelt sich eine Stimmung auf, in der ein geistiger Austausch nicht mehr stattfinden kann. Da scheitert auch die beste Lehrkraft. Daß es allerdings seit je unfähige Lehrende gibt, die sich durch unlebendige, abstrakte Sprechweise und unanschaulichen Unterricht und dadurch auszeichnen, daß sie die Kinder und Jugendlichen von oben herab „schulmeistern“, das verschlimmert die Lage noch. Spiegelung findet bei dem allen nicht statt.

Aus der Fähigkeit, Gedanken und Verhaltensweisen zu spiegeln, ergibt sich andererseits auch die Erscheinung der Massenpsychosen. Hier ist Eigenständigkeit im Denken und Wollen gefragt und Mut, sich verderblichen Strömungen entgegenzustemmen.

Die Paradoxie liegt darin, daß eines der Grundphänomene des Menschseins und der Menschlichkeit, nämlich die Fähigkeit zur Resonanz, zugleich zur Entwicklung von Massenphänomenen führen kann, welche die Zerstörung der Menschlichkeit zur Folge haben.

In der Erziehung sind also Voraussetzungen zu schaffen, die sowohl die seelische Entfaltung zu Liebe und Hinwendung zum Andern ermöglichen als auch die der Eigenständigkeit und des Mutes. Das bedeutet, daß der Mensch seine Spiegelneurone einerseits vermehren und vernetzen, andererseits sein Frontalhirn entwickeln sollte, dessen Vorderlappen als Sitz der Selbststeuerung gilt.

Hier entsteht die Fähigkeit, gedankenlose Nachahmung bei sich selbst zu kontrollieren. Hier entwickeln wir in Verantwortung für uns selbst und für die Entfaltung des Guten, Wahren und Schönen in der Welt unsere Richtkraft, unsere Wahlkraft und Gestaltungskraft, Kräfte, die uns zu dem Menschen werden lassen, den wir aus dem uns Gegebenen selbst gestalten. Oder wir unterlassen es. Uns ist die Freiheit der Wahl gegeben.

Schlußbetrachtung

Unsere Gene steuern uns zwar zu einem Teil, die Umwelt beeinflußt uns zu einem anderen Teil, ohne daß wir uns dessen immer bewußt sind, wir jedoch sind es vor allem, die Einflüsse aus der Umwelt in ihrer Wirkungsweise auswählen, in uns lenken und somit unsere Gene steuern können. Wir können und wollen eigenständig unsere Willenskräfte nach uns selbst ausrichten.

Wenn es dann um uns einsam wird, unsere Sehnsucht nach Menschen, in denen wir unsere Gedanken und Gefühle spiegeln könnten, seltener erfüllt werden kann und besonders derjenige fehlt, mit dem einst innigste Zweisamkeit bestanden hat oder der vielleicht im ganzen Leben nicht zu finden war, dann zahlen wir einen hohen Preis. Denn für die Gesunderhaltung unserer Seele und damit unseres Leibes sind wir auf die Spiegelung in anderen Menschen angewiesen.

Doch um einer beliebigen Spiegelung willen von unseren Idealen zu lassen und im Mitläufertum zu verflachen, fällt uns schwer. Lieber wählen wir die Einsamkeit.

Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht,

fand auch Ludwig Börne.

Aber Menschen, mit denen Spiegelung in allen Bereichen gelingen soll, müssen schon von gleichem Geiste beseelt sein. In solchem Falle gäbe es auch nur ein klares Nein auf die rhetorische Frage Ciceros:

Gibt es etwas Beglückenderes, als Menschen zu kennen, mit denen man sprechen kann wie mit sich selbst?

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Mithus
Mithus
14 Jahre zuvor

Wieder ein sehr interessanter Beitrag, der zu weiterführenden Gedanken verleitet. Ausgehend von der inzwischen wohl nicht mehr zu bestreitenden Annahme, dass Mensch (wie Tier und Pflanze?) nur ganzheitlich, das heißt in der Summe der körperlichen, geistigen und seelischen (gefühlsmäßigen, spirituellen) Verfasstheit gesehen werden kann, bleibt natürlich die Frage, was(?) auf diese Verfasstheit von außen wie(?) einwirken kann, immer interessant.

Dazu gibt der Aufsatz mit dem Hinweis auf neue Erkenntnisse über die aufgezeigten Genfunktionen und -aktivitäten und der Spiegelneuronen-Resonanz in vielen Bereichen guten Aufschluß.

Nun bin ich leider in der Genetik und Genomic nicht bewandert und kann das hier aufgezeigte Fachwissen nicht hinterfragen. Es bleibt mir daher nur die Möglichkeit zu jenen Gedanken mich zu äußern, die Adelinde neben der Rezension des Buches interessanterweise aufwirft und die ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen kann:

1. Außenwirkung auf Gen-Aktivität? Ganz sicher gibt es dies, aber nicht nur! Bauer spricht insoweit auch von interzellulären und organinternen Wirk-Substanzen. Doch gut herausgearbeitet und letztlich sehr wesentlich ist die Entdeckung der Außenwirksamkeit über das Gehirn oder unsere Sinneswahrnehmungen. Ob es dabei die Seele ist, die hier etwas verarbeitet, oder der Organismus in seiner Gesamtfunktionalität, stelle ich mal dahin. Lassen wir es bei der anschaulichen Seele und halten fest, dass damit unsere anima gemeint ist, die unser Verhalten und unsere körperlich-geistige Verfassung letztlich summarisch lenkt. Wer wie ich als Krebspatient erfahren hat, woher die Selbstheilungskräfte kommen, der gibt Adelinde in ziemlich allen Punkten recht. Die Einschränkung “ziemlich” füge ich hier ein, weil ich eine Verallgemeinerung dort vermeiden möchte, wo geistige, gegen-sätzliche Auseinandersetzung den Gleichklang erst noch finden muß.

2. Die Folgen der Einflüsse der negativen Sinneswahrnehmungen sind, weil Prägungen kaum rückrufbar sind, wohl kaum therapierbar. Vorallem müssen in diesen Problemkreis auch einbezogen werden alle ausbleibenden Sinneswahrnehmungen, die entweder angeboren oder anerzogen erwartet werden dürfen, aber nicht eingelöst werden. Dies löst immer Enttäuschungen aus. Beispiel: Empathie oder Achtsamkeit wird verweigert, wie es unser Alltag zeigt (Mobbing). Es ist nicht nur das böse Tun hier anzusprechen, sondern auch das böse Unterlassen, insbesondere dann, wenn moralische oder ethische Pflichten dies einfordern. Denn dieses Verweigern hat das gleiche zerstörerisches Potential, wie sich an unserer derzeitigen Gesellschaftsverfassung ablesen läßt. Krassester Fall derzeit: Israelische Menschenrechtsverachtung gegenüber den Palästinensern, die keine Terroristen sind, und das Zusehenmüssen, dass unsere Politiker dazu mehr als schweigen. Das muß deutsche Seelen kaputtmachen.

Der Hinweis auf die Resonanzfähigkeit der Spiegelneuronen ist hier sehr wertvoll. So kann manches erklärt werden, was in der Hirnforschung wohl noch strittig ist und vorwiegend Männern schwerfällt, weil sie zu sehr auf die ratio fixiert sind. Weibliche Intuition und die Fähigkeit, unausgesprochene Gedanken blitzschnell zu erkennen, ist – neben den besondren Fähigkeiten unter Liebenden – Vorteil und Schutz zugleich und wohl Ausgleich für die evolutionär bedingte körperliche Unterlegenheit im Kampf.

Wir müssen aber darauf achten, die Funktion der Spiegelneuronen nicht zu verallgemeinern. Nicht alles, was unter Menschen kommuniziert werden kann oder gar muß, kann nach dieser Methode funktionieren. Bei aller Sympathie und Empathie, der Wille zur Harmonie steht oft dem stärkeren Willen zur “wahren” Erkenntnis entgegen. Und das kann Streit bedeuten! Wieviele Geistesgrößen haben sich nach jahrzehntelanger Freundschaft der angeblichen eignen Wahrheit wegen zerstritten? Vergl. Freud und Fromm.

Nahm deswegen die Leib-Seele-Einheit der Betroffenen Schaden? Man müßte dies einmal untersuchen. Leib-Seele-Einheit kann m. E. nur etwas höchst Individuelles sein, das in mehr oder weniger großen Bereichen mit dieser Art von Einheit anderer Menschen übereinstimmt. Schön, wenn man auf solche Menschen trifft. Aber Vorsicht vor der Diktatur, die im Wollen zur Einheitlichkeit liegen kann. Auf das gefährliche Massenverhalten aus falsch verstandener Resonanz wird Gott sei Dank ausdrücklich von A. hingewiesen und macht den Aufsatz in seiner Gesamtheit sehr lesenswert.

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