„…das Wirken der Intuition zu erleben“ – der Pianist Walter Gieseking
Samstag, 16. Januar 2010 von Adelinde
von Adelinde-Gastautor und Musikwissenschaftler Udo Salzbrenner
Menschen, die sich die Fähigkeit seelischen Erlebens eines Kunstwerkes, insbesondere eines Musikwerkes bewahrt haben, werden sich dankbar eines deutschen Mannes erinnern, der nicht nur zu den Herausragendsten seines Fachs gehörte, sondern dessen beseelte und werkadäquate Interpretationen uns auch heute noch oder heute wieder – auf Compact Disc gebrannt – zu fesseln imstande sind, den am 5. November 1895 als Sohn deutscher Eltern in Lyon geborenen Pianisten Walter Gieseking.
In unserer kurzen Würdigung kann es sich nicht darum handeln,
sein bewegtes Leben
nachzuerzählen, seine Kindheit und Jugend in Süd-Frankreich, seinen Unterricht bei Karl Leimer etwa am Konservatorium in Hannover oder seine Begegnungen mit den Großen seiner Zeit, mit Elly Ney, Arturo Toscanini, Paul Hindemith, Otto Klemperer und Hans Pfitzner, sein erfülltes Familienleben, sein leidenschaftliches Sammeln von seltenen Schmetterlingsarten, seine vielen Konzertreisen rund um den Erdball, durch Europa, Nord- und Südamerika, Japan, Australien, Indonesien
– ein immenses Arbeitspensum gepaart mit einem ebenso gigantischen Repertoire.
Das alles hat Walter Gieseking, allen Star-Rummels um seine Person abhold, als versierter und wortgewandter Schriftsteller mit der gebotenen und ihm eigenen vornehmen Zurückhaltung in seiner überaus lesenswerten Autobiographie „So wurde ich Pianist“ selbst getan.
Im Vordergrund steht uns die
Würdigung seines Künstlertums,
und dieses offenbarte sich außer in seinem Spiel auch in zahlreichen von ihm verfaßten Aufsätzen.
Nicht nur seine feine Anschlagskultur und seine makellose Technik (hierbei vor allem auch seine Pedaltechnik, insbesondere seine typischen Halb-Pedaleffekte), die sein Spiel so mühelos erscheinen ließen, sondern auch sein ausgeprägtes Stilgefühl machten ihn zu einem berufenen künstlerischen Anwalt zahlloser Tondichter unterschiedlichster Epochen:
Groß Glück und Heil ist uns in dieser Woche widerfahren,
so berichtete die „Deutsche Zeitung“ am 27. Oktober 1920.
Unter der reichen Anzahl bester Klavierspieler, deren wir uns in Deutschland rühmen dürfen, ist urplötzlich und ganz unvermittelt ein zum Höchsten Berufener aufgetaucht […] Walter Gieseking heißt der kommende Mann … Man vergaß von den ersten Tönen an einfach alles. Höchste Kunst, ausgebildete Virtuosität wurden zu selbstverständlichen Nebendingen.
Und wirklich schien ihm alles zuzufliegen:
Technische Übungen mache ich nie. Ich halte diese überhaupt für fast ganz überflüssig. Wenn der Schüler Tonleitern, Arpeggien und ähnliche Grundelemente der Klaviertechnik einmal gelernt hat, kann er sie doch! Wozu also die Finger anstrengen und langweilen? […] Das trainierte, richtig kontrollierende Ohr gibt den Nerven und Muskeln fast automatisch die Impulse, die die Finger richtig spielen lassen. Jedenfalls habe ich seit 1913 […] keine Tonleitern und Fingerübungen mehr geübt und habe daher auch kein tägliches Arbeitspensum. Es macht mir so gut wie nichts aus, wenn ich längere Zeit keine Taste anrühre. Dies ist sogar eine sehr gute Erholung … („Wie Künstler üben“, 1937)
Auch die „Vossische Zeitung“ vom 3. November 1920 hielt ihren Enthusiasmus nicht zurück:
Eine ganz besondere Überraschung. Er spielte mit einer Vollendung, die jedem Vergleich standhält. Ich habe noch von keinem Pianisten die neue Klaviermusik so hinreißend und bezaubernd schön spielen hören wie von Walter Gieseking.
In der Tat hat Gieseking wohl – keine Berührungsängste kennend – mehr
zur Verbreitung moderner Musik seiner Zeit beigetragen
als irgend ein anderer Virtuose. Namen wie Cyril Scott, Joseph Marx, Erich Wolfgang Korngold, Hermann Reutter, Ernst Toch, Karol Rathaus und Erwin Schulhoff, Paul Hindemith, Hans Pfitzner (Uraufführung des wunderschönen Klavierkonzerts op. 31 im Jahre 1923), Alexandre Tansman, Mario Castelnuovo-Tedesco fanden sich des öfteren auf seinen Programmen.
Ich finde, die Programme, die ich damals [Ende der 20er-Jahre] spielte, noch heute interessant; obwohl sicher nicht alle Werke darin bleibenden Wert haben, sollte es sich meines Erachtens kein musikalisch interessierter Mensch entgehen lassen, auch solche Kompositionen anzuhören, anstatt zum hundertsiebenundsechzigsten Male verzückt der Mondschein-Sonate zu lauschen. […] Die Musik besteht nicht nur aus Beethoven-Sonaten. (Gieseking, Autobiographie)
Besonders enge innere Beziehung zu Debussy
Eine besonders enge innere Beziehung hatte Walter Gieseking zur Musik der französischen Impressionisten, besonders zu der Claude Debussys, aber auch Maurice Ravels. Gieseking mit einem klugen Seitenblick auf die Völkerpsychologie:
Musik kennt eben keine Grenzen, sie ist eine übernationale, allen Völkern verständliche Sprache.
Bereits am 4. Februar 1914 hatte Gieseking in einem Klavierabend des Konservatoriums Hannover eine Komposition Debussys auf das Programm gesetzt, die „Reflets dans l’eau“ (Lichtreflexe auf dem Wasser) aus den „Images I“, nicht ahnend, daß er mit dem Namen seines Lieblingskomponisten später geradezu verwachsen sollte.
Wie soll man etwas erklären, mit dem man sich so identisch fühlt, daß man nicht begreift, wie es überhaupt anders sein könnte?
bemerkte Gieseking über Debussy.
Ich wenigstens empfinde seine Musik als sehr stark naturverbunden […] ich glaube, daß in Debussys Musik der Einklang mit den Kräften des Lebens und der Natur spürbar ist im Sinne des Einverständnisses mit der Natur, im Sinne der Bewunderung ihrer Schönheit. Diese überpersönlichen Empfindungen, die Debussy in vollendeter musikalischer Klangform gestaltet hat, machen zusammen mit der Klangpracht, dem Farbenreichtum und der Eigenart seiner Tonsprache seine Musik so schön, daß jeder musikempfängliche Mensch davon berührt werden muß. Debussys Kompositionen gehören für alle Zeiten zu den größten Meisterwerken der europäischen Musik. („Warum ich Debussy spiele“, 1948)
Debussy und Ravel verdanken Gieseking die internationale Verbreitung. Die Tondokumente der Gesamtaufnahmen der beiden Klavierwerke zeichnen sich durch eine unerreichte Klangfarbenpalette und überaus klare Artikulation ohne verschleiernden Pedalnebel aus; das Klavier wurde unter seinen Händen zu einem Prisma und Kaleidoskop; es entstand ein Klangbild voller Eleganz und Transparenz.
Auch Werke Johann Sebastian Bachs spielte er
auf dem modernen Konzertflügel, freilich befreit von romantisierenden Zutaten, Oktavverdoppelungen und Pedaleffekten.
Man wird nun vielleicht erwarten, daß ich mit meinen vielen Forderungen nach Stilechtheit und Objektivität Anhänger des Cembalos bin. […] Der Ton von Cembalo und Clavichord ist aber – nach meinen Erfahrungen – für unsere Konzertsäle, ja überhaupt für größere Räume, absolut unzureichend. Dies Gezirpe und Gerassel vermischt sich zwar im Gegensatz zum Ton des modernen Flügels ausgezeichnet mit dem Streicherklang – ein musikalisches Vergnügen hat es aber meinen Ohren noch nicht bereitet. […]
Spielt also Bach auf unseren schönen Flügeln, verzichtet nur in kluger Beherrschtheit auf die Effekte, die zu Bachs Musik nicht gehören – auf Oktavendonner, Pedalschwelgerei und ähnliche Gefühlsausbrüche. Schlichte Einfachheit und meisterliche Klarheit sind mit die höchsten und bewunderungswürdigsten Vorzüge der Bachschen Tonwelt – dieser Welt, die so herrlich und vielgestaltig ist, daß sie stets als eine der größten Genieleistungen der Menschheit unsere Bewunderung erwecken wird. („Bach-Interpretationen auf dem Konzertflügel“, 1941)
Als erster Interpret des 20. Jahrhunderts überhaupt spielte Gieseking bis 1953
sämtliche Klavierwerke Wolfgang Amadé Mozarts auf Schallplatte
ein, und dies mit einer Klangreinheit und Ausdrucksschönheit, die ihresgleichen suchen. Er zählt damit neben Arthur Rubinstein, Bruno Walter und Karl Böhm zu den Pionieren der modernen Mozart-Interpretation, fern abseits verkitschter, romantisierender Rokoko-Klischees.
Es ist die leichteste und zugleich schwierigste Musik, wenn man sie richtig spielen will. Für Mozart muß Musik etwas so Normales und Instinktives gewesen sein wie das Atmen, und die Leichtigkeit und Vollendung seines Komponierens rücken seine Werke über menschliche Schwächen, über irdische Mühen hinaus und lassen sie zu etwas Übermenschlichem, Metaphysischem werden oder ganz einfach zur ‚Klang gewordenen’ Schönheit der Natur.
Der Musiker, der es unternimmt, Mozarts Inspirationen so weit wie möglich nachzugehen, muß nicht nur über allen technischen Problemen stehen, sondern auch über jeder Art geistiger Anstrengung – es darf keine Spekulation auf etwaige Effekte geben und auch nicht den Grundgedanken, daß es sich um eine Interpretation handelt. (Gieseking)
Zuletzt war es Ludwig van Beethoven,
den er beim Wort beziehungsweise beim Notentext nahm. Es ist ein moderner Beethoven für Kenner geworden, abseits von pompösem romantischem Pathos, meilenweit entfernt vom Klischee des Titanen der Musikgeschichte, voller Klarheit – und sicher nicht für jedermanns Geschmack.
Als er 1956 in den Abbey-Road-Studios London die Sonaten des großen Wiener Klassikers, die ihn seit seiner Jugend begleitet hatten, einspielte, erkrankte er am 23. Oktober schwer. Während der Aufnahme der „Pastorale“ op. 28 brach er mit einer akuten Entzündung der Bauchspeicheldrüse zusammen.
Die Ärzte konnten ihn nicht mehr retten, zwei Tage lang schwebte er noch zwischen Leben und Tod. Am 26. Oktober 1956 schlief er ruhig ein, viel zu früh, noch keine 61 Jahre alt. Auf dem Wiesbadener Nordfriedhof liegt er begraben.
Wen berührten nicht Walter Giesekings Worte über
„Intuition und Werktreue als Grundlagen der Interpretation“ (1942):
Eine sinnvolle, künstlerisch gültige und wahrhaftige Interpretation ist mit dem Begriff Werktreue untrennbar verbunden. Jedes Kunstwerk von Bedeutung hat von seinem Schöpfer einen bestimmten Ausdrucksinhalt erhalten, den der Interpret verlebendigen und vermitteln muß. […]
Der nach Werktreue strebende Interpret soll also auch an älterer Musik nichts verändern; er soll auch nicht vergessen, daß alle vorbeethovensche Musik für klangschwächere Instrumente, als es die heutigen Klaviere sind, konzipiert wurde und darum die volle Ausnützung der Klangstärke des modernen Flügels eine Überspannung der Dynamik bedeutet, die zur Vorsicht mahnen muß. Ganz schlimm und sinnlos ist die Anbringung von Pedaleffekten in einer Musik, zu deren Entstehungszeit das Pedal noch nicht erfunden war.
Ebenso falsch ist es natürlich, wenn Liszt oder Tschaikowsky, ja selbst Brahms oder Schumann mit der neuerdings manchmal so übermäßig geschätzten Sachlichkeit behandelt werden. Derartige Kühlschrankmusik ist ebenso sinnlos wie unentwegte romantische Ekstase – nur wirkt sie noch nicht einmal auf naive Gemüter effektvoll, sondern bloß schlechthin langweilig.
Leider erkennt nicht jeder Spieler intuitiv, wie ein Werk richtig vorzutragen ist, aber durch immer erneutes Bemühen, jedes einzelne Werk so echt und schön darzustellen, muß eine vielseitige und wandelbare, jedoch immer von dem einzigen Grundsatz der unbedingten Werktreue geleitete Interpretationskunst angestrebt werden, eine Kunst des Nachschaffens, die nicht nur alle Stilarten umfassen, sondern auch in einer Art Synthese von objektiver und subjektiver Auffassung Verstand und Gefühl, Formsinn und Ausdruckskraft gleichermaßen der Wiedergabe des Kunstwerks dienstbar machen soll.
Wer sich so der Aufgabe, ein Meisterwerk zu verlebendigen, in voller Konzentration widmet und sich von dem diesem Meisterwerk entströmenden Fluidum beeinflussen und führen läßt – wer des Vorzugs teilhaftig wird, das Wirken der Intuition zu erleben, dieser Eingebung, die über Verstand und Gefühl steht, weil sie beides lenken und regieren kann – , der wird in inspirierten Stunden dem Ziel nahekommen, das ich eingangs als Ideal bezeichnete: dem möglichst vollkommenen Einklang der Ausdruckswünsche des Komponisten und seines gehorsamen Dieners, des Interpreten.
Literaturnachweis
- Walter Gieseking: So wurde ich Pianist, F. A. Brockhaus, Wiesbaden 1963.
Wir können uns heute glücklich schätzen, viele Aufnahmen mit Walter Gieseking als wertvolle Tondokumente greifbar zu haben. Folgende
Auswahl von Compact Discs
sei dem Musikfreund empfohlen:
- Claude Debussy: Das Gesamtwerk für Klavier (solo), EMI Classics 7243 5 65855 2 2 (4 CDs), www.emiclassics.com (Diapason d’Or)
- Wolfgang Amadeus Mozart: Sämtliche Klavierwerke (solo), Serie Références, EMI Classics 0777 7 63688 2 5 (8 CDs), www.emiclassics.com
- Maurice Ravel: Das Gesamtwerk für Solo-Klavier, Serie Références, EMI Classics 7243 5 74793 2 5 (2 CDs), www.emiclassics.com
- Walter Gieseking spielt Mozart (Klavierkonzerte Nr. 23, KV 488, und Nr. 24, KV 491, Klaviersonate A-Dur KV 331), Beethoven (Klavierkonzerte Nr. 4 und Nr. 5), Schumann, Grieg (Klavierkonzerte) mit dem Philharmonia Orchestra unter der Leitung von Herbert von Karajan, Debussy (ausgewählte Werke für Klavier solo), Artone 222363-354, Membran Music Ltd., www.membran.net, 4 CD-Set, ISBN 3-86562-090-6. Walter Gieseking als Kammermusikpartner:
- Franz Schubert: Klaviertrio B-Dur op. 99 / Johannes Brahms: Klaviertrio c-Moll op. 101, zusammen mit Gerhard Taschner (Violine) und Ludwig Hoelscher (Violoncello), aufgenommen 1947; Bayer Records, BR 200 031, www.bayermusicgroup.de
- Werke von Ravel, Beethoven, Fortner und Gieseking, zusammen mit Gerhard Taschner (Violine) und Ludwig Hoelscher (Violoncello), aufgenommen 1947, 1948; Bayer Records, BR 200 032, www.bayermusicgroup.de
- César Franck: Sonate für Violine und Klavier A-Dur / Ludwig van Beethoven: Sonate für Violine und Klavier Nr. 9 A-Dur op. 47 (Kreutzer-Sonate), zusammen mit Gerhard Taschner (Violine), aufgenommen 1945, 1947, 1951; Bayer Records, BR 200 053, www.bayermusicgroup.de
Alles schön und gut – aber dass er zusammen mit Elly Ney ein glühender Anhänger der NSDAP war sollte den musikalischen Spass nicht allzu viel verderben weder an ihm noch an Fr. Ney. Aber es doch nicht zu vergessen wie er und Ney, beide furchtlos bis 1933 das Klavierkonzert von Ernst Toch immer wieder lieb und gern aufs Programm nahmen und plötzlich, es nicht nur fallen ließen aber auch das Werk und den Komponisten denunzierten. Dass die Werke vom Ende der 20er Jahre vielleicht nicht alle ‚bleibend‘ waren, streitet niemand ab aber wie soll man es denn überhaupt beurteilen können wenn sie abrupt fallen gelassen werden und eine kontinuierliche organische Fortsetzung im Repertoire nach 7 erfolgreichen Jahren mit allen großen Orchestern und Dirigenten nicht unternommen werden?
Ein reichhaltiger, vielseitig informierender Beitag über den großen Pianisten Walter Gieseking, für den ich herzlich danken möchte. Das Erlebnis eines Klavierkonzerts von Gieseking in der Hamburger Musikhalle war für mich in der Studentenzeit prägend und wird mir immer unvergeßlich bleiben.
Dank den beiden Verfassern!
Verfasser ist allein Udo Salzbrenner. Adelinde hat nur formatiert und die Bilder eingefügt.
Danke sehr für die mir zugeteilten Lorbeeren!
Zur Stellungnahme von Michael Haas möchte ich aber doch, obwohl es nicht zu meinem Thema gehört, folgendes anmerken:
Es ist kein Geheimnis, daß Gieseking nach dem Kriegsende 1945 für sein Verbleiben in Deutschland und seine vermeintliche oder tatsächliche Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Regime angefeindet wurde, ja sogar eine zeitlang mit Aufführungsverbot belegt war und das, obwohl er – anders als so mancher andere prominente deutsche Musiker – nie Mitglied der NSDAP war, auch keine Kontakte zu Nazigrößen unterhielt und auch recht mutig an seinem jüdischen Konzertagenten festgehalten hatte, ihn sogar, obwohl dieser aus politischen Gründen nicht mehr für ihn arbeiten konnte, weiterhin bezahlte.
Freilich stand Gieseking quasi als Aushängeschild u.a. auf der Gottbegnadeten-Liste (Führerliste) der wichtigsten Pianisten des NS-Staates und wurde 1937 von Adolf Hitler zum Professor ernannt, aber dafür konnte er ja nunmal nichts.
Auffallend viele jüdische Tondichter finden sich in seinem Repertoire: Erich Wolfgang Korngold, Ernst Toch, Karol Rathaus, Erwin Schulhoff, vor allem auch Maurice Ravel, für dessen Werk er sich nachhaltig eingesetzt hat.
Daß der im übrigen eher kosmopolitisch eingestellte Gieseking das Klavierkonzert von Ernst Toch, das er im Repertoire hatte, wie Michael Haas schreibt, „nicht nur fallen ließ“, sondern „auch das Werk und den Komponisten denunzierte“, ist mir nicht bekannt. Das entbehrt des Nachweises. Daß „eine kontinuierliche organische Fortsetzung im Repertoire nach 7 erfolgreichen Jahren mit allen großen Orchestern und Dirigenten nicht unternommen“ wurde, lag ja zumindest nicht allein an Gieseking. Man hätte ja das Werk auch im Ausland mit anderen Interpreten aufführen können, was nicht geschah.
Im Übrigen bitte ich – aus eigener Erfahrung – zu bedenken, daß es durchaus nicht nur in der Entscheidung der jeweiligen Künstler liegt, ob ein Werk aufgeführt wird oder nicht, sondern vor allem an den verantwortlichen Programmgestaltern und Veranstaltern, die ein in der Repertoireliste eines Künstlers stehendes Werk nun für ein bestimmtes Konzert bestellen.
Mir sind eine Menge Künstler bekannt, die auch heute gerne dieses oder jenes Werk aufführen würden, es aber nicht können, allein weil Konzertveranstalter (auch Rundfunkanstalten) es eben – aus welchen Gründen auch immer (seien es künstlerische, wirtschaftliche oder ideologische) – nicht haben wollen.
Michael Haas erwähnt in seiner kritischen Stellungnahme auch Elly Ney im Zusammenhang mit der NS-Zeit.
Viel wesentlicher scheinen mir Worte Elly Neys selbst, die die Gedanken bestätigen, die den Ausführungen Udo Salzbrenners zugrunde liegen. Elly Ney ging es ums Wesentliche, Schöpferische, um intuitives (Nach-)Schaffen, das „höhere Welten“ ahnen lasse.
Hans D. Hoffert bringt einige ihrer Gedanken zum Wesen der Musik und ihrer Interpretation in seinem Blog „Pro Classics“ und läßt auch bedeutende Zeitgenossen über Elly Ney und ihre Kunst zu Wort kommen, wie z. B. den Pianisten Wilhelm Kempff:
„… Ein geheimnisvoll angeschlagener Akkord … und der Zuhörer war an ihren Stromkreis angeschlossen. Was sich dann begab, das kann und soll nicht mit Worten beschrieben, soll nicht wissenschaftlich seziert werden. Wer Ohren hat zu hören, der hat es gehört! Und es war keineswegs damit getan, sondern es tönte weiter in den Herzen der Zuhörer, die vom ersten Auftreten dieser größten nachschaffenden Künstlerin es begriffen hatten, daß eine solche Kunst ihre Kraft aus den Wurzeln zog, die in den unergründlichen Tiefen der menschlichen Seele beheimatet sind.“
Aus den Briefen Anton Schindlers an seinen Freund Franz Wüllner sind Worte Beethovens zu entnehmen, die der künstlerischen Erfahrung Elly Neys (und auch Giesekings) genau entsprechen: „Ausschließliches Üben der Technik führt zur Vernichtung aller Schöpferkraft, zur Zerstörung der Phantasie.“
Elly Ney:
„Der Neuling ahnt ja nicht, daß das ,Lernen‘ in der Musik nur in begrenztem Maße möglich und der Künstlerberuf mit großen Gefahren verbunden sein kann. In der Kunst gelten andere Gesetze als in den Wissenschaften, in denen gerade das ,Lernen‘ die Grundlage bildet …“
„Durch rein verstandesmäßige, ausgeklügelte Methoden kann eine echt künstlerische Entwicklung nie erreicht werden. Dadurch verschließt sich vielmehr der Zugang zum Kunstwerk, denn dies enthält Geheimnisse, die sich dem Neugierigen sowie dem Ehrgeizigen entziehen und sich nur dem entschleiern, der für Offenbarung und Intuition empfänglich ist. Er muß das Organ besitzen, welches ihn das Fluidum der Kunst empfangen läßt, und sich dem Werk demütig nähern.
Wenn sich dagegen ein Musikstudierender durch systematisch-methodische Erziehung zu hochgezüchteten Ergebnissen emporarbeitet, möge er wissen, daß er damit zwischen sich und den Anforderungen des Kunstwerkes eine Kluft aufreißt … die immer größer wird, je mehr der Mangel an Empfinden für natürliche Melodieführung durch Maniriertheiten und Willkür ersetzt wird.“
„Die echte, wahrhaft gute Musik läßt höhere Welten ahnen.“
„Töne sind der feinste Stoff, welchen unser Geist in sich schließt. Allein, sie sind auch die höchste Gabe der Gottheit, weil sie, ungeachtet ihres geisterhaften Wesens, doch so leicht verstanden und allgemein begriffen werden – jeder besitzt davon, ohne es zu wissen –, weil der Ton eine reine Gefühlssache ist und man sich nicht alles dessen klar und bestimmt bewußt ist, was man empfinden kann … Oh, das verdammte Wissen wird ewig beschämt vor der heiligen Kunst dastehen, die aus sich selbst geboren zu uns spricht.“
Schon 1917 schrieb der Münchner Kritiker Alexander Lesch über Elly Ney:
„Endlich wieder einmal eine Persönlichkeit, bei der Musikalisches und Technisches sich die Waage halten, eine Natur, die das Organische des kompositionellen Geschehens klar erfaßt und zugleich die Mittel besitzt, ihre Erkenntnis bis in die zartesten, unwägbaren Schwebungen intuitiven Fühlens sicher und unzweideutig zu gestalten … Ich habe eine so durchgeistigt aufgebaute, rhythmisch kraftvolle und lyrisch zarte Spielweise wie die ihrige bis jetzt noch nicht erlebt: mit unendlicher Feinheit im Ausdruck und Klang, und doch groß und ohne alle spielerisch verniedlichende Stilhuberei.“
Vielen Dank fuer diese zwei wunderbaren Beitraege ueber Walter Gieseking und Elly Ney von Udo Salzbrenner und Adelinde.
Ganz besonders befreiend fand ich dieses Hervorheben der ablehnenden Einstellung, die beide Interpreten gegenueber technischer Akrobatik aeusserten.
zu 6: das sollte man an jeder Hochschule aushängen