„Juden unerwünscht“
Montag, 11. Oktober 2010 von Adelinde
Es ist schon eine Weile her, daß die FAZ in ihrer Nr. 51 vom 1.3.07 auf Seite 7 unter obiger Überschrift eine Abhandlung von
Professor Dr. Konrad Löw
veröffentlichte. Professor Löw, Emeritus für Politische Wissenschaft der Universität Bayreuth, ist seit 1990 Mitglied des Vorstands der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) und seit 2000 Kuratoriumsmitglied des Forums Deutscher Katholiken.
„Juden unerwünscht“ – so lautet Löws Fazit nach seiner Durchsicht der vielen Veröffentlichungen über die Zeit der Judenverfolgung im Nationalsozialismus. Löw betont:
Die Veröffentlichungen über die Zeit des Nationalsozialismus sind kaum zu überschauen. Dennoch gibt es keinen Konsens in der eminent wichtigen Frage, wie sich die „arischen“ Deutschen den Juden gegenüber verhalten haben.
Gerade Stimmen der jüdischen Erlebnisgeneration werden oft nur selektiv verwendet, je nachdem, wie die Autoren es gern hätten. Heute scheint mir die Ansicht allgemeingültig – ja geradezu diktatorisch verordnet – geworden zu sein, die auch in einer von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Schrift vertreten wird, nämlich
daß die Deutschen nicht nur von den Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber wußten, sondern darüber offen informiert wurden und weit aktiver, als bisher bekannt war, mithalfen – durch Zustimmung, Denunziation oder Mitarbeit.
Deshalb seien aus dem Löw-Artikel hier einmal Beispiele angeführt, die ein anderes Licht auf die Deutschen jener Zeit des Meinungsterrors und der Diktatur werfen. Interessant die Feststellung des 2004 erschienenen, 894 Seiten umfassenden „Standardwerkes“ Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945:
Wie aus den bisherigen Forschungen zur geheimen NS-Berichterstattung hervorgeht, glaubte das Regime nicht an das monolithische Bild von Staat und Gesellschaft, das von ihm selbst in den Massenmedien dargestellt und von der Welt meist entsprechend wahrgenommen wurde.
Die Deutschen waren kein „monolithischer Block“ in der Judenfrage
So entsprach das deutsche Volk damals – gerade auch in der Judenfrage – durchaus nicht einem solchen monolithischen Bild, meint Löw und führt Ian Kershaw an, der in seiner großen Hitler-Biographie von 1999 Der Hitler-Mythos: Führerkult und Volksmeinung im Kapitel Das Hitler-Bild in der Bevölkerung und die „Judenfrage“ Berichte an den SPD-Vorstand im Exil erwähnt, die die Verhältnisse zu Hause schildern wie z. B. hier:
Man kann ohne Übertreibung sagen, daß vier Fünftel der Bevölkerung die Judenhetze ablehnt. Zwar sind nach wie vor an fast allen Ortseingängen und Ausgängen Schilder angebracht mit der Aufschrift; „Juden sind hier unerwünscht“, auch gibt es nur ganz vereinzelt noch Mutige, die mit einem Juden freundschaftlichen Verkehr pflegen – diese sind dann als Judenknechte geächtet -, aber die ganz barbarischen Transparente … sind wieder verschwunden.
Dennoch übergehe Kershaw die Äußerungen jüdischer Zeitzeugen, berichtet Löw.
Dabei machen sie einschlägige Aussagen in so großer Zahl, daß es sich von selbst verbietet, sie nicht zu berücksichtigen.
So habe
Max Mayer, ein Verwandter des späteren Bundesjustizministers Gerhard Jahn, dessen Mutter 1944 in Auschwitz ermordet wurde,
am 9. Mai 1938
einen ergreifenden, ganz offenbar Wort für Wort reiflich überlegten Brief an einen seiner Enkel
geschrieben. Darin heiße es:
Seit fünf Jahren sind die Juden in Deutschland einem erbarmungslosen Prozeß der Ausstoßung aus dem Volkskörper überliefert … In Verwirklichung dieser als „Weltanschauung“ aufgemachten These ist eine Orgie von Rassenhaß gemacht und eine totale systematische Disqualifizierung des jüdischen Menschen ins Werk gesetzt worden … Das tragische Schicksal der Betroffenen zu schildern gehört nicht hierher … Ihnen gegenüber steht das „arische“ Volk. Es unterzieht sich dieser befohlenen Judenverfolgung zum Teil bereitwillig … Aber zu einem sehr großen Teil lehnt das Volk im Wissen um die Unwahrheit und Ungerechtigkeit der Schlagworte die Verfolgung ab, ohne aber den Betroffenen helfen zu können.
Vielen Deutschen war die Judenverfolgung peinlich
Weiter zitiert Löw einen Dr. Willy Israel Cohn aus Breslau, der am 19. September 1941 in sein Tagebuch schrieb:
Man hat versucht, weil heute der erste Tag des Judensterns ist, alles noch zu erledigen, um heute nicht allzuviel auf der Straße zu sein. Ich bin übrigens überzeugt, daß alles ruhig ablaufen wird, und habe heute früh beim Milchholen bemerkt, daß es im Grunde den Volksgenossen peinlicher ist als uns!
Einen Tag später schreibt Cohn:
Dann im Schmuck des Judensterns in die Storchsynagoge gegangen; ich wollte an diesem Tag unbedingt gehen, um mir nicht nachsagen zu lassen, daß ich wegen Feigheit gefehlt hätte; ich bin den ganzen Weg gelaufen, und das Publikum hat sich durchaus tadellos benommen, ich bin in keiner Weise belästigt worden; man hatte eher den Eindruck, daß es den Leuten peinlich ist.
Am 11. November 1941 notiert er:
Heute ist meine Frau beim Lebensmitteleinkauf zum ersten Mal angepöbelt worden. Im allgemeinen ist ja das Verhalten des Publikums korrekt!
Bedeutende Persönlichkeiten beteuern ihr Nichtwissen und das der meisten Deutschen
Löw führt Personen an, die die Zeit miterlebt haben, die durch ihre Lebensleistung bekannt sind und somit – in Bezug auf unser Thema – gewiß Vertrauen genießen wie Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Hans-Ulrich Wehler,
wenn sie ihre Unkenntnis beteuern.
Helmuth von Moltke war bekanntlich gerade wegen der Judenverfolgung zum Mitverschwörer gegen Hitler geworden. Er schrieb 1943,
daß das deutsche Volk nichts von der Tötung Hunderttausender von Juden wisse. „Sie haben immer noch die Vorstellung, daß die Juden nur ausgegrenzt worden sind und nun im Osten in ähnlicher Weise wie vorher in Deutschland weiterlebten.“
Selbst viele Juden ahnten anscheinend nicht, was ihnen bevorstand,
wenn sie
ganz entschieden ihr Nichtwissen beteuern. Hier nur eine dieser Stimmen: Der Auschwitz-Flüchtling Friedemann Bedürftig glaubte zu wissen: „Die in Auschwitz Ankommenden hatten samt und sonders nicht nur keine Ahnung, wo sie waren, sondern auch nicht die geringste davon, was ihnen zugedacht war. Sie ließen sich nicht etwa wegen ihrer ,rassischen Minderwertigkeit‘, wie die Nazis gerne behaupteten, fast widerstandslos zur Schlachtbank führen, sondern weil sie gar nicht wußten, daß sie sich auf die Reise dahin begaben.“
Doch der Autor Peter Longerich erwähnt diese Beobachtung eines jüdischen Betroffenen in seinem Buch Davon haben wir nichts gewußt! nicht.
Daniel Goldhagen jedoch wirft Longerich vor, versäumt zu haben,
Marion Kaplans unverzichtbare jüngste allgemeine Studie Der Mut zum Überleben zu erwähnen, ein Buch, das absolut entscheidende Quellen nutzt.
Goldhagen empört sich
über Longerichs Erkenntnis, daß Hitlers Judenpolitik von der Mehrheit der Deutschen mißbilligt wurde. Die Lektüre des Buches von Kaplan hätte Longerich eines Besseren belehrt, behauptet Goldhagen.
Der Zusatz im Titel des Buches von Kaplan, Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, lasse erwarten, daß damalige jüdische Frauen im Mittelpunkt der Betrachtung stünden. Zwar seien einige im Literaturverzeichnis zu finden,
doch keine von ihnen kommt ausführlich zu Wort. Erwähnt seien Else Behrend-Rosenfeld, Inge Deutschkron, Bella Fromm, Hertha Nathorff, Margot Schmidt, Marga Spiegel, Velerie Wolffenstein. Über andere wurden Biographien verfaßt, so über Lilli Jahn.
Löw bietet
„drei Kostproben“,
die aber die Lektüre aus den Gesamtschriften nicht ersetzten könnten:
Else Behrend-Rosenfeld
feiert am 1. Mai 1941 ihren 50. Geburtstag zu Hause in Icking, Isartal, „mit allen hier gewonnenen Freunden, unter denen weder die Nachbarn und die Familie Pr. noch unsere wirklich prachtvolle Lebensmittelhändlerin fehlte, die durch Tillas Sondereinkäufe für diesen Tag nach der Ursache gefragt hatte“. Wenige Wochen später beginnt für sie der Arbeitszwang. „Meine Arbeitskolleginnen gefallen mir gut, es herrscht ein netter, kameradschaftlicher Ton unter ihnen.“
Inge Deutschkron
– sie lebt noch heute in Berlin – erinnert sich an Ereignisse, die schier unglaublich klingen: „Die jüdische Bevölkerung Berlins hatte fast ausnahmslos alles, was ihr nach den Lebensmittelkarten versagt bleiben sollte. Berliner Mitbürger sorgten dafür. Da waren zunächst die Inhaber der Lebensmittelgeschäfte, die ihren alten Stammkunden die ,Extras‘ zusteckten. Meine Mutter und ich fuhren einmal in der Woche zu Richard Junghans … Er versorgte uns mit Obst und Gemüse, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt. Ähnlich war es mit unserem Fleischer … Nun gab er meiner Mutter die gleiche Menge Fleisch, die unsere Familie in jenen vielen Jahren pro Woche zu verbrauchen pflegte, ohne daß wir auch nur eine einzige Lebensmittelmarke hätten abgeben können … Das ,Hohelied‘ dieser braven Menschen, die ungeachtet der Gefahr, von Nazi-Mitbürgern denunziert zu werden, ihren jüdischen Kunden wenigstens auf diese Weise zur Seite standen, wird nie geschrieben werden, weil diejenigen, die es tun könnten, nicht mehr am Leben sind.“
Bella Fromm:
„20. September: Ich unterhielt mich immer wieder mit Ladeninhabern und mit Leuten an Tankstellen und in Gaststätten. Sehr oft ist ihre strenge nationalsozialistische Haltung nur eine Vorsichtsmaßnahme. Juden erzählten mir: ,Obwohl wir die Läden nicht betreten dürfen, geben uns die arischen Inhaber doch alles, was wir brauchen, meist nach Ladenschluß.‘“
Dies und noch weitere einschlägige Berichte unterschlägt Kaplan in ihrem Buch. Dagegen erwähnt sie
Victor Klemperer,
verschweigt aber folgende Erzählung von ihm:
Beim Antreten am Montag wurde ich in die Bureauräume im ersten Stock geführt, und der Chef, ein Herr in den Vierzigern, sah meine Papiere. ,Schade, daß wir keine Zeit haben, wie schöne Vorträge könnten wir uns halten lassen, alle Fakultäten sind jetzt bei uns vertreten.‘ Es klang durchaus gutmütig – ich bin auch noch nirgends einer antisemitischen Regung im Betrieb begegnet.
Obwohl der amerikanische Historiker Robert Gellately, Center for Holocaust Studies, Clark University, USA, in seinem Buch Hitler und sein Volk von Klemperer schreibt, er vermittele praktisch auf jeder Seite seines Tagebuchs
einen Eindruck von der positiven Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die verschiedenen Wellen der Judenverfolgung …
lasse er Klemperer selbst kaum zu Wort kommen. Der solle am 25. April 1933 in sein Tagebuch eingetragen haben,
daß er die Deutschen insgesamt nicht für besonders antisemitisch halte.
Löw zitiert Klemperer:
Einzel genommen sind fraglos neunundneunzig Prozent der männlichen und weiblichen Belegschaft in mehr oder minder hohem Maße antinazistisch, judenfreundlich, kriegsfeindlich, tyranneimüde …, aber die Angst vor dem einen Prozent Regierungstreuer, vor Gefängnis, Beil und Kugel bindet sie.
Und wieder muß Löw feststellen, daß dies verschwiegen wird, hier von Gellately.
Das Gleiche gilt für Saul Friedländers großes Werk Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945. Dort heiße es vielversprechend, er arbeite
mit einem überwältigenden Chor von Stimmen.
Nichtsdestotrotz lasse er die jüdischen Stimmen nicht zu Wort kommen,
auch nicht so bekannte Juden wie Alfred Grosser, Werner Michael Blumenthal, Gerhard Löwenthal und Hans Rosenthal. Victor Klemperer hingegen, dem Friedländer „absolute Aufrichtigkeit“ attestiert, begegnet uns auf vielen Seiten, doch keines der oben angeführten Zitate.
Wenn also
die jüdischen Stimmen verschwiegen
werden, so verwundere es ihn, Löw, nicht, daß auch
die Zensuren der Regimekritiker Ruth Andreas-Friedrich, Ursula von Kardorff, Erich Kästner und des Chefanklägers in Nürnberg, Robert H. Jackson, weitgehend ungenutzt versickern und bei dem … Unwerturteil über „die Deutschen“ keine Rolle spielen.
Bitter zieht Löw sein oben schon erwähntes Fazit, daß in der einschlägigen Literatur es so aussieht, als seien hier auch heute
Juden unerwünscht. Sie bleiben selbst dort nahezu unbeachtet, wo ihre Bedeutung ausdrücklich betont wird.
Löw beendet seine Ausführungen mit einem – ebenfalls verschwiegenen – Zitat Jochen Kleppers, bis 1933 Mitarbeiter der SPD-Zeitung Vorwärts, dann freiwillig gemeinsam mit seiner jüdischen Frau sowie der jüdischen Stieftochter in den Tod gegangen, nachdem den beiden Frauen die Deportation angedroht worden war:
Auch das, was Hanni heute von dem Verhalten selbst der recht nationalsozialistischen Südender und Steglitzer von der Marineoffiziersfrau bis zu den Frauen im Bäckerladen, von den Männern am Zeitungsstand bis zum kleinen Nachbarn des – wohl letzten – jüdischen, demolierten Geschäftes hier zu sagen hat, bestätigt, daß man am deutschen Volke nach wie vor nicht zu verzweifeln braucht. Das Volk ist ein Trost, seine moralische Ohnmacht eine furchtbare Sorge.