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Thomas Engelhardt

veröffentlicht unten den Leserbrief des ehemaligen Stuttgarter Landgerichtsrichter a. D. Frank Fahsel (Fellbach) in der Süddeutschen Zeitung vom 09.04.2008:

„Ich spreche Christiane Kohl meine Hochach-tung dafür aus, daß sie das zugrundeliegende Sujet (den „Sachsensumpf”) nicht vergessen hat. Ich war von 1973 bis 2004 Richter am Landgericht Stuttgart und habe in dieser Zeit ebenso unglaubliche wie unzählige, vom Sy-stem organisierte Rechtsbrüche und Rechts-beugungen erlebt, gegen die nicht anzukom-men war und ist, weil sie systemkonform sind.

Ich habe unzählige Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte erleben müssen, die man schlicht „kriminell” nennen kann. Sie waren und sind aber sakrosankt, weil sie per Ordre de Mufti gehandelt haben oder vom System gedeckt wurden, um der Reputation willen.

Natürlich gehen auch Richter in den Puff, ich kenne in Stuttgart diverse, ebenso Staatsan-wälte. In der Justiz gegen solche Kollegen vorzugehen, ist nicht möglich, denn das Sy-stem schützt sich vor einem Outing selbst – durch konsequente Manipulation.

Wenn ich an meinen Beruf zurückdenke (ich bin im Ruhestand), dann überkommt mich ein tiefer Ekel vor „meinesgleichen”.

Frank Fahsel, Fellbach, 9.04.2008

Anm.:  per Ordre de Mufti  =  (eher scherzhaft): auf Anordnung einer vorgesetzten Stelle, ohne Einbeziehung der Betroffenen. [Diese Redewendung ist französischen Ursprungs und bedeutet ‚auf Befehl des Mufti‘]. (Mufti = islamischer Rechtsgelehrter)

Kommentar zum Selbstzeugnis von Richter a. D. Frank Fahsel (Th. Engelhardt, 18.09.2024)

In gewisser Weise eignet sich die von Richter Fahsel vorgenommene Einschätzung nur be-grenzt, um das bundesdeutsche Justizwesen objektiv und sachlich zu bewerten.

Kritiker dieses Selbstzeugnisses könnten entgegnen, daß es sich um eine subjektive Meinungsäußerung handelt.  Insofern wären diese von Frank Fahsel im Jahre 2008 getrof-fenen Aussagen nicht zu verallgemeinern. Darüber hinaus hat Fahsel auch keineswegs eine Kritik an der politischen Funktion der bundesdeutschen Justiz formuliert. Das ist im Gesamtzusammenhang jedoch zu beachten.

Juristische Laien (zu denen der Autor nach-stehenden Kommentars ebenso gehört) schätzen den Charakter der Justiz sehr oft falsch ein. Notwendig ist daher zuerst eine Begriffsklärung.

Richter sind im System der Gewaltenteilung Teil der Judikative. Die Staatsanwälte (bzw. Staatsanwaltschaften) dagegen sind Bestand-teil der Rechtspflege und in gewisser Weise Teil der staatlichen Exekutive, also der voll-ziehenden Gewalt.

„In Rechtsstaaten wird die Judikative durch unabhängige Richter ausgeübt. Die Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht gebunden.“

Qu.: https://de.wikipedia.org/wiki/Judikative

Der Begriff Judikative („richterliche Gewalt“) ist demnach durchaus nicht identisch mit den Begriffen Gerichtsbarkeit, Justiz oder Rechts-pflege, die staatsrechtlich betrachtet zum Teil auch der vollziehenden Gewalt (Exekuti-ve) zuzuordnen sind.

Nun zum Recht. Objektives Recht, objektiv wirkendes Recht existiert nicht. Existierte niemals. Was Recht oder Unrecht sei ent-scheidet der, der die Macht dazu hat. Und der formuliert auch die Gesetze. Legislative (die rechtsprechende Gewalt), Judikative (rich-terliche Gewalt) und die Exekutive (die voll-ziehende Gewalt) handeln also durchaus Hand in Hand. Sie repräsentieren gemeinsam die staatliche Gewalt.

In der vorstaatlichen Zeit und noch weit bis in das Mittelalter hinein galt altes überkomme-nes Volksrecht (Gemeinrecht). Es tritt uns im alten Überlieferungsgut entgegen.

Etwa im alten Stammesrecht der Thüringer, dem Lex Thuringorum, vollständig als „Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringo-rum“ überliefert. Es handelte sich dabei um eine frühmittelalterliche Rechtsaufzeichnung, die für die von den germanischen Stämmen der Angeln und Warnen bewohnten Gebiete im heutigen Thüringen galt. Veranlaßt wurde das Lex Thuringorum von Karl dem Großen.

Ein weiteres Beispiel war das alte Sachsen-recht. Der Sachsenspiegel war ein Rechts-buch, verfaßt von Eike von Repgow, entstan-den etwa zwischen 1220 und 1235. Es war das bedeutendste und zugleich das älteste Rechtsbuch des deutschen Mittelalters. Mit der Durchsetzung des römischen Rechts, das in angepaßter Form bis heute gilt, wurden die alten überkommenen Rechtsauffassungen verdrängt bzw. abgelöst und gegenstandslos. Dieser Prozeß war langwierig und verlief durchaus nicht konfliktfrei. Reste des alten Volksrechts hielten sich bis in die Neuzeit.

Mit der Durchsetzung der politischen Terri-torialgewalt (Grafen, Herzöge, Fürsten usw.) wurde das alte Gemeinrecht durch neue Rechtsauffassungen ersetzt und zugleich das Recht durch Gesetze verschriftlicht.

Heute sieht sich der Normalbürger einem regelrechten Monstrum gegenüber. Die Zahl der bestehenden Gesetze ist selbst für An-wälte nicht mehr zu überblicken. Fast jeder Bürger ist zunächst eingeschüchtert, sieht er sich mit einer staatsanwaltlichen Ermittlung oder gar einem Gerichtsprozeß konfrontiert. Ja, man kann sogar sagen, die Menschen haben Angst.

Und diese Angst ist begründet!

Zum Stichtag 24. Mai 2024 sind auf Bun-desebene 1.797 Gesetze mit 52.401 Ein-zelnormen sowie 2.866 Rechtsverordnungen mit 44.475 Einzelnormen gültig gewesen. Das ist aber lediglich die Zahl der Bundesge-setze (sic.).

Diese Zahl nannte die Bundesregierung in einer Antwort (20/11746) auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion (20/11510) zu „Maßnahmen zur Reduzierung von Bürokratie auf Bundesebene“. Bezogen auf die Zahl der Gesetze beziehungsweise Rechtsverordnun-gen ist das jeweils der Höchstwert seit 2010.

Seit Beginn der laufenden Legislaturperiode sind danach 52 neue Gesetze mit 1.282 Einzelnormen und 301 Rechtsverordnungen mit 4.713 Einzelnormen in Kraft getreten. Im selben Zeitraum traten 36 Gesetze mit 1.060 Einzelnormen und 210 Rechtsverordnungen mit 2.793 Einzelnormen außer Kraft. Allein die Zahl der EU-Gesetze ist unüberschaubar (insgesamt wohl mehr als 35.000 Einzelge-setze). Im Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 2008 hat die EU insge-samt mehr als 25.000 Verordnungen erlas-sen.

Der Bundestag und das Berliner Abgeordne-tenhaus kommen im selben Zeitraum zu-sammen nicht einmal auf 6.500 Gesetze und Rechtsverordnungen. Stellt man die Zahlen gegenüber, so entsprechen 80 % aller in dieser Zeit erlassenen, und in der BRD gel-tenden Rechtsakte Verordnungen der EU. Etwa 13 % der Rechtsakte wurden vom Bund und 7 %  von den Ländern erlassen.

Die vorgebliche Unabhängigkeit der bun-desdeutschen Richter existiert nicht. Richter sind nicht wirklich unabhängig. Ein Indiz für diesen Vorhalt ist die Tatsache, daß nach der Verabschiedung neuer Gesetze Richter un-tergeordneter Gerichtsinstanzen zunächst abwarten, welche Entscheidungen überge-ordnete Gerichtsinstanzen treffen.

Die sog. DSGVO (Datenschutzgrundverord-nung) war hier das beste Beispiel. Erst als Grundsatzurteile vorlagen, wuchs die Zahl richterlicher Entscheidungen. Die sog. Un-abhängigkeit der Richter ist jedoch insofern gegeben, als daß niemand und keine Instanz einem Richter hierzulande vorschreiben kann, wie er zu urteilen hat. Theoretisch nicht.

Die eigentliche Wahrheit, die sich dahinter verbirgt, ist jedoch weitreichender.

In der BRD existieren faktisch zwei Gesetzes-formen. Das in schriftlich formulierten Ge-setzen vorliegende sog. Gesetzesrecht sowie das sich hieraus ergebende Richterrecht. Dem Durchschnittsbürger ist diese Tatsache weder bekannt noch geläufig.

A l l e  bundesdeutschen Gesetze in allen Rechtsfeldern (Zivilrecht, Strafrecht, Auslän-derrecht, Arbeitsrecht, Verkehrsrecht, Fami-lienrecht usw.) sind bewußt unscharf formu-liert und werden erst durch die weitaus um-fangreicheren Kommentarbände erklärt und interpretiert.

Das heißt, erst die Rechtsprechung (diese ist die Grundlage der Kommentare) führt zu einer Interpretation von Gesetzen. In der Realität führt es dazu, daß ein und dasselbe Gesetz von unterschiedlichen Gerichten unterschiedlich gewichtet und angewendet wird. Hier wird die Unabhängigkeit des bundesdeutschen Richteramts besonders deutlich.

Der betroffene Bürger sieht sich aber sehr oft einem kaum zu durchschauenden System ohnmächtig gegenüber. Formal hat er die Möglichkeit, den Instanzenweg zu wählen, ein Urteil also anzufechten. Sehr oft scheitert eben das aber an den Realitäten, nicht zuletzt an den finanziellen Möglichkeiten.

Wer hierzulande gar mit einem politischen Prozeß konfrontiert ist, muß sehr oft davon ausgehen, hart und unbarmherzig abgestraft und verurteilt zu werden. Nicht selten sind derlei Prozesse mit einem finanziellen Ruin und der Vernichtung der beruflichen Existenz verbunden.

Daß Richter auch nur Menschen sind, wird an der Zahl der bundesdeutschen Justizirrtümer deutlich. Am 16. Januar 1998 wurde Harry Wörz aus Gräfenhausen im Enzkreis wegen versuchten Totschlags an seiner Frau zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Ein tragischer Justizirrtum nahm seinen Lauf.

Das Urteil wurde am Freitag, dem 16. Januar 1998, vor dem Landgericht Karlsruhe ver-kündet. Der damals 31-jährige Wörz wurde in dem Indizienprozeß für schuldig befunden, seine von ihm getrennt lebende Ehefrau stranguliert und fast getötet zu haben. Wörz hatte während des gesamten Verfahrens im-mer seine Unschuld beteuert.

„Was dieser Staat mit mir gemacht hat, kann ich nicht vergessen. Dieser Tag hat mein Schicksal besiegelt.“ (Harry Wörz, 25 Jahre nach seiner Verurteilung gegen-über dem SWR).

Der Fall Harry Wörz wurde bundesweit bekannt. Es ist aber nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs. Eine Liste der Justizirrtümer hier:

Liste von Justizirrtümern in der deutschen Rechtsprechung

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Justizirrtümern_in_der_deutschen_Rechtsprechung

Auch in einem sich Rechtsstaat nennenden Staat landen immer wieder Menschen zu Unrecht im Gefängnis. Falschaussagen, Er-mittlungsfehler, mangelhafte Gutachten: Die Gründe für Fehlurteile sind vielschichtig.

Nachstehend sieben bekannte Justizopfer im „Rechtsstaat“ BRD[1]

  • Der Fall Gustl Mollath

  • Der Fall Günther Kaufmann

  • Der Fall Ulvi Kulac

  • Der Fall Holger Hellblau

  • Der Fall Harry Wörz

  • Der Fall Norbert Kuß

  • Der Fall Manfred Genditzki

Der Fall Gustl Mollath

2.747 Tage saß Gustl Mollath zu Unrecht in einer psychiatrischen Anstalt – bis er im August 2013 endlich freikam. Mollath wurde fälschlicherweise in die Psychiatrie eingewie-sen, nachdem er Korruptionsvorwürfe gegen seine Ex-Frau und die Bank, bei der sie ar-beitete, erhoben hatte. Er wollte Schwarz-geldgeschäfte aufdecken. Doch Mollath wur-de als psychisch krank abgestempelt. Viel später erst kam ans Licht, daß er die Wahrheit gesagt hatte. 2019 endete das letzte Verfah-ren.

Der Fall Günther Kaufmann

Günther Kaufmann war ein Star. Der Schau-spieler spielte für Kultregisseur Rainer Werner Fassbinder in Filmklassikern wie „Götter der Pest“ oder „Die dritte Generation“. Auch vor Gericht bewies er schauspieleri-sches Talent. Aufgrund eines falschen Ge-ständnisses wurde er 2002 wegen schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge zu 15 Jahren Haft verurteilt. Kaufmann wollte damit seine kranke Ehefrau schützen, die drei Männer zu der Tat angestiftet hatte. 2005 wurde er in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.

Der Fall Ulvi Kulac

Der geistig behinderte Ulvi Kulac wurde 2004 wegen Mordes an der neunjährigen Peggy Knobloch zu lebenslanger Haft verurteilt. Grundlage war ein Geständnis, das allerdings nicht aufgezeichnet wurde und das Kulac später widerrief. Es gab weder eine Leiche noch Spuren oder belastende Zeugenaussa-gen. Rund zehn Jahre später hob das Landge-richt Bayreuth die Verurteilung auf. Im Juli 2016 werden Teile von Peggys Leiche in einem Wald in Thüringen gefunden. Wer die Tat begangen hat, ist immer noch unklar.

Der Fall Holger Hellblau

Fünf Jahre verbrachte Holger Hellblau un-schuldig im Gefängnis. Er war 2006 vom Landgericht Neuruppin zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er den Liebhaber sei-ner Frau heimtückisch im Schlaf erstochen haben sollte. Neue Beweise und eine DNA-Analyse brachten seine Unschuld ans Licht. 2010 wurde Hellblau in einem Wiederaufnah-meverfahren freigesprochen. Der wahre Täter konnte bis heute nicht ermittelt werden.

Der Fall Harry Wörz

Harry Wörz wurde 1998 wegen versuchter Erdrosselung seiner Ehefrau verurteilt. Erst nach fast fünf Jahren Haft wurde seine Un-schuld bewiesen. 2009 wurde er wegen gravierender Ermittlungsfehler freigespro-chen. Wörz‘ Ehefrau konnte sich nicht mehr zu dem Fall äußern. Sie hatte durch den versuchten Totschlag schwere Hirnschäden erlitten und ist seitdem ein Pflegefall.

Der Fall Norbert Kuß

683 Tage war Norbert Kuß unschuldig hinter Gittern, weil er angeblich seine Pflegetochter sexuell mißbraucht haben sollte. Ein mangel-haftes Gutachten brachte ihn im Jahr 2004 ins Gefängnis. Später stellte sich heraus, daß das Mädchen eine Falschaussage gemacht hatte. Erst 2013 wurde Kuß in einem Wieder-aufnahmeverfahren aufgrund eines neuen Glaubwürdigkeitsgutachtens nachträglich freigesprochen.

Der Fall Manfred Genditzki

Manfred Genditzki wurde 2010 wegen der vermeintlichen Ermordung einer Rentnerin in einem Indizienprozeß zu lebenslanger Frei-heitsstrafe verurteilt. Das Gericht war zu dem Schluß gekommen, daß er die alte Frau in ihrer Badewanne ertränkt habe. Mehr als 13 Jahre saß er dafür im Gefängnis, bevor er im August 2022 freikam. Grund waren neue Gutachten, die untermauerten, daß die Frau bei einem Unfall in der Badewanne starb und nicht Opfer eines Verbrechens wurde.

[1]Qu.: Unschuldig hinter Gittern: Spektakuläre Justizirrtümer in Deutschland. In: National Geographic, 21. August 2023.

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Jörn Uhl
Jörn Uhl
19 Stunden zuvor

Ist hier schon das Urteil des BVerfGE 25.07.2012 berücksichtigt? Hier wird im Urteil gesagt, daß es seit 1956 keine gültige Wahl gab, und das bis heute. Und gemäß § 31 Abs. 1 GVerfGG sind alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Behörden und Gerichte an die Entscheidungen des BVerfg gebunden.

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