„Das Klavier ist mein zweites Ich.“ Frédéric Chopin
Montag, 18. Januar 2010 von Adelinde
Frédéric Chopin zu seinem 200. Geburtstag
Er hat sein Schicksal schon als Junge vorausgesehen, ein Schicksal, das diejenigen ereilt, die – empfindsam, verletzbar und in die Fremde verschlagen – mit großer Liebe an der Heimat, an den Lieben zu Hause hängen.
Fryderyk Franciszek Chopin, der Pole mit französischem Vater, das Wunderkind aus Warschau, würde sein Brot als Musiker in den Metropolen Europas, vor allem in Paris, fern seiner polnischen Heimat verdienen müssen.
Mit 15 Jahren schreibt er von seinem Ferienort Kowalewo:
Liebste Eltern und Ihr, teure Schwesterchen … Euer anhänglichster Chopin. Den Schwesterchen Küsse, Küsse, Küsse.
Oder aus Szafarnia:
Ich denke häufig an Zuhause, und es fällt mir sehr schwer, die ganzen Ferien zu verbringen, ohne die Menschen sehen zu können, die mir am liebsten sind. Oft kommt mir der Gedanke, daß ich später nicht nur für einen Monat, sondern für längere Zeit das Haus verlassen muß. Und so sehe ich die jetzige Zeit als ein Präludium der zukünftigen … Aber lassen wir diese Sentimentalitäten, mit denen ich die ganze Seite vollschreiben könnte …
Mit 20 verläßt er Warschau und ahnt, daß es für immer sein wird.
Kindheit und Jugend
Frédéric Chopin wurde am 1. März 1810 in Zelazowa Wola in der Nähe Warschaus geboren. Seine Mutter, Tekla Justyna Krzyżanowska, stammte aus verarmtem polnischem Landadel. Als Kammerzofe und Kindermädchen bei der Gräfin Ludwika Skarbek, deren Patenkind sie war, lernte sie ihren Mann, den Franzosen Nicolas Chopin, kennen.
Er war 1787 als 16-Jähriger aus Lothringen nach Polen eingewandert, um in Warschau eine Stellung als Kaufmann in einer französischen Niederlassung anzutreten. Als diese bald darauf schließen mußte und auch seine Bemühungen, nach Frankreich zurückzukehren, gescheitert waren, fand er in Zelazowa Wola auf dem Gut der Gräfin Skarbek eine Anstellung als Hauslehrer der fünf Kinder der Gräfin.
Das Kindermädchen und der Hauslehrer verlieben sich ineinander, heiraten und bekommen 8 Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes, der Tochter Ludwika, einen Sohn. Er erhält den Namen des ältesten Sohnes der Gräfin: Fryderyk (Frédéric). Nach ihm werden noch zwei weitere Schwestern geboren: Isabella und Emilia.
Als Sohn eines Franzosen ist Chopin nach damaligem Recht Franzose, zugleich aber wegen seines polnischen Geburtsortes Pole, somit im Besitz beider Staatsangehörigkeiten. Dadurch gilt er später in Frankreich nicht als „Einwanderer“. Er hat sich jedoch lange Jahre als solcher gefühlt und sich zeitlebens in seinem Heimweh verzehrt. Er blieb innerlich Pole.
Sieben Monate nach seiner Geburt zieht die Familie nach Warschau. Dort hat der Vater eine Stellung als Französisch-Lehrer an einem Gymnasium bekommen. In der neuen, vornehmen Wohnung im „Sächsischen Palais“ im Zentrum Warschaus spielt die Mutter Klavier, der Vater Geige. Ludwika und der kleine Frédéric wachsen ganz natürlich in eine Welt des Musizierens hinein.
Mit fünf Jahren kann Frédéric Melodien auf dem Klavier nachspielen, mit sechs Jahren bekommt er systematischen Klavierunterricht bei Albert Zywny. Der stammt aus Böhmen und bevorzugt die Musik Johann Sebastian Bachs – ungewöhnlich zu damaliger Zeit, in der Bach weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Mehr als zehn Präludien und Fugen konnte er bis an sein Lebensende auswendig spielen.
So etwas vergißt man in seinem ganzen Leben nicht mehr!
wird er einst einer erstaunten Schülerin erklären.
Was sein Schaffen schon früh auszeichnet, ist das Improvisieren. Schon als Siebenjähriger ist er damit stundenlang beschäftigt.
Im September 1818 überreicht er als achtjähriger Junge der Mutter des Zaren Alexander I. seine ersten Kompositionen: eine Polonaise in B-Dur und eine in g-moll. Danach kann man im „Warschauer Tageblatt“ lesen:
… ein wahres musikalisches Genie: Er spielt nicht nur mit höchster Leichtigkeit und außergewöhnlichem Geschmack die schwierigsten Künste auf dem Klavier, sondern ist überdies schon der Komponist einiger Tänze und Variationen, über welche Kenner der Musik nicht aufhören, sich zu wundern, vor allem in Anbetracht des kindlichen Alters …
Und selbstkritisch fügt das polnische Blatt hinzu:
… Wäre der junge Mann in Deutschland oder in Frankreich geboren worden, hätte er sicherlich schon längst weltweit für Aufsehen gesorgt …
Das soll sicherlich auf damalige polnische Provinzialität hinweisen. In Wirklichkeit wird die aber das Kind von viel zu früh einsetzendem öffentlichem Rummel um seine Person verschont haben. Auch die Eltern drängen ihren Sohn nicht.
Dennoch konzertiert Chopin im selben Jahr bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der Gräfin Zofia Zamoyska im Palast des Fürsten Antoni Radziwill. Das Publikum ist hingerissen. Und so wird der Junge in Warschau bekannt als „Mozart der Polen“.
Als Chopin 12 Jahre alt und beim Warschauer Adel gehörig herumgereicht ist, beendet sein Lehrer Zywny seinen Klavierunterricht bei ihm aus Einsicht, dem jungen Schüler nichts mehr beibringen zu können.
Schon bald findet sich ein neuer Lehrer, wie er geeigneter wohl nicht sein kann: der gebürtige Schlesier Joseph Elsner. Als Komponist, Geiger, Kapellmeister, Leiter der städtischen Oper, Direktor des Warschauer Konservatoriums, Besitzer einer eigenen Notenstecherei und gemeinsam mit E. T. A. Hoffmann Gründer des Warschauer Musikvereins ist er die einflußreichste Persönlichkeit im Warschauer Musikleben.
Mit 15 Jahren wird Chopin Schulorganist an seinem Gymnasium und als Organist bei den sonntäglichen Gottesdiensten seiner Kirche nach eigenen Worten „zur zweitwichtigsten Person gleich nach dem Pfarrer“. Im selben Jahr spielt er in Warschau dem Zaren Alexander I. vor, der ihm – von ihm entzückt – einen Brillantring vermacht. Im selben Jahr 1825 wird auch Chopins erstes gedrucktes Werk, das Rondo in c-moll, als sein Opus 1 veröffentlicht.
Mit 16 Jahren verläßt Chopin das Gymnasium mit dem „Einjährigen“ in der Tasche, um sich ganz seinem Musikstudium bei seinem Lehrer Elsner am Warschauer Konservatorium zu widmen. In den Ferien reist er nach Berlin, Prag und Dresden, musiziert dort und hört viel Musik.
Fürst Radziwill, einer der reichsten Männer Polens und Statthalter von Posen, lädt Chopin noch zweimal, 1827 und 1829, zu sich ein. In seinem Jagdschlößchen „Antonin“, von Karl-Friedrich Schinkel nahe der Grenze zu Schlesien erbaut, gibt er Konzerte und
hätte dort sitzen mögen, bis man mich fortgejagt hätte.
Er verrät seinem Schreibfreund auch, warum:
Zwei Evas gab es dort, junge Prinzessinnen,
nämlich die Töchter des Fürsten. Was den Standesunterschied betrifft, so weiß sich Chopin Rat:
Die alte Fürstin weiß, daß nicht die Geburt einen zum Menschen macht … Und wie er (Fürst Radziwill) die Musik liebt, das weißt du ja …
Der junge Mann entdeckt die Liebe zum andern Geschlecht, bleibt aber scheu und zurückhaltend. 1827 stirbt seine vierzehnjährige, jüngste Schwester Emilia, ein ebenfalls musikalisch höchstbegabtes Menschenkind. Vermutet wird, daß Chopin seinen Schmerz über diesen Verlust schon zu jener Zeit in dem berühmten Trauermarsch seiner späteren Sonate op. 35 b-moll verarbeitet hat.
Abschied von der Heimat
In seinem Elternhaus und in seiner Heimatstadt Warschau ist Chopin in idealen Verhältnissen aufgewachsen. Seine Eltern gehören dem Bildungsbürgertum Warschaus an und bieten ihren Kindern eine offene, frohe, liebevolle Atmosphäre.
In den Gewohnheiten eines ruhigen, tätigen Familienlebens wuchs Chopin, wie von sicherer Wiege umfangen, auf, und die Vorbilder der Einfachheit, der Frömmigkeit und Vornehmheit, die ihm als Kind voranleuchteten, blieben ihm sein Leben lang über lieb und teuer,
wird Franz Liszt in seiner Biographie – der ersten über Chopins Leben erschienenen überhaupt – schreiben.
Chopin nutzt das vielfältige Kulturangebot der polnischen Hauptstadt: Oper, Theater, Konzerte, und er konzertiert, wo sich ihm dazu Gelegenheit ergibt. Wieder glänzt er besonders mit seinen Improvisationen, den „Fantasien“.
Seine 1. Klavier-Sonate (op.4) entsteht 1827, und als es 1830 für den 20-Jährigen heißt, die Heimat für immer mit der Fremde zu vertauschen, sind neben anderen Meisterwerken seine beiden Klavierkonzerte Nr. 1 (e-moll, op. 11) und Nr. 2 (f-moll, op. 21) bereits geschaffen.
Das Adagio des 2. Klavierkonzertes ist eine Elegie auf seine Liebe zu Konstanza Gladkowska, einer Sängerin und Mitschülerin auf dem Warschauer Konservatorium. Chopin ist zu scheu, um sich ihr zu offenbaren und klagt sein Leid seinem Freund Tytus Woyciechowski:
… Besitze ich doch – vielleicht sogar zu meinem Leid – schon mein Ideal, dem ich, ohne mit ihm zu sprechen, bereits ein halbes Jahr treu diene, von dem ich träume, zu dessen Andenken das Adagio in meinem Konzert entstanden ist, und das mich heute früh zu diesem Walzer (Des-Dur, op. 70, Nr. 3), den ich Dir hiermit sende, inspiriert hat …
Wie traurig ist es, keinen Freund zu haben, zu dem man des Morgens gehen kann, um Leid und Freud mit ihm zu teilen! Wie hart, wenn eine Last uns niederdrückt und wir sie nirgends ablegen können! Du weißt, was ich damit sagen will. Manchmal vertraue ich das, was ich Dir sagen möchte, dem Klavier an …
Auf diese Weise kommt es zu keiner Annäherung der beiden. Konstanza heiratet später einen Gutsbesitzer.
Einen Tag nach der bestandenen Prüfung am Warschauer Konservatorium im Sommer 1829 – Professor Elsner hatte ihm im Zeugnis „Musikalisches Genie“ beurkundet – reist er nach Wien. Seinen Eltern schreibt er bescheiden:
Die Leute bewundern mich, und ich wundere mich über sie, daß sie mich bewundern.
Nachdem er am 11. August im „Kärtnertor-Theater“ aufgetreten ist, kann er von einem zweiten Konzert dort eine Woche später den Eltern berichten:
… Bei meinem Erscheinen wurde ich mit Bravorufen empfangen und nach jeder Variation wurde so laut applaudiert, daß ich das Orchester nicht mehr hören konnte … Die freie Fantasie hatte, obwohl sie mir nicht besonders geglückt war, noch mehr Erfolg … Ich habe sodann über ein Thema aus dem Stück „Weiße Dame“ improvisiert. Da mich der Regisseur jedoch darum bat, auch noch über ein polnisches Thema zu improvisieren, wählte ich das Lied vom ,Hopfen‘ (der Mazurka „Polnisches Hochzeitslied“). Das hat das Publikum, das solche Stücke überhaupt nicht gewohnt ist, geradezu elektrisiert.
Seine Freunde hätten sich in den Ecken des Saales aufgestellt, um Beurteilungen der Leute aufzuschnappen:
Die größte Kritik, die meine Freunde hörten, waren die Worte einer Dame: „Schade um den Jungen, daß er so schmächtig ist!“
Er vermutet jedoch, in der Zeitung lesen zu müssen – und er hat es dann später immer wieder in den Zeitungen zu lesen bekommen –, er habe
etwas zu leise gespielt oder vielmehr zu zart, denn man ist es hier gewohnt, daß die Künstler auf das Klavier einhauen …
Aber:
… es ist mir auch lieber, als wenn man sagen würde, ich hätte zu laut gespielt … Falls sie mich jedoch in den Zeitungen so angreifen, daß ich mich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen lassen kann, so werde ich Anstreicher …
Abfällige Kritiken sollten ihm später seelisch sehr zu schaffen machen.
Über Prag und Dresden kehrt er noch einmal nach Hause zurück. Am 2. November 1830 verläßt er seine Heimat für immer mit ungenauem Ziel. Er erwägt, nach nochmaligem Aufenthalt in Wien Italien, Frankreich oder England anzusteuern. An seinen Freund Tytus schreibt er noch aus Warschau:
Ich sage Dir, daß mich noch schlimmerer Wahnsinn befällt als gewöhnlich … Es kommt mir vor, als würde ich verreisen, um das Zuhause für immer zu vergessen. Ich befürchte, daß ich verreise, um zu sterben – wie traurig muß das sein, anderswo zu sterben als dort, wo man gelebt hat … ich werde alle meine Schätze … verlassen … zu ewigem Seufzen verdammt.
Am Abend vor seiner Abreise feiert er noch einmal mit seinen Angehörigen und Freunden. Sie geben ihm einen Silberpokal mit polnischer Erde mit auf den Weg. Auch Konstanza ist dabei. Sie schreibt in das Album, das Chopin gewidmet ist:
Du verläßt also Deine Freunde und Deine liebe Familie. Man kann Dich vielleicht mehr belohnen in der Fremde, aber mehr lieben kann man Dich nicht.
Die Eltern begleiten ihren Sohn bis zur Postkutsche: tränenreicher Abschied! An der Warschauer Stadtgrenze hält Joseph Elsner mit einigen seiner Studenten die Kutsche auf. Sie singen eine von Elsner eigens für Chopin geschaffene Kantate:
Geboren im polnischen Land soll Dein Talent überall glänzen … und ob Du an der Donau, der Spree, dem Tiber oder der Seine weilst, soll von Dir nach polnischer Art in bewegenden Tönen angestimmt werden, was unser Land wert macht: Mazur und Krakowiak, die Beliebten; daher suche Begeisterung und Ruhm, Preis Deines Talentes und Deiner Mühen, indem Du das Lied unserer Völker anstimmst …
In der Fremde
Anschaulich berichtet er von seiner Reise, so auch von Dresden, wo er zu einem Hauskonzert eingeladen war:
… der Hausherr kam mir mit Verbeugungen und vielen Komplimenten entgegen und führte mich in den Saal, in dem ich zu beiden Seiten an acht gewaltigen Tischen eine Menge sitzender Damen bemerkte. Nicht so sehr die Brillanten, die sie zierten, als vielmehr ihre Häkelnadeln flimmerten mir vor Augen. Scherz beiseite, die Anzahl der Damen und der Häkelnadeln war so groß, daß man einen Aufstand gegen die Männer befürchten konnte, den man wohl mit Brillen und Glatzen hätte bekämpfen können; Augengläser gab es nämlich eine Menge und kahle Köpfe auf Schritt und Tritt. Das Geräusch der Häkelnadeln sowie das Klirren der Teetassen wurde dann plötzlich von der vom anderen Ende des Saals kommenden Musik unterbrochen …
Sachsens „grenzenloser“ Frauenfleiß, Sachsens entwickelte Optikerkunst, Sachsens wohlhabende Oberschicht mit Brillen, Brillianten und Glatzen – welch ein farbiges Zeitporträt des Revolutionsjahres 1830!
10 Tage später ist Chopin in Wien angekommen. Konzertangebote in größerem Rahmen bleiben aus. Wieder schreibt er Briefe, die das damalige Leben und seine Stimmungen veranschaulichen:
… All die Abendessen, Konzerte und Bälle, die mir zum Halse heraushängen. Sie langweilen mich. So wehmütig dumpf und düster ist mir ums Herz. Ich kann nicht tun und lassen, was mir gefällt, ich muß mich schön machen, mich frisieren und mir sogar Schuhe anziehen … Im Salon spiele ich den Ruhigen, doch wenn ich wieder zu Hause bin, da donnere ich auf dem Klavier … Mit keinem bin ich vertraut …
Er schildert seinen Tageslauf mit Deutschlehrer, Spaziergängen, Besucheabstatten, Kaffeetrinken „in einem der schönen Wiener Kaffeehäuser“.
Wenn es dämmert, gehe ich nach Hause, mache mich frisch und ziehe mich um. Dann geht’s in eine Abendgesellschaft! Gegen zehn oder elf, manchmal auch erst gegen Mitternacht bin ich wieder zurück, aber nie später. Dann spiele ich, weine, lese, sehe mich um, lache, gehe schlafen, lösche die Kerze und träume immer von Euch …
Am 29. November 1830 bricht in Warschau der revolutionäre Aufstand los. Das auf die drei Mächte Preußen, Österreich und Rußland aufgeteilte Polen war 1807 auf Betreiben Napoleons im Frieden von Tilsit auf die Landkarte zurückgekehrt, wenn auch zunächst nur als kleines, aus den ehemals preußisch besetzten Teilen hervorgegangenes „Herzogtum Warschau“, einem Vasallenstaat Frankreichs. Ihm gelang es 2 Jahre später, Westgalizien von Österreich zurückzuerobern.
Doch schon 1812 nach dem Scheitern des Rußlandfeldzugs Napoleons und 1813 nach Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig – an beiden Ereignissen war Polen als Napoleons Vasall beteiligt – erwirkte der Wiener Kongreß die erneute Aufteilung des Herzogtums: Die Provinz Posen fiel wieder an Preußen, die kleine Region um Krakau wurde zur „Republik Krakau“, das restliche Gebiet, „Kongreßpolen“, wurde als autonomer Staat mit Rußland in Personalunion verbunden.
In Polen ist nun – nicht anders als im gesamten Europa – das Nationalbewußtsein erwacht. Es beflügelt die Aufständischen wie auch den glühenden Patrioten Fryderyk Chopin, den Polen in Wien. Er will sofort nach Hause zurückkehren. Sein Freund Tytus rät ihm ab.
Nun will er nach Paris. Frankreich steht Polen näher als Österreich. Dennoch werden ihm Schwierigkeiten bereitet, ein Visum zu erhalten. Als er endlich als Reiseziel „London – über Paris“ angibt, darf er einreisen. So verläßt er im Juli 1831 Wien. Er macht Halt in Salzburg und München. Hier gibt er sein einziges öffentliches Konzert in Deutschland.
In Stuttgart erfährt er von der Niederlage der polnischen Aufständischen und der Besetzung Warschaus durch die Russen. Er ist erschüttert und vertraut seinem Tagebuch seine tiefe Depression an:
… weshalb ist eine Leiche weniger wert als ich? Eine Leiche weiß auch nichts, weder vom Vater noch von der Mutter, noch von den Schwestern oder von Tytus! Auch eine Leiche hat keine Geliebte, kann nicht mit ihrer Umgebung in ihrer Sprache sprechen! Eine Leiche ist bleich wie ich. Sie ist genauso kalt, wie ich es im Moment allen Dingen gegenüber bin. Eine Leiche hat aufgehört zu leben, und auch ich habe bis zum Überdruß gelebt …
Warum leben wir nur so ein elendes Leben, das uns aufzehrt und nur dazu da ist, um Leichen aus uns zu machen? …
Schließlich hält ihn die von ihm empfundene Pflicht aufrecht, mit seiner Musik dem Ansehen seines Volkes im Ausland zu dienen. Noch in Stuttgart beginnt er damit, seine „Revolutions-Etüde“ op. 10, Nr. 12 zu komponieren.
Am 12. Dezember 1831 meldet er seinem Freund Tytus seine Ankunft in Paris:
… Vom Winde getragen bin ich hier angelangt. Man atmet hier süß – doch vielleicht seufzt man deshalb hier auch mehr. Paris – das ist alles, was man will – man kann sich amüsieren, sich langweilen, lachen, weinen, man kann wirklich alles machen, was man möchte; und niemand kümmert sich um einen, weil Tausende hier das gleiche tun, und jeder geht seinen eigenen Weg …
14 Tage später bekennt er Tytus:
… Du weißt, wie gerne ich Bekanntschaften schließe – Du weißt, wie gern ich mich mit ihnen in Träumereien hingebe – nur, solche Bekanntschaften habe ich zur Genüge, aber ich habe niemanden, mit dem ich zusammen seufzen könnte. – Stets bin ich, was meine Gefühle anbelangt, mit anderen in Synkopen …
Er findet eine Wohnung im 4. Stock eines Wohnhauses und schreibt an Tytus:
… Viele beneiden mich um meinen Balkon, aber keiner um meine Treppe …
Er ist bereits lungenkrank.
Wieder bleiben die erhofften Konzertangebote aus, obwohl er schon mit Gioacchino Rossini, Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Liszt sowie mit dem Dichter Heinrich Heine Bekanntschaft gemacht hat. Im revolutionserfahrenen Paris ist die Wirtschaft heruntergekommen.
Einer hat seine Stelle verloren, ein anderer seinen Titel, ein Dritter sein Geld, und sie sagen, dies alles komme vom „juste Milieu“,
vermeldet der um 1 Jahr ältere Mendelssohn aus Paris, den Chopin bewundert.
Endlich, am 26.2.1832, findet in der „Salle Pleyel“ des Klavierfabrikanten Pleyel, dessen Flügel Chopin Zeit seines Lebens bevorzugt, das Konzert statt, auf dem er sich der Pariser Musikwelt vorstellen kann. Er spielt sein 1. Klavierkonzert e-moll und seine Variationen über ein Thema aus Don Giovanni von Mozart. Andere europaweit berühmte Pianisten treten neben ihm auf: Hiller, Osborne, Sowinski, Kalkbrenner.
Das Hauptpublikum stellen polnische Emigranten dar. Verständlich, daß die ihrem Landsmann besonders begeistert Beifall zollen. Aber auch die Zeitungen äußern sich – abgesehen von ihrer Kritik an Chopins „zu leisem“ Spiel – positiv wie z. B. die „Revue Musicale“ vom 3.3.1832:
… hier aber ist ein junger Mensch, der nur aus seinen natürlichen Eindrücken schöpfend und ohne eigentlich ein Vorbild zu haben, das gefunden hat, was man – wenn schon nicht eine völlige Erneuerung der Klaviermusik – so doch einen Ansatz zu etwas nennen kann, das man schon seit langem vergeblich erstrebt, nämlich eine Fülle neuer Einfälle von einer Art, die man sonst nirgends findet … In seinen Melodien ist Seele, in seinen Passagen Fantasie und in allem Originalität. …
Diese Beurteilung hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt.
Einem der polnischen Emigranten, dem Sohn Valentin des Fürsten Radziwill, verdankt Chopin, in den Salon des Barons Rothschild eingeladen zu werden. Dort wird er von der Baronin Rothschild an den Flügel gebeten. Zufrieden berichtet Chopin:
Ich bin nun in der besten Gesellschaft eingeführt, sitze zwischen Diplomaten, Fürsten und Ministern, und ich weiß nicht einmal, durch welches Wunder dies geschehen ist, denn selbst habe ich mich nicht vorgedrängt. Aber für mich ist das sehr wichtig, denn von dort kommt angeblich der gute Geschmack. Man hat gleich größeres Talent, wenn dich jemand in der englischen oder österreichischen Botschaft gehört hat. Man spielt sofort besser, wenn man von der Fürstin Vaudemont protegiert wird …
Bei den Künstlern genieße ich Freundschaft und Hochachtung … Vollendete Musiker nehmen bei mir Unterricht und stellen meinen Namen neben den von Field, kurzum, wäre ich noch dümmer als ich sowieso schon bin, würde ich annehmen, ich sei auf dem Gipfel meiner Karriere …
Das hört sich doch einmal frohgemut an bei allem Leiden, was wir sonst aus Chopins Leben erfahren. Und so will auch Warschau zur 200-Jahrfeier dazu beitragen, das leidvolle Chopin-Bild zu verwandeln:
Weg vom ewig melancholisch umflorten Nationalhelden, der unter einer Trauerweide auf Inspiration wartet. So zeigt ihn das monumentale Denkmal im Warschauer Lazienki-Park, dessen Aufstellung die russischen Besatzer 1908 verboten und das die Deutschen 1940 gesprengt hatten, weil Chopins Polonaisen und Mazurken immer als Symbole polnischen Selbstbewußtseins verstanden wurden …
Chopin soll nicht mehr mit langweiligen Schulstunden, nationaler Trauer und falsch verstandenem Patriotismus verbunden werden. (tagesspiegel.de)
Chopins Brief vom „Gipfel meiner Kariere“ endet indes mit den Worten:
Jetzt denkst Du wohl, ich würde ein Vermögen verdienen; doch das Kabriolett und die weißen Handschuhe, ohne die man hier keinen guten Ruf hat, kosten noch mehr … Aber ich mache mir nichts aus Geld, nur etwas aus Freundschaft, um die ich Dich hiermit bitte und anbettele.
Bei den Rothschilds ist Chopin gerngesehener Gast und Lehrer der Baronin. Ihr widmet er den Walzer cis-moll, op. 64, Nr. 2. Es scheint ihm – äußerlich gesehen –, gut zu gehen, wie auch Chopins Freund Orlowski vermeldet:
Chopin geht es sehr gut; er verdreht hier allen Frauen den Kopf. Das macht die Männer eifersüchtig. Er ist jetzt in Mode. Und die elegante Welt wird bald auch noch Handschuhe à la Chopin tragen …
Und er fügt den inhaltschweren Satz hinzu:
Und doch verzehrt ihn die Sehnsucht nach seinem Heimatland …
Die bleibt ihm treu bis in den Tod. Sein Lungenleiden verschlimmert sich mit der Zeit. Er wird mit 39 Jahren daran sterben und noch ein Jahr vorher schreiben:
Ich denke also gar nicht daran, mich zu verheiraten, wohl aber denke ich an zu Hause, an meine Mutter, an die Schwestern … Doch – wo ist meine Kunst geblieben? Und mein Herz – wo habe ich es vergeudet? Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, wie man in der Heimat singt …
1834 besucht Chopin Deutschland. Er reist mit Ferdinand Hiller nach Aachen, um dort das zweiwöchige „Niederrheinische Musikfest“ unter der Leitung Mendelssohns mitzuerleben. Der hatte die beiden als Ehrengäste dazu eingeladen. Nach dem Fest fahren sie mit Mendelssohn nach Düsseldorf, um in dessen Wohnung miteinander zu musizieren und sich über ihre Musikstile auszutauschen. Chopin schätzt Mendelssohns Kompositionen so wenig wie die von Schumann und Liszt, genießt aber deren Freundschaften.
Die romantische Dampferfahrt auf dem Rhein nach Koblenz unterbrechen die beiden Reisenden in Köln, wo sie den damals noch unvollendeten Dom und andere Sehenswürdigkeiten besichtigen. Sein Deutsch ist bereits erstaunlich weit gediehen, wenn er an Hillers in Paris wohnende Mutter auf deutsch schreibt:
Ich bin heute so wie der Dampf in unserem Dampfschiff – ich löse mich in der Luft auf, und ich fühle, wie ein Teil meines Ichs in mein Vaterland zu den Meinigen, und der andere Teil zu Ihnen nach Paris hochachtungsvoll spaziert …
Auch hier ist sein Heimweh sein ständiger Begleiter. „Die“ Deutschen – von seinen deutschen Freunden abgesehen – findet er „zu unelegant und zu unbeholfen“, während er – wieder von einigen persönlich Bekannten abgesehen – die Russen als Feinde haßt.
Das innige Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie zeigt ein Brief des Vaters aus Karlsbad an seine Töchter 1835:
… um vier Uhr früh – wir waren noch nicht aufgestanden – klopfte es an der Tür. Es war Herr Zawadski, der kam, um uns zu sagen, daß er uns gestern mit Frédéric überall gesucht hatte.
Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie schnell ich in den Kleidern war, und dann machten wir uns alle zusammen auf den Weg, das gute Kind aufzuwecken, das, nachdem es aus meinen Briefen erfahren hatte, daß wir nach Karlsbad kommen würden, uns eine Überraschung bereiten wollte.
Er hat seine Arbeit in Paris unterbrochen und mehrere Nächte geopfert, um noch vor uns hier zu sein. Er hat sich gar nicht verändert und sieht noch genau so aus wie zur Zeit seiner Abreise.
Wie sehr wir diese Aufmerksamkeit zu schätzen wissen, könnt Ihr Euch, die Ihr unsere Liebe kennt, sicherlich vorstellen. Wir haben Freudentränen vergossen …
Und Frédéric schreibt drunter:
… Unsere Freude ist unbeschreiblich! Wir umarmen uns immer wieder … Schade, daß wir nicht alle hier zusammen sind! … das Glück zu genießen, das wir erleben dürfen. Was mir heute geschenkt wurde, ist einzigartig … Wir gehen zusammen spazieren und führen Mütterchen am Arm. Wir sprechen von Euch und machen die kleinen Neffen nach, wie sie reden, wenn sie zornig sind. Wir erzählen uns, wie oft der eine an den anderen dachte … Ich bin auf dem Höhepunkt meines Glücks! … Vor Freude erdrücke ich Euch zusammen mit den Schwägern, weil Ihr meine Liebsten auf dieser Welt seid!
In Dresden, wo er auf seiner Rückreise nach Paris eine Woche bleibt, trifft er mit der aus seiner Kindheit befreundeten Familie Wodziński zusammen. Die Tochter Maria, eine mittlerweile 16 Jahre alte schöne und begabte Pianistin, hat es ihm angetan, und sie bewundert Chopin. Bis nach Warschau dringt die Kunde von der Vertrautheit der beiden in Dresden, die miteinander Klavier spielen, spazieren gehen und sich viel zu sagen haben. Chopin komponiert einen Walzer und schenkt Maria das Notenblatt, den „Abschiedswalzer“ As-Dur, op. 69, Nr. 1.
Adieu, mio carissimo maestro, vergiß mir Dresden nicht und später auch nicht Polen …,
schreibt Maria ihm. Doch wie die unerfüllte Beziehung zu Konstanza Gladkowska endet auch diese zu Maria Wodzińska – wohl auf Betreiben derer Eltern – ein Jahr später. Chopin trifft es tief, wie eine posthum gefundene Briefe-Sammlung beweist, die er mit den Worten „Mein Leid“ beschriftet hat.
Ein weiterer Zwischenaufenthalt dieser Reise ist Leipzig bei Familie Wieck, wo er Clara und ihren späteren Ehemann Robert Schumann trifft, der Chopin schon 1831 in der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ hervorgehoben hat mit den Worten:
Hut ab, Ihr Herren, ein Genie!
Chopins Werk – auf polnischem Boden gewachsen
Chopins erstes Werk war eine Polonaise (B-Dur), sein letztes eine Mazurka (op. 68, Nr. 4), und sein Gesamtwerk umfaßt 22 Polonaisen und 57 Mazurken. Aber auch in einigen Etüden, Préludes, Balladen und Scherzi sind polnischer Klang und Rhythmus nicht zu überhören.
1836 begegnet Chopin wieder Robert Schumann, der u. a. eine von Chopins Balladen besonders lobend hervorhebt. Chopin erklärt, seine Balladen seien angeregt von den „Litauischen Balladen“ des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz. Nicht zuletzt von daher mag Schumanns prägnanter Satz in seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ zu verstehen sein:
Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen.
Denn in Paris verkehrt Chopin vorwiegend in Kreisen polnischer Emigranten. Etwa 7000 Polen hat es nach Paris verschlagen, darunter Adam Mickiewicz, mit dem sich Chopin bald anfreundet. Das polnische Nationalbewußtsein ist – wie das der anderen Völker Europas – hell, ja wohl am hellsten entbrannt.
Doch bei aller völkischen Färbung bleibt Chopins Musik völkerübergreifend gültig, und das gerade wegen ihrer polnischen, jedoch künstlerisch überhöhten Färbung. So bezeugt der welterfahrene Pianist Arthur Rubinstein Mitte des 20. Jahrhunderts:
… überall herrscht Chopin.
Friedrich Nietzsche bekennt in seinem Werk Ecce homo:
Ich selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben …
Soweit würde ich’s allerdings nicht treiben, eher George Sand – mit wirklichem Namen Amandine-Aurore-Lucile Dupin de Francueil, kurz Aurore Dupin, Chopins Lebensgefährtin durch fast neun Jahre, einer schon zu ihrer Zeit berühmten und gefragten Schriftstellerin – zustimmen, die 1842 an den Freund Eugène Delacroix schreibt:
Chopin hat zwei wunderbare Mazurken komponiert, die mehr wert sind als vierzig Romane und in denen mehr Ausdruck liegt als in der ganzen Literatur des Jahrhunderts.
Sie ist es auch, die Chopins Weise, Musik hervorzubringen, in ihren Lebenserinnerungen anschaulich beschreibt:
Sein Schaffen war spontan, bewundernswert. Seine Einfälle kamen, ohne daß er danach suchte, unvorhergesehen, manchmal ganz plötzlich am Klavier, und zwar bereits vollkommen und in ganzer Erhabenheit, oder sie erklangen während eines Spaziergangs in ihm, und dann beeilte er sich, sie sich selbst auf dem Klavier vorzuspielen.
Dann aber begann die entsetzlichste Arbeit, die ich je erlebt habe. Es war eine Reihenfolge von Anstrengungen, Unschlüssigkeit und Ungeduld, um gewisse Einzelheiten des Themas, das er im Kopf hatte, festzuhalten. Was er als Ganzes ersonnen hatte, analysierte er nun beim Niederschreiben peinlichst genau, und seine Sorge, daß er das, was ihm vorschwebte, nicht vollständig wiederfinden könnte, stürzte ihn förmlich in eine Art Verzweiflung.
Manchmal schloß er sich tagelang in sein Zimmer ein, weinte, lief auf und ab, zerbrach seine Schreibfedern, wiederholte und änderte einen Takt hundertmal, schrieb ihn nieder und strich ihn ebenso oft wieder aus, um am nächsten Tag seine Arbeit mit der gleichen minutiösen, verzweifelten Beharrlichkeit fortzusetzen. So verbrachte er oft sechs Wochen lang an einer Seite, um sie schließlich wieder so aufzuschreiben, wie sie beim ersten Entwurf gewesen war.
Daß Chopin wegen seines „zu leisen“ Klavierspiels gerügt wurde, wird noch heute verständlich, wenn man z. B. seine Nocturnes hört:
… die Nocturnes sind Meisterwerke ersten Ranges. Ihre Belcanto-Melodien sind für ihre Schönheit berühmt, ihre Harmonik ist raffiniert und ihr Rhythmus ist zwar an einen Takt gebunden, aber dennoch relativ frei. Ihre Interpretation erfordert deshalb ein besonders ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und große Sensibilität. Die Nocturnes gehen von der Stille aus und kehren zu ihr zurück. (Hans Werner Wüst in: Frédéric Chopin, Briefe und Zeitzeugnisse, Ein Portrait, Bonn 2007)
Chopin folgt nur seinem eigenen Gefühl. (Ignaz Moscheles)
Chopins Musik ist eine Stenographie der Gefühle. (Leo Tolstoi)
Das Klavier ist mein zweites Ich,
so Chopin, der diejenigen, die ihn nach seinem Befinden und seinen Gefühlen fragen, auf seine Musik verweist. Dort sei alles gesagt.
Seine Gefühle trägt er nicht gern zu Markte, wohl aber wird seine Schöpferkraft in kleinem Kreise, in den Pariser Salons, angeregt. Sie sind daher auch die Hauptorte seines Konzertierens, vielleicht nicht für alle verständlich. So meint Stephen Heller in einem Brief an Robert Schumann 1839:
Chopin seh‘ ich gar nicht; der steckt im Koth der Aristocratie bis über die Ohren … componiert aber unbegreiflicherweise ganz das Gegentheil, d. h. sehr schön und tief.
So besteht sein Gesamtwerk hauptsächlich aus Klaviermusik. Die Orchesterbegleitung seiner beiden Klavierkonzerte hat er auch als Quintette umgearbeitet herausgegeben und des öfteren auf diese intimere Weise aufgeführt.
Chopins frühes Lebensende
Als er 1841 nach sechsjähriger Konzertpause einmal wieder öffentlich auftreten soll, packt ihn die Angst. George Sand schildert ihren „Jämmerling“ in einem Brief an Ihre Freundin, die große Sängerin Pauline Viardot:
Eine große, grandissime Neuheit, der kleine Chip Chip gibt ein Rrrrrrrriesenkonzert. Freunde haben ihn so lange überredet, bis er sich schließlich überzeugen ließ. Kaum hatte er das fatale Ja ausgesprochen, lief alles wie durch Berührung mit dem Zauberstab ab: Drei Viertel der Karten waren schon verkauft, bevor das Konzert überhaupt angekündigt war.
Da erwachte er wie aus dem Schlaf, und es gibt kaum etwas Lustigeres als den furchtsamen und unentschlossenen Chip Chip, der seine Entscheidung nicht mehr widerrufen kann … Der Chopinsche Albtraum wird am 26. in Pleyels Salons stattfinden. Er will keine Plakate, keine Programme und kein großes Publikum. Er will nicht einmal, daß man darüber spricht … Er hat vor so vielen Dingen Angst, daß ich vorschlage, er soll ohne Kerzen und ohne Zuhörer auf einem stummen Klavier spielen …
Sie hatte es nicht leicht mit ihm. In den Salons war er der „Weltmann“, elegant, charmant, brachte mit seinen Parodien über seine Pianisten-Kollegen die Gäste zu Lachkrämpfen, liebte alles Schöne und die Schönen, und George Sand berichtet:
Sein Herz brannte vor Feuer und Zärtlichkeit … er war imstande, sich während einer Soirée in drei Schönheiten gleichzeitig zu verlieben. Aber wenn er dann alleine nach Hause ging, dachte er an keine mehr von ihnen.
Ja, zu Hause angekommen, konnte er im Laufe der Zeit, je mehr seine Kräfte verfielen, seine Launen und Wutanfälle kaum noch zügeln. George Sand schrieb:
Chopin im Zorn ist schrecklich.
Ihre Liebe zu Chopin verfliegt, mütterliche Zuwendung zu dem Kranken hält die Verbindung noch eine Zeitlang aufrecht. Das Verhältnis wird für beide zunehmend zur Last. Nach dem großen Zerwürfnis wegen der Eheentscheidung der Tochter George Sands, Solange, trennt sich George Sand 1847 von Chopin. Mieczysław Tomaszewski, der Verfasser des wunderschönen Werkes Chopin – Ein Leben in Bildern faßt zusammen:
… nicht zuletzt entstanden in den Jahren ihrer Beziehung eine Reihe vollendeter Werke. Vielleicht ist das ein Grund, warum diese Kompositionen oft in Oxymora (Doppelbödigkeit) beschrieben wurden? Franz Liszt hatte in dieser Musik das „bittere Glück“ vernommen, Heinrich Heine „süße Abgründe“ und „schmerzliche Lieblichkeit“, James Huneker „Tränenlachen“ und Alfred Einstein „bittere Freude“.
Der nun in jeder Hinsicht Heimatlose hustet und hustet. Dennoch folgt er 1848 im April der Einladung seiner schottischen Schülerin Jane Stirling nach England. Acht Monate verbringt er dort und spielt in Hauskonzerten seine Nocturnes, Mazurken, Walzer, Préludes. Die Einladung, in der Londoner Philharmonie eines seiner Klavierkonzerte zu spielen, lehnt er ab – aus verständlichen Gründen, schreibt aber an seinen Freund Grzymala:
Das Orchester ist wie ihr Roastbeef oder ihre Schildkrötensuppe: stark und dickflüssig, aber nur das …
Er konzertiert im Londoner Stafford House in Anwesenheit der Queen Victoria, lernt Lord Byron, Thomas Carlyle und Charles Dickens kennen, reist nach Manchester, Glasgow und Edinburgh, um dort zu spielen, und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. In Edinburgh bleiben die Zuhörer aus. Die Vorberichte von seiner Schwäche, die schlechten Zeitungskritiken reizen niemanden zu einem Konzertbesuch bei ihm.
Stundenweise fühle ich mich besser, doch oft in der Frühe glaube ich, daß ich meine Seele aushuste …
Am 1. Oktober 1848 berichtet er Grzymala:
Bald werde ich auch mein Polnisch vergessen haben, Französisch werde ich mit englischem Akzent sprechen, Englisch aber lerne ich auf schottisch … Ich fühle mich schwächer, kann nichts komponieren …
Den ganzen Morgen, ja sogar bis zwei Uhr, bin ich nicht zu gebrauchen, und dann, wenn ich mich angezogen habe, ist mir alles zu viel, und so keuche ich bis zum Mittagessen, bei dem man zwei Stunden mit Männern am Tisch sitzen und schauen muß, was sie reden, und hören muß, wie sie trinken. Zu Tode gelangweilt (an etwas anderes denkend als sie, trotz aller Höflichkeit und französischer Konversation) gehe ich in den Salon, wo es der ganzen Seelenkraft bedarf, um etwas aufzuleben, denn dann sind sie gewöhnlich neugierig, mich zu hören.
Später trägt mich mein braver Daniel über die Treppe ins Schlafzimmer (das, wie Du weißt, bei ihnen gewöhnlich im ersten Stock liegt), er zieht mich aus, legt mich zu Bett, läßt die Kerze stehen, und ich darf atmen und träumen bis zu dem Zeitpunkt, da wieder das gleiche beginnt …
Sechzig Mal – unfaßbar! – wechselt er in den acht Monaten seines Englandaufenthaltes die Unterkunft. Daß der Kranke noch lebend nach Paris zurückkehrt, erscheint wie ein Wunder, bedenkt man, daß Carl Maria von Weber mit gleichen Krankheitszeichen in England gestorben ist und Chopin sich dort offensichtlich in jeder Hinsicht höchst unwohl fühlte. An seine Familie in Warschau schreibt er im August:
Wäre dieses London nicht so schwarz, und wären die Menschen hier nicht so schwerfällig, und gäbe es keinen Kohlendunst und keinen Nebel, dann hätte ich auch schon Englisch gelernt.
Aber diese Engländer sind so anders als die Franzosen, an denen ich wie an meinen Landsleuten hänge. Sie beurteilen alles nur in bezug auf das Geld, und die Kunst lieben sie nur, weil sie ein Luxus ist – rechtschaffene Herzen, aber solche Originale! Ich kann sehr gut verstehen, daß man hier steif werden kann oder sich in eine Maschine verwandeln kann.
Wäre ich jünger, so würde ich mich vielleicht als Maschine versuchen, würde in allen Ecken Konzerte geben und die geschmacklosesten Sachen spielen (wenn es nur Geld einbringt!)
In einem Brief an Grzymala hält er fest:
… Musik ist jedenfalls hier keine Kunst und wird auch nicht so genannt … Schuld daran sind natürlich die Musiker; aber versuche nur, das zu verbessern! Sie spielen die verrücktesten Dinge und halten sie für schön. Versucht man ihnen etwas Vernünftiges beizubringen, so macht man sich lächerlich …
Ein knappes Jahr später sitzen seine Schwester Ludwika, seine Stieftochter Solange und weitere Freunde und Freundinnen an seinem Sterbebett, darunter nicht George Sand, wohl aber die aus Polen stammende berühmte Sängerin Gräfin Delfina Potocka. Von ihr wünscht sich Chopin Gesang. Ein Klavier wird in das Schlafzimmer gebracht, und Potocka singt, sich selbst auf dem Klavier begleitend, einen Psalm und mehrere Arien.
Chopin kann nicht mehr vernehmlich sprechen und somit seine Sünden nicht mehr hörbar bekennen, weshalb der herbeigerufene Priester in seiner grenzenlosen Nächstenliebe ihm, dem Katholiken, die „Heilige Ölung“ verweigert. Am nächsten Tag, dem 17. September 1849, stirbt Frédéric Chopin.
Wie von ihm, dem polnischen Patrioten gewünscht, dessen Sehnsucht nach der Heimat nie vergehen wollte, wird seinem Leichnam das Herz herausgeschnitten, in Spiritus eingelegt und später in Warschau in der Heilig-Kreuz-Kirche beigesetzt. Bei der Trauerfeier wird, ebenfalls wie von ihm gewünscht, das Requiem von Mozart gespielt, dem von ihm besonders geliebten Tonschöpfer.
Franz Liszt urteilt:
Er beanspruchte nichts und verschmähte es, etwas zu fordern. Wie Tasso konnte man sagen: „Ich ersehnte viel, erhoffte wenig, begehrte nichts.“
Um so reicher hat er die Welt mit seiner Musik beschenkt.
Schrifttum:
- Kobylańska, Krystyna, Hrg., Fryderyk Chopin, Briefe, Berlin 1983
- Sand, George, Geschichte meines Lebens, Aus ihrem autobiographischen Werk, hrg. v. Renate Wiggershaus, insel taschenbuch 1978
- Tomaszewski, Mieczysław, Chopin – Ein Leben in Bildern, Schott 2009
- Tomaszewski, Mieczysław, Frédéric Chopin und seine Zeit, Regensburg 1999
- Wüst, Hans Werner, Frédéric Chopin, Briefe und Zeitzeugnisse, Ein Portrait, Bonn 2007
Tonträger
(sehr zu empfehlen):
- Chopin – The complete Works, mit Garrick Ohlsson, Klavier, Kassette mit 16 CDs herausgegeben von hyperion
Danke…
Dein Chopin-Artikel ist großartig und bewundernswert.
macht spaß. lädt ein, ist so knapp, dass man vergnüglich liest, und doch noch lust hat weiterzuforschen.
Bei solchen Beiträgen wünscht man sich, daß es bei Blogs eine Funktion gibt, die die jeweiligen Beiträge gleich in pdf.-Dokumente umwandelt, und man sie als solche ausdrucken kann. Denn solche wertvollen und auch ausführlichen Beiträge lesen sich am Bildschirm nicht besonders gut.
Aber verbesserte technische Möglichkeiten des Ausdruckens von Blogbeiträgen werden sich sicherlich bald ausbreiten.
– Sollte nicht auch daran gedacht werden, daß man Blogbeiträge gesammelt als Schriften herausgeben kann? Man könnte das als sehr wichtig und wesentlich ansehen.
Seit Tagen beschäftige ich mich mit der Musik und der Person von Frederik Chopin. Ich verliere mich darin und dabei die Größe dieses Komponisten zu verstehen. Ich möchte Ihnen für diesen Artikel danken. Er ist gefühlvoll geschrieben und interessant zu lesen.
DANKE
Herzlich Dank. Ihr Artikel ist wunderbar für jeden, der beginnt, sich auf dem Klavier mit Chopin’s wundervoller Musik zu beschäftigen.
DANKE !!!