Der Mensch – eine herdenbildende Art

Man sagt es gern im Spott, aber es liegt tiefe Wahrheit darin: Der Mensch ist ein Herden-“Tier”, verhält sich vielfach wie andere herdenbildende Arten und ist auf Gemeinschaft angewiesen.

Man mag negative Auswirkungen auf das menschliche Gruppenverhalten – wie z. B. bei Massenpsychosen – bedauern, es ändert nichts an der biologischen Tatsache.

Chorgesang

Einer der Höhepunkte, die die Schöpfung erreicht hat, ist die Fähigkeit des Menschen, mit anderen Menschen im Chor vielstimmig und doch überaus wohlklingend gemeinsam zu singen. Der Fortgang des Rhythmus und der Melodie sowie die berührenden Harmonien vereinen die Einzelnen zu gemeinsamem Werk, das aber nur dann wirklich zu gültiger Aussage gelangt, wenn alle gleichermaßen empfinden und von einem Menschen geführt werden, der ihr Können und ihren Sinn für den seelischen Gehalt des Werkes gefördert hat und sie im Konzert – für alle Sängerinnen und Sänger verständlich – dirigiert.

Nicht nur das Werk gelingt auf diese Weise und bewegt das Gemüt, sondern tiefbewegend ist auch das gemeinsame, gleichgerichtete Tun.

Die Chormitglieder wachsen darüber hinaus zu einer Gemeinschaft zusammen. Schaut man aber in diese Gemeinschaft tiefer hinein, so erkennt man nicht nur Liebe, sondern auch Angriffslust unter den Mitgliedern, die soweit führen kann, daß Einzelne ausgegrenzt werden und u. U. auch ausgegrenzt werden müssen wegen gemeinschaftsschädigenden Verhaltens.

Kehrt der Einzelne der Gemeinschaft von sich aus den Rücken, kommt er seelisch mit seiner Ausgrenzung meist gut zurecht. Wird ihm aber der Stuhl vor die Tür gesetzt, kann die Ausgrenzung – je nach dem, wie herausragend seine Stellung in der Gesamtheit war und je höher desto mehr – schlimme Folgen für ihn haben:

Er kann an seinem Eigenwert zu zweifeln beginnen, sich in sich zusammenziehen, in Gram versinken, abwehrarm werden. Das aber würde Todesgefahr für ihn bedeuten.

Das Einheitserleben der Chorgemeinschaft und dessen Verblassen sind vergleichbar dem Leben von Menschen-Gemeinschaften aller Art, besonders auch der Völker bei unterschiedlichen Schicksalsherausforderungen. Namentlich eine Gefahr von außen schmiedet zusammen.

Die Einheit von Leib und Seele

Die englische Verhaltensforscherin JANE GOODALL zeigt in ihren Büchern die unterschiedlichen Charaktere und das menschenähnliche Empfinden und Verhalten von Schimpansen in der Gemeinschaft.

Schmpansin mit Kind

Schimpansin mit Jungem (aus: Jane Goodall, Das Schimpansen-Kinder-Buch)

Beeindruckend sind (u. a.) Goodalls Schilderungen von den Schimpansenmüttern, die in ihrer Einzelwesensart und erzieherischen Begabung so verschieden sind wie Menschenmütter. Ebenso verschieden entwickeln sich ihre Jungen.

Was jedoch der Verlust der Mutter bedeuten kann, zeigen die folgenden beiden Bilder:

Schimpanse mit Depression

"Flint schien nicht fähig zu sein, nach Flos (seiner Mutter) Tod zu überleben, obwohl er über acht Jahre alt war. Er zeigte eine schwere Depression, wurde in geschwächtem Zustand krank und starb drei Wochen nach seiner Mutter." (Jane Goodall, Ein Herz für Schimpansen)

Verwaister Schimpanse

"Der verwaiste Merlin blieb verkümmert und wurde neurotisch." (Jane Goodall, Wilde Schimpansen)

Diese beiden Schimpansen-Söhne hatten die Gemeinschaft mit ihrer Mutter verloren und wurden mit diesem schweren Verlust nicht fertig. Die Seele litt, der Leib verfiel. Nicht anders leiden Menschenwaisen:

Thomas_kennington_orphans_1885

Waisen (Thomas Kennington, 1885, Tate, London), aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Waise

Ebenso beschreibt der Verhaltensforscher KONRAD LORENZ die Ähnlichkeit der Gefühlsäußerungen bei Mensch, Hund und Gans. Werden sie von ihren Partnern verlassen, stellen sich Trauer und Gram bei ihnen in gleicher Weise ein.

Auch die objektiven, physiologischen Symptome tiefer Emotionen, vor allem die der Trauer, sind … fast genau dieselben … Im vegetativen Nervensystem sinkt der Tonus des sympathischen Systems ab, während der des parasympathischen Systems, vor allem des Nervus vagus, ansteigt.

Dies hat zur Folge, daß die allgemeine Erregbarkeit im zentralen Nervensystem absinkt; die Muskulatur verliert an Spannkraft, die Augen sinken tief in die Höhlen, der Mensch, der Hund und auch die Gans lassen im buchstäblichen Sinne des Wortes den Kopf hängen, verlieren den Appetit und werden gegen alle von der Umgebung ausgehenden Reize gleichgültig.

Dies hat bei trauernden Menschen wie bei Gänsen zur Folge, daß sie in hohem Grade “unfallanfällig” werden: Menschen verunglücken eher mit dem Automobil, Gänse fliegen oft gegen Lichtleitungen oder werden wegen ihrer Unaufmerksamkeit zur Beute von Raubtieren.

Ganz deutlich wird hieran die Einheit von Leib und Seele, der außerordentliche Einfluß des seelischen Befindens auf die Gesundheit des Körpers – im heutigen Medizinbetrieb im allgemeinen so gut wie nicht beachtet, wenn nicht gar geleugnet.

Leidet die Seele, droht Selbstzerstörung

Bei Gänsen wirkt sich der Zustand der Trauer auch in sozialer Hinsicht in geradezu dramatischer Weise aus. Trauernde Gänse sind völlig unfähig, sich auch nur im geringsten gegen die Angriffe anderer zu wehren. Hatte der Trauernde früher in der festen Rangordnung der Gänsekolonie eine hervorragende Position, so wird seine nunmehrige Wehrlosigkeit von vielen seiner früheren Untergebenen erstaunlich schnell erkannt und ausgenützt. Er wird von allen Seiten gepufft und geknufft, selbst von den schwächsten und am wenigsten mutigen Mitgliedern der Schar; mit andern Worten, er sinkt auf die unterste Stufe der sozialen Rangordnung, er wird, wie die Tiersoziologen sagen, zum “Omega-Tier“.

Beim Menschen kommt Todessehnsucht auf. Die Niedergeschlagenheit führt nicht selten zur Selbsttötung. Davor können – wenn es nicht schon zu spät ist – wirkliche Seelenfreundinnen und -freunde bewahren, wiederum eine Gemeinschaft also, die den Verlassenen auffängt.

Die “Triumphgeschrei-Gemeinschaft”

Graugänse, die innerhalb der Herde eine Ehe führen oder einen Freundeskreis bilden, pflegen miteinander „Triumphgeschrei“ zu veranstalten. Lorenz vergleicht es mit dem menschlichen Lachen. Wo eine Gesellschaft miteinander lacht, fühlen sich die Einzelnen dazugehörig, geborgen und mächtig.

Doch die Bandbreite des Ausdrucks und der damit verbundenen Wirkung des Lachens ist groß:

  • Lächeln verbindet, lädt ein;
  • Belächeln erniedrigt;
  • Auslachen will erniedrigen bis zur Vernichtung – zu Gunsten von Machtgewinn der Lacher;
  • fröhliches Lachen verbindet die Beteiligten, verleiht das Gefühl eines Machtzugewinns, doch kann sie auch Abgrenzung gegen Nichtdazugehörige bedeuten;
  • lautes Lachen kann

    bei Wiedersehen nach sehr langer Trennung unerwartet aus der Tiefe vegetativer Schichten hervorbrechen. Einen objektiven Verhaltensforscher muß das Verhalten zweier solcher wiedervereinter Menschen zwingend an das Triumphgeschrei von Gänsen gemahnen. (Lorenz)

Die anonyme Schar

Somit ist ersichtlich, daß bei der Herdenart, zu der auch der Mensch gehört, zwischen den Mitgliedern der Herde sowohl Liebe wie auch Angriffslust und Haß aufkommen – anders als beispielsweise bei der Herdenart der „anonymen Schar“, bei der die Mitglieder keine Gefühle füreinander entwickeln und in Gleichgültigkeit für den Andern nebeneinander herleben.

Wo aber Liebe ist, stellen sich nicht selten auch Haß und Aggressivität ein.

Liebe kann sehr schnell in Haß umschlagen, Anerkennung in Ablehnung, Fürsorglichkeit in Vernichtungswillen. In einer solchen Herdenart kann der Einzelne schnell ins Abseits geraten. Wer dann zu keiner Lach- oder Triumphgeschrei-Gemeinschaft innerhalb der Herde mehr gehört, gerät in Gefahr.

Auch große Menschenseelen, die für die Gemeinschaft Außerordentliches geleistet haben, jedoch in keine solche Gemeinschaften mehr passen, verkannt oder gar fälschlich beschuldigt werden, ergreift Todessehnsucht. Die Lieblosigkeit der Mitwelt ist auch bei ihnen nicht ohne Wirkung.

Eine weitere Gefahr steckt im Minderwertigkeitskomplex bzw. in übergroßer Anforderung an sich selbst, was zur Selbstausgrenzung und deren schlimmen Folgen führen kann – siehe den Adelinde-Beitrag “Von der tiefen Traurigkeit der Herausragenden”.

Heldentum

Seiner Gemeinschaft verlustig geht auch, wer der vielleicht unausgesprochenen, aber doch vorhandenen Gemeinschafts-Norm nicht entspricht. Bei Möwen genügt eine abstehende Feder zum Ausgestoßen-Werden ihrer Trägerin, bei Menschen können darüber hinaus auch unterschiedliche Moralauffassung und Gesinnung Anlaß zur Ausgrenzung sein.

Wer aus Gründen der Wahrhaftigkeit und der Wahrheitsfindung sich von der „Norm“ absetzt, kann sehr einsam werden, setzt sich Angriffen aus und verliert die Freiheit, unangefochten und ohne Ehrverlust zwischen den Menschen zu wandeln. Rufschädigung kann Lebensgefahr bedeuten.

Und doch gibt es immer wieder Menschen, die sich dem allen aussetzen um der Wahrheit willen, aus hohem Verantwortungsbewußtsein dem Ganzen gegenüber. Das sind Helden, wenn anders Todesmut Kennzeichen der Helden ist. Heldentum in Sieg und Erfolg erhöht Ansehen und Machtstellung, in der Niederlage tritt das Gegenteil ein.

Nicht der „Norm“ des Zeitgeistes entsprechendes Andersdenken, hinter dem höchstens eine kleine Minderheit der Herde steht, bedeutet Einbuße an Ansehen und Macht. So geraten Helden, die „die abstehende Möwenfeder“ an sich selbst aus moralischen Gründen bewußt in Kauf nehmen, zu ihrer Zeit meist ins Abseits.

Nach ihrem Tode kommt es vielleicht dazu, daß sie in ihrer Bedeutung erkannt und als leuchtende Vorbilder verehrt werden.