Vor 70 Jahren: Englands Kriegsausweitungsstrategie und die Besetzung Norwegens (1. Teil)
Der Historiker Gerhard Bracke
stellte Adelinde die untenstehende Abhandlung zur Verfügung. Worte aus den Schlußabsätzen seien hier einleitend vorangestellt:
Je größer der zeitliche Abstand zur größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts wird, je weniger wahrheitsbewußte Zeitzeugen noch am Leben sind, desto absurder die Vereinfachungen, desto grotesker die Verzerrung von Tatsachen, deren Richtigstellungen dreist als „Umdeutung der Geschichte“ diskriminiert werden.
Siebzig Jahre nach der Besetzung Norwegens durch deutsche Truppen, deren Einsatz für Deutschland wahrhaftig zwingender notwendig erschien als heute der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan, ist nach dem Grundsatz Leopold von Rankes daran zu erinnern, „wie es wirklich gewesen ist.“
Bei dieser Geschichtsbetrachtung geht es nicht nur nicht um eine „Umdeutung der Geschichte“ oder gar darum, Adolf Hitler reinzuwaschen. Es geht schlicht um Wahrheit. Hier nun
Gerhard Brackes Geschichtsbetrachtung
vom Anfang her. Er schreibt:
Entspräche die gigantomanische „Spiegel“-Weisheit „1939: Wie ein Volk die Welt überfiel“ den historischen Tatsachen, die naive Schlichtheit der grotesken Formulierung streifte nicht gar so auffällig das Lächerliche. Begreifen wir sie dennoch als Herausforderung, sich die Komplexität geschichtlicher Zusammenhänge erneut vor Augen zu führen und deren Simplifikation zu entlarven.
Für den deutschen Siegeszug im „Feldzug der 18 Tage“, wie der Krieg gegen Polen bald genannt wurde, gab es mehrere Gründe, von denen der erste gern verschwiegen wird, weil er die Planung der polnischen Führung betrifft:
Die Hauptmasse der polnischen Armee stand nicht zur Verteidigung bereit, sondern zum Angriff („Auf nach Berlin!“).1
Doch nach Beendigung des Polenfeldzuges waren die englische und französische Kriegserklärung gegen das Deutsche Reich vom 3. September 1939 keineswegs überholt, obwohl die Westmächte nicht daran dachten, Polen gemäß ihren Beistandsverpflichtungen militärisch zu unterstützen. England nahm im Gegenteil geheime Verbindungen zur Sowjetunion auf, die ihrerseits am 17. September in Ostpolen einmarschierte.
Als Reichskanzler Adolf Hitler am 6. Oktober 1939 im Berliner Reichstag seine Rede hielt, die allgemein in der deutschen Öffentlichkeit als Friedensangebot an die beiden Westmächte verstanden wurde, sollte er sich in den Absichten der Gegner nachhaltig täuschen.
Es sei nicht einzusehen, so Hitler, daß für eine Wiederherstellung der Versailler Zustände eine kriegerische Auseinandersetzung im Westen erfolgen sollte. Wörtlich erklärte er:
Ich glaube, es gibt keinen verantwortlichen europäischen Staatsmann, der nicht im tiefsten Grunde seines Herzens die Blüte seines Volkes wünscht. Eine Realisierung dieses Wunsches ist aber nur denkbar im Rahmen einer allgemeinen Zusammenarbeit der Nationen.
… Herr Churchill mag der Überzeugung sein, daß Großbritannien siegen wird. Ich aber zweifle keine Sekunde, daß Deutschland siegt.
Das Schicksal wird entscheiden, wer recht hat. Nur eines ist sicher: es hat in der Weltgeschichte noch niemals zwei Sieger gegeben, aber oft nur Besiegte. ….
Mögen diejenigen Völker und ihre Führer nun das Wort ergreifen, die der gleichen Auffassung sind. Und mögen diejenigen meine Hand zurückstoßen, die im Krieg die bessere Lösung sehen zu müssen glauben.2
Die Deutschen schöpften wieder Hoffnung, denn niemand in Deutschland vermochte einen ernsthaften Grund für einen Krieg gegen England und Frankreich zu erkennen. Zudem hatte Hitler immer wieder betont, daß er an Frankreich keine Forderungen erhebe, auch keinen Anspruch auf die alten deutschen Reichslande Elsaß-Lothringen. Die deutsch-französische Grenze sei für ihn unantastbar, und an die Stelle einer angeblichen Erbfeindschaft der beiden Völker sollten endlich freundschaftliche Beziehungen treten.
Sowohl die französische als auch die britische Regierung lehnten Hitlers (erstes) Friedensangebot strikt ab
und sprachen sich für die Fortsetzung der Feindseligkeiten aus. Allerdings war es bislang im Westen, abgesehen von kleineren Spähtruppunternehmungen und Flugblattaktionen, zu keinen Kampfhandlungen entlang der Grenze gekommen, weshalb die Franzosen vom „Drôle de guerre“ (komischen Krieg) sprachen. Sie hatten von Anfang an Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines kriegerischen Einsatzes gegen Deutschland geäußert und sich eher widerwillig von der englischen Politik vereinnahmen lassen.
Schließlich war mit dem Eingreifen der Sowjetunion die westliche Garantie für Polen ohnehin gegenstandslos geworden – doch eine Kriegserklärung an den späteren Verbündeten Stalin unterblieb ebenso. Stattdessen verkündeten London und Paris ein
neues alliiertes Kriegsziel, die „Vernichtung des Hitlerismus“.
Der frühere Premierminister D. Lloyd George (1863-1945) forderte zwar die britische Regierung auf, die Gelegenheit zu einer internationalen Friedenskonferenz nicht ungenutzt zu lassen. Lloyd George war es auch, der bereits 1919 die Danzig-Korridor-Problematik des Versailler Friedensdiktats als künftigen Kriegsgrund klar voraussagte. Und der Dichter George Bernard Shaw (1856-1950) kommentierte das neu verkündete Kriegsziel bissig dahingehend, ob man nicht lieber mit der „Vernichtung des Churchillismus“ beginnen sollte.3
So waren die Meinungen in England durchaus geteilt.
Offenbar war die neue Kriegszielbestimmung der englischen Regierung bereits vor Hitlers Reichstagsrede propagiert worden, denn das Politbüro der Kommunistischen Partei Großbritanniens erklärte am 4. Oktober 1939:
Die in den letzten Tagen entstandene neue Lage hat große Möglichkeiten für Frieden und Sicherheit eröffnet. Der Krieg in Osteuropa wurde zu Ende geführt … Das Andauern des Krieges in Westeuropa … wird jetzt zur tödlichen Bedrohung der Interessen der Völker aller Länder. […] Wenn die Chamberlains und Churchills … als Kriegsziel den „Sturz des Hitlerismus“ verkünden, wollen sie dem deutschen Volk ein Regime aufzwingen, das dem britischen und französischen Imperialismus dient…4
Diese politische Einstellung englischer Kommunisten war natürlich bestimmt von der Linie des Genossen Stalin, der seit dem Pakt mit Hitler vom 23. August 1939 strategisch klug die deutsche Position außenpolitisch unterstützte. Bemerkenswert deutlich brachte auch die „Iswestija“ diesen offiziellen sowjetischen Standpunkt am 9. Oktober 1939 zum Ausdruck, den die gleichgeschaltete Presse in Deutschland übernahm:
…. Bekanntlich wurde der Krieg Englands und Frankreichs gegen Deutschland unter der Losung der Wiederherstellung Polens geführt. Angesichts der oben dargelegten Tatsachen kann die Weiterführung des Krieges durch nichts gerechtfertigt werden. … Die Einstellung dieses Krieges würde mithin den Interessen der Völker aller Länder entsprechen.
Die Vorschläge, die Hitler am 6. Oktober in seiner Reichstagsrede gemacht hat, können angenommen, abgelehnt oder in dieser oder jener Weise korrigiert werden. Aber es ist unmöglich, nicht anzuerkennen, daß sie auf jeden Fall als reale und praktische Grundlage für Verhandlungen dienen können, die auf den raschesten Friedensabschluß hinzielen.5
Zu welchen taktisch klugen Argumentationsschlüssen damals ein amtliches Presseorgan der Sowjetunion gelangte, um Deutschland hinsichtlich der weiteren Absichten Stalins in Sicherheit zu wiegen, erscheint um so bemerkenswerter, als vor einem deutlichen Hinweis auf die eigentlichen Kriegstreiber gegen das Reich nicht zurückgeschreckt wird. Heute würde man das als Propaganda zugunsten des Nazi-Regimes bezeichnen. Die „Iswestija“ schrieb nämlich weiter:
Als Hauptforderung wird jetzt „die Vernichtung des Hitlerismus“ proklamiert. Kampf der Hitler-Ideologie – so wird jetzt von englischen und französischen Politikern das Ziel des jetzigen Krieges dargestellt…
Können diese Argumente zur Fortsetzung des Krieges als irgendwie begründet und beweiskräftig anerkannt werden?
Jeder Mensch kann sein Verhältnis zu dieser oder jener Ideologie frei zum Ausdruck bringen, sie verteidigen oder ablehnen. Aber die Vernichtung von Menschen nur deshalb, weil irgend jemandem bestimmte Ansichten und Weltanschauungen nicht gefallen, ist eine sinnlose und widersinnige Grausamkeit […] Man kann den Hitlerismus achten oder hassen … Aber Kriege anfangen für die „Vernichtung des Hitlerismus“ bedeutet, in der Politik eine verbrecherische Dummheit zuzulassen…6
Die eigentlichen Ziele Moskaus zu dem Zeitpunkt hinter einer wirkungsvollen Friedenspropaganda verhüllend, bediente sich der sowjetische Außenkommissar Molotow noch am 31. Oktober 1939 derselben Argumentation, wenn er ausführte:
Heute ist … Deutschland in der Lage eines Staates, der nach frühester Beendigung des Krieges und nach Frieden strebt, während Großbritannien und Frankreich, die noch gestern gegen Aggressionen Reden geschwungen haben, für die Fortsetzung des Krieges und gegen einen Friedensschluß sind.
Nach Molotow suchen die Westmächte immer neue Vorwände, um den Krieg mit Deutschland fortzusetzen und sich als „Verfechter der demokratischen Rechte der Nationen gegenüber Hitler hinzustellen.“ Das bedeutet, daß sie einen „ideologischen“ Krieg erklärt haben, der an die Religionskriege der alten Zeiten erinnert.
Aber für einen Krieg dieser Art (so der Außenminister Stalins) gibt es überhaupt keine Rechtfertigung. Man kann die Ideologie des Hitlerismus akzeptieren oder ablehnen … das ist eine Sache der politischen Einstellung. Aber jeder Mensch sollte verstehen (und diese Bemerkung ist zugleich an den Verbündeten Hitler unmißverständlich gerichtet!), daß eine Ideologie nicht gewaltsam zerstört werden kann, daß sie nicht durch einen Krieg aus der Welt zu schaffen ist. Es ist daher nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen solchen Krieg als Krieg „zur Vernichtung des Hitlerismus“ zu führen, getarnt als Kampf für die „Demokratie“…
Die Beziehungen zwischen Deutschland und den anderen westeuropäischen Staaten sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten in erster Linie durch das Bestreben Deutschlands bestimmt gewesen, die Fesseln des Versailler Vertrages zu brechen, dessen Schöpfer Großbritannien und Frankreich unter der aktiven Teilnahme der Vereinigten Staaten waren. Das ist es, was schließlich zu dem jetzigen Krieg in Europa geführt hat. [….]7
Zweifellos hat Genosse Molotow mit dieser Feststellung die Wahrheit ausgesprochen, auf die man sich gern beruft, wenn sie den eigenen Interessen nicht entgegensteht.
Um der historischen Wahrheit willen darf aber auch die Verlogenheit der Propagandathese von der „Vernichtung des Hitlerismus“ nicht außer Betracht bleiben. Deutlich sprach der Erste Lord der Admiralität, Winston Churchill, im englischen Rundfunk am 3. September 1939 die tatsächliche Absicht aus:
Dies ist ein englischer Krieg, und sein Ziel ist die Vernichtung Deutschlands.
Mit derselben Deutlichkeit verkündete am 6. September 1940 Lord Vansittard, Staatssekretär im britischen Außenministerium, in einem Schreiben an seinen Außenminister:
Der Feind ist das Deutsche Reich und nicht etwa der Nazismus.
Daß man sich in Großbritannien dieser Wahrheit noch immer durchaus bewußt ist, belegt eine Stellungnahme des Londoner „Sunday Correspondent“ vom 17.9.1989:
Wir sind 1939 nicht in den Krieg gezogen, um Deutschland vor Hitler, … den Kontinent vor dem Faschismus zu retten. Wie 1914 sind wir für den nicht weniger edlen Grund in den Krieg eingetreten, daß wir eine deutsche Vorherrschaft in Europa nicht akzeptieren konnten. 8
Von besonderer Pikanterie aber erscheint der Umstand, daß Molotow dem Deutschen Reich und damit Hitler das Streben nach Frieden einen Monat vor dem
Überfall der „friedliebenden“ Sowjetunion auf Finnland
bescheinigte. Denn am Morgen des 30. November 1939 griffen mehr als 400 sowjetische Flugzeuge überraschend und ohne Kriegserklärung die finnischen Städte Helsinki, Lahti und Hangö sozusagen „aus heiterem Himmel“ an. Für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wird diese Aggression heute allenfalls als Marginalie wahrgenommen.
Nachdem im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 das Baltikum zur sowjetischen „Interessensphäre“ erklärt worden war – und zwar auf fordernde Anregung des Genossen Molotow – , wurden die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gleich nach Kriegsausbruch unter Androhung militärischer Gewalt zur Duldung sowjetischer Stützpunkte genötigt. Es folgte ein Jahr später ihre Besetzung als „Sowjetrepubliken“.
Auch an Finnland ergingen im Rahmen formaler Verhandlungen unannehmbare Gebietsforderungen, deren Ablehnung die erwähnte Aggression zur Folge hatte. Zur Überraschung der ganzen Welt ließ der zähe und erfolgreiche Widerstand der Finnen die sowjetische Strategie im ungewohnten Winterkampf scheitern.
Die hiermit eingetretene militärpolitische Situation rief die Westmächte sogleich auf den Plan, indem beide Regierungen über eine Unterstützung Finnlands gegen den sowjetischen Aggressor berieten. Natürlich ging es ihnen nicht um das Schicksal des tapferen finnischen Volkes, sondern nur um den willkommenen Vorwand, Truppen nach den neutralen skandinavischen Ländern Norwegen und Schweden zu schicken. Von diesen Plänen erfuhr auch die deutsche Regierung, da sie erstaunlicherweise in der Presse der beiden Länder offen diskutiert wurden.
So kam das sowjetische Vorgehen in Nordeuropa der englischen Politik einer Kriegsausweitung höchst gelegen,
hatte doch bereits am 9. September 1939 Churchill der Admiralität einen Plan für den Einbruch in die Ostsee vorgelegt, dessen Ziel das Abschneiden der Eisenerzzufuhr aus Skandinavien sein sollte. Zwar lehnte die Admiralität damals den Plan ab, doch wiederholte Churchill in einer Denkschrift vom 19.9.39 die Grundidee einer Unterbindung der deutschen Erzzufuhr über Norwegen.
Zehn Tage später, am 29.9.39, richtete Churchill mit einer Denkschrift seine Forderungen an das Kabinett wegen „drastischer Maßnahmen“ gegen die Erztransporte von Narvik nach Deutschland und forderte vom Admiralstab Unterlagen für Minenaktionen in norwegischen Hoheitsgewässern.9
Wenngleich die britisch-französische Politik der Kriegsausweitung durch den im Norden entstandenen Kriegsschauplatz ihren entscheidenden Auftrieb erhielt, so beschränkten sich die diesbezüglichen Überlegungen und Anstrengungen der Regierungen keineswegs allein auf diesen Schwerpunkt. Bevor wir unsere Aufmerksamkeit dem eigentlichen Thema zuwenden, soll daher in einem Überblick zum Kontext der anderen Optionen gedacht werden.
Umfangreiches Aktenmaterial fiel deutschen Truppen in die Hände
Grundlage für die Betrachtung bildet das umfangreiche Aktenmaterial, das sowohl bei der im April erfolgten Besetzung Norwegens als Reaktion auf die alliierten Operationspläne als auch später im Frankreich-Feldzug den deutschen Truppen in die Hände fiel. Die geheimen Dokumente wurden vom Auswärtigen Amt in den „Weißbuch“-Bänden 4 bis 6 in den Jahren 1940/41 in Übersetzung als Faksimiles der Originale veröffentlicht:
Bd. 4 „Dokumente zur englisch-französischen Politik der Kriegsausweitung“ Berlin, 1940
Bd. 5 „Weitere Dokumente zur Kriegsausweitungspolitik der Westmächte. Die Generalstabsbesprechungen Englands und Frankreichs mit Belgien und den Niederlanden“ Berlin, 1940
Bd. 6 „Die Geheimakten des französischen Generalstabes“ Berlin, 1941
Anhand der geheimen Dokumente lassen sich aus der Fülle des Materials folgende Optionen zusammmenfassen, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind:
- Agitation gegen die Neutralität schlechthin und Aufforderung an die Neutralen, sich dem englisch-französischen Krieg gegen Deutschland anzuschließen (Churchill-Rede vom 21. Januar 1940). Zum Teil waren diese Forderungen mit offenen Drohungen und diplomatischem Druck verbunden, wie z. B. gegenüber den skandinavischen Ländern.
- Seit September 1939 waren zwischen den englischen, französischen, belgischen und holländischen Generalstäben Absprachen hinsichtlich des englisch-französischen Vormarsches durch Belgien und Holland gegen das Ruhrgebiet getroffen worden. Mit entsprechenden Befehlen waren dabei auch die Truppen vertraut gemacht worden.
- Pläne zur Zerstörung der rumänischen Erdölfelder
- Pläne zur Zerstörung der russischen Erdölfelder im Kaukasus durch Luftangriffe auf Baku und Batum
- Pläne zur sofortigen Festsetzung alliierter Truppen in Saloniki
- Schließlich „können die Alliierten nicht zulassen, daß die Weiterentwicklung des Krieges Gefahr läuft, durch die Vorteile geändert zu werden, die Schweden und Norwegen Deutschland gewähren.“10
Das Drängen der französischen Regierung
in dieser Richtung verdient besondere Aufmerksamkeit. So heißt es am Schluß eines Telegramms des französischen Ministerpräsidenten und Außenministers Ed. Daladier an den französischen Botschafter in London, Corbin, vom 17. Januar 1940:
Jede Möglichkeit, uns auf einem Gebiet festzusetzen, das uns noch nicht verschlossen ist, jeder Vorwand, der uns erlaubt, Einfluß auf eine Lage zu gewinnen, die anerkanntermaßen unmittelbar kriegsverlängernd wirkt, muß sofort berücksichtigt und ausgenützt werden. 11
In einem weiteren Telegramm an Corbin vom 21. Februar 1940 verweist Daladier auf die Notwendigkeit der Besetzung Norwegens durch alliierte Truppen,
und zwar in einer Inszenierung, für die uns der Fall „Altmark“ das Vorbild liefert.
Daladier schlägt vor, Norwegen Versagen vorzuwerfen, da die norwegische Regierung unfähig sei, die Unverletzlichkeit ihrer Hoheitsgewässer durchzusetzen. Dabei stellte der noch zu behandelnde „Altmark“-Zwischenfall (s.u.) eine eklatante Neutralitätsverletzung in norwegischen Hoheitsgewässern durch ein englisches Kriegsschiff dar.
Daladier drehte glatt den Spieß um
und leitete daraus die Handlungsnotwendigkeit der Westmächte ab: Die
Besetzung der norwegischen Häfen müßte als eine überraschende Operation durchgeführt werden, und zwar durch die englische Flotte allein oder unter Mitwirkung der französischen Flotte, jedoch ohne Mitwirkung der für Finnland bestimmten alliierten Truppenteile. Diese Operation wird der Weltöffentlichkeit in um so höherem Maße berechtigt erscheinen, je rascher sie durchgeführt wird und je mehr die Propaganda imstande sein wird, die Erinnerung an die norwegische Mittäterschaft (!) im Falle „Altmark“ zu erwecken. …
Aus dem Schreiben ergibt sich außerdem, daß Schweden den Durchmarsch nach Finnland verweigerte und mit der Fortsetzung der Verweigerungshaltung zu rechnen sei. Deshalb erinnert Daladier daran:
Unser Hauptziel darf nicht vergessen werden. Es besteht darin, Deutschland von seiner Erzversorgung abzuschneiden.“ 12
Deutschland zwingen, „aus seiner gegenwärtigen abwartenden Haltung herauszutreten“
Die Absicht der Westmächte verrät in aller Deutlichkeit vor allem eine Aufzeichnung des Oberbefehlshabers des französischen Heeres, General Gamelin, vom 16. März 1940, wonach die Alliierten größtes Interesse daran hatten, Deutschland zu zwingen, „aus seiner gegenwärtigen abwartenden Haltung herauszutreten.“ 13 Eine abwartende Haltung kann als genaues Gegenteil von Kriegstreiberei gelten, und daraus ergibt sich der klare historische Sachverhalt, der sich durch keine geschichtspolitische Konstruktion verdrängen läßt.
General Gamelin spekulierte durchaus pragmatisch:
Durch eine Kombination von Blockademaßnahmen und gewissen militärischen Operationen14 können wir nicht nur die wirtschaftliche Abschnürung immer enger gestalten, sondern Deutschland auch dazu veranlassen, aus seiner militärisch abwartenden Haltung herauszutreten.15
Die Geheimakten des französischen Generalstabes zeichnen so ein unverkennbares Bild, das die Behauptung, Deutschland habe 1940 Frankreich „überfallen“, nicht nur als geschichtlich unwahr, sondern als geradezu lächerlich erscheinen läßt.
Daß Churchill als Marineminister bereits Anfang September 1939 das Problem Norwegen als erster aufgriff, wurde schon erwähnt.
Die Westmächte waren Deutschland in allen Planungen stets um einen Schritt voraus,
nur beim letzten entscheidenden Schritt kamen sie zu spät.
Der spätere Marineoberbefehlshaber in Norwegen, Generaladmiral a.D. Hermann Boehm, stützt sich bei seiner Zeittafel zum dramatischen Ablauf der Vorgeschichte zur Besetzung Norwegens auf die Forschungsarbeit des Historikers Walter Hubatsch16. Sein eigenes Buch „Norwegen zwischen England und Deutschland“ (1956) entstand im Gedankenaustausch mit diesem Geschichtsprofessor.
Der „Altmark“-Zwischenfall (16.2.1940) verstärkte Hitlers Mißtrauen gegenüber der ehrlichen Neutralität der norwegischen Regierung. Schon im September 1939 hatte Admiral Canaris, Chef der deutschen Abwehr, den ObdM Großadmiral Dr. h.c. Raeder auf Anzeichen aufmerksam gemacht, die auf eine drohende Besetzung Norwegens durch England schließen ließen. Zur gleichen Zeit schlug Admiral Carls, Oberbefehlshaber der „Marinegruppe Ost“, vor zu überlegen, ob Deutschland einer solchen Besetzung nicht zuvorkommen und seinerseits Stützpunkte in Norwegen schaffen sollte.17 Hitler lehnte damals solche Erwägungen ab, da ihm ein neutrales Norwegen besser erschien.
In Anbetracht der Bedeutung des Erzhafens Narvik prüfte die deutsche Seekriegsleitung schließlich am 3. Oktober 1939 die Frage der Gewinnung von Stützpunkten in Norwegens, lehnte jedoch eine gewaltsame Besetzung ab.18
Am 10. Oktober 1939 stellte Raeder in seinem Vortrag Hitler die Gefahr der Besetzung Norwegens durch die Westmächte in den Vordergrund. Hitler versprach daraufhin, sich mit der Norwegen-Problematik beschäftigen zu wollen.
Nach dem sowjetischen Angriff auf Finnland (30.11.1939) begannen die Westmächte mit den skandinavischen Ländern zu verhandeln, um deren Einverständnis für den Durchmarsch zur Unterstützung Finnlands zu erwirken. Doch Norwegen und Schweden lehnten ab.
Am 11. Dezember 1939 erschienen die norwegischen Politiker Quisling und Hagelin bei Raeder, um vor der englischen Absicht auf Besetzung Norwegens zu warnen. Der ObdM informierte am nächsten Tag Hitler, der daraufhin am 14. die Bearbeitung „Studie Nord“ beim OKW befahl. Die beiden norwegischen Politiker wurden am 16. und 18. Dezember auch von Hitler empfangen.
Und ebenfalls am 16. Dezember 1939 richtete Churchill eine Denkschrift an das englische Kriegskabinett mit der kategorischen Feststellung:
Britische Beherrschung der norwegischen Küste ein strategisches Ziel erster Ordnung.“19
Gefordert wurde die Unterbindung der Erzzufuhr nach Deutschland, entsprechend vorgeschlagen die Besetzung von Narvik und Bergen. Das Kabinett beschloß daraufhin die Ausarbeitung von Plänen für die Landung in Norwegen.
Als am 27. Dezember die Alliierten im Zuge dieser Planungen den skandinavischen Regierungen „direkte oder indirekte Untertützung“ gegen eine – offensichtlich in Rechnung gestellte – deutsche Invasion anboten, wurde das Angebot von diesen abgelehnt.
Großadmiral Raeder hielt am 30. Dezember 1939 in seinem Vortrag bei Hitler die Neutralität Norwegens für die beste Lösung. Das Land aber dürfte keinesfalls in englische Hand fallen.
Das Kriegsjahr 1940 begann mit einer drohenden britischen Note an Norwegen und Schweden (6. Januar). Darin wurden „geeignete Maßnahmen“ gegen die Benutzung der Hoheitsgewässer durch deutsche Handelsschiffe einerseits sowie für das Einlaufen und Operieren britischer Streitkräfte in diesen Gewässern andererseits angekündigt. Ein solches Ansinnen stieß mit Recht in Norwegen und Schweden auf starke Ablehnung.20
Für den 13. Januar 1940 vermerkt das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung die Überzeugung des ObdM Raeder, daß die englische Besetzung Norwegens in absehbarer Zeit beabsichtigt wäre.
Am 16. Januar begannen die französischen Vorarbeiten für die Besetzung Norwegens, einen Tag später drängte Premierminister Daladier auf Besetzung (s. Telegramm an Corbin vom 17.1.40). Wiederum am 21.1.40 forderte Churchill die Neutralen auf, sich auf die Seite der Westmächte zu stellen.
Erst sechs Tage später, am 27.1.1940, befahl Hitler die Bildung eines Sonderstabes für die Bearbeitung des Planes „Weserübung“ (Deckname für die Besetzung Dänemarks und Norwegens).
Der (gemeinsame) Oberste Kriegsrat der Alliierten beschloß am 5. Februar 1940 die Entsendung englischer und französischer Truppen nach Narvik unter dem Vorwand, Hilfe für Finnland im Krieg gegen Rußland leisten zu wollen. Bei der Gelegenheit sollten aber gleichzeitig die schwedischen Erzgruben Kiruna und Gällivare sowie der schwedische Hafen Lulea besetzt werden. So teilte der englische Außenminister Lord Halifax am 6.2. Norwegen mit, England wolle sich in Norwegen Stützpunkte schaffen, „um den deutschen Erztransport von Narvik zu stoppen.“
An der Neutralität Norwegens waren inzwischen berechtigte Zweifel angebracht, denn ab Mitte Februar 1940 besichtigten englische und französische Geheimdienstoffiziere im Einvernehmen mit norwegischen Behörden geeignete Landungsstellen.
Am 16. Februar 1940 ereignete sich auf persönlichen Befehl Churchills im Jössing-Fjord, d. h. in norwegischen Hoheitsgewässern, der
Überfall auf den deutschen Dampfer „Altmark“,
wobei 7 Deutsche ihr Leben verloren. Bei diesem Dampfer handelte es sich um kein Kriegsschiff, aber die „Altmark“ hatte im Südatlantik als Troßschiff von Panzerschiff „Admiral Graf Spee“ die geretteten Seeleute versenkter feindlicher Handelsschiffe übernommen und war unbehelligt über das Nordmeer bis in norwegische Gewässer gelangt.
Im Jössing-Fjord wurde die „Altmark“ vom britischen Zerstörer „Cossack“ gestellt. Zwei ebenfalls im Jössing-Fjord liegende norwegische Torpedoboote, die der „Altmark“ und nicht etwa dem englischen Kriegsschiff gefolgt waren, gaben der deutschen Schiffsbesatzung in norwegischen Hoheitsgewässern ein Gefühl der Sicherheit. Zu unrecht, wie sich zeigen sollte.
Da rauscht, in fremdem Hoheitsgebiet, das zu befahren nur ein unbewaffnetes Schiff wie die „Altmark“ das Recht hat, der britische Zerstörer „Cossack“ heran. Mit hoher Fahrtstufe prescht er an den sich unter dem Schutz der beiden norwegischen Kriegsschiffe noch immer sicher fühlenden deutschen Dampfer heran. Aus nächster Entfernung eröffnet er das Feuer auf das deutsche Handelsschiff. Auf norwegischem Hoheitsgebiet.
Die „Cossack“ gleitet dicht an die Bordwand der „Altmark“. Wie in alten Zeiten, da noch Piraten die Meere unsicher machten, wird die „Altmark“ geentert. Die sich nicht wehrende Besatzung des deutschen Schiffes wird beschossen. Es gibt Tote und Verwundete unter den deutschen Seeleuten. Die Engländer befreien die von der „Graf Spee“ geborgenen Überlebenden, nehmen sie auf den Zerstörer über. Die „Cossack“ nimmt wieder Fahrt auf und verschwindet nach Westen.21
Erinnert sei an Daladiers erneute Forderung einer Besetzung Norwegens vom 21. Februar 1940, wobei er sich ausdrücklich auf den „Altmark“-Zwischenfall und die „norwegische Mittäterschaft“ berief.
Fortsetzung folgt
Anmerkungen:
1 Kurt Zentner: Illustrierte Geschichte des Zweiten Weltkrieges München 1963, S. 74
2 Zitiert nach Zentner, a.a.O., S. 84
3 Winston Churchill (1874-1965) war zu der Zeit Erster Lord der Admiralität und ein entschiedener Gegner der
Appeasement-Politik des Premiers Chamberlain und Deutschland feindlich gesinnt.
4 J. W. Brügel: Stalin und Hitler. Pakt gegen Europa, Wien 1973, Dok. 155, S. 148
5 Brügel, a.a.O., Dok. 160, S. 150
6 a.a.O., S. 151
7 Brügel, a.a.O.. Dok. 172, S. 157 f.
8 FAZ am 18.9.1989
9 Hermann Boehm: Norwegen zwischen England und Deutschland, 1956 S. 13
10 Die Geheimakten des französischen Generalstabes (Bd. 6), Dok. 30 „Beschlußentwurf der 6. Sitzung des obersten Rates vom 28. März 1940, S. 71
11 Ebenda, Dok. 18, S. 42
12 Ebenda, Dok. 21, S. 46
13 Ebenda, Dok. 27, S. 61
14 Dazu fällt unter III der Vorschlag: „Wie dem auch sei, die Bombardierung der Petroleumanlagen von Baku und
Batum aus der Luft könnte Deutschlands Versorgung mit Treibstoffen ganz erheblich behindern“ (S. 62)
15 Ebenda, Dok. 27, S. 63
16 Walter Hubatsch: Die deutsche Besetzung von Dänemark und Norwegen 1940, Göttingen 1952, S. 32
17 Zentner, a.a.O., S. 95 f.
18 Boehm, Norwegen zwischen England und Deutschland, S. 14
19 Boehm, a.a.O., S. 14
20 Boehm, a.a.O., S. 15
21 Zentner, a.a.O., S. 95