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Die Kette der US-Kriege – 2. Teil

Thomas Engelhardt

fährt fort mit dem 2. Teil seiner Abhandlung über die lange, nicht abreißende Kette der US-Kriege und wendet sich nun Deutschland zu – siehe Adelinde:

„Die große Masse des deutschen Volkes ist, was Ernährung, Heizung und Woh-nung anbelangt, auf den niedrigsten Stand gekommen, den man seit hundert Jahren in der westlichen Zivilisation kennt“,

schrieb der einstige US-Präsident Herbert C. Hoover nach zwei Deutschlandbesuchen im Frühjahr 1946 und Februar 1947.

Und die deutsche Ärzteschaft stellte in einer Denkschrift vom Sommer 1947 fest, daß 80% der Deutschen unterernährt seien. Zeitzeugen äußerten sich:

„Wir bekamen einen Tunnelblick, waren permanent müde und apathisch. Die Jagd auf Eßbares dominierte unser ganzes Leben“.

Das größte Problem, das die damals lebenden Deutschen hatten, war zunächst einmal die Klärung der Frage: Wo schlafen wir morgen? Wo und wie bekommen wir ein Dach über den Kopf? Und was kriegen wir morgen auf den Tisch? Bekommen wir morgen überhaupt etwas was auf den Tisch?“

Trotz der (viel zu geringen!) Nahrungslie-ferungen durch die Besatzungsmächte[1], trotz organisierter Schulspeisung und Care-Paketen aus den Vereinigten Staaten sank die Kalorienmenge im Hunger-winter weiter ab.[2]

Anfang 1947 erhielten die Bewohner in Hamburg beispielsweise nur noch 770, in Hannover 740, in Essen 720 Kalorien pro Tag – ein doppelter Hamburger Royal von MacDonalds hat heute mehr Kalorien.[3]

Die Haager Landkriegsordnung von 1907 verpflichtet die Siegermächte zur Versorgung der deutschen Zivilbevölkerung in den von den Invasionstruppen besetzten Gebieten. Wieviel Kalorien pro Tag das konkret bedeu-tet, regelt die Konvention jedoch nicht.

Berlins damaliger Oberbürgermeister Otto Ostrowski sah Parallelen in der klassischen antiken Tragödie:

„Wir haben vor unseren Augen eine bis aufs Äußerste von Kälte und Hunger ge-marterte Stadt. Wir können mit Sophokles sagen: Zu sehr leidet die Stadt schon, sie kann ihr Haupt nicht mehr erheben aus der Verzweiflung.

Ein großes Sterben ist ausgebrochen, und täglich steigt die Zahl der Todesopfer. Das ist wirklich das Schicksal Berlins in diesem langandauernden, grauenvollen Winter. Und wie im Oedipus des Sophok-les seufzt die Bevölkerung unter der schweren Last und ruft um Hilfe. Wir können nicht mehr! Helft uns, rettet uns!“

Anfang 1946 veröffentlichte die „Süddeutsche Zeitung“ ein Foto. Zu sehen war ein Tisch. Darauf verteilt: ein halber Teelöffel Zucker, ein fingernagelgroßes Stück Fett, eine Käse-portion von der Größe eines Streichholzes, ein radiergummigroßes Stück Fleisch, ein Schluck Milch und zwei Kartoffeln. Das war in jener Zeit die durchschnittliche Tagesration eines Deutschen.

Vor 1945 hatte die deutsche Landwirtschaft zu 80 % die Ernährung der Bevölkerung si-chern können (autark war Deutschland auch damals nicht), für 1946/47 wurde die Fä-higkeit zur Selbstversorgung nur noch auf 35 % geschätzt, da etwa ein Viertel der landwirt-schaftlichen Nutzflächen im Osten verloren gegangen war und darüber hinaus infolge des Kriegs die Ernte 1946/47 nur 50 bis 60 % der normalen Ernteerträge betrug. 

Wegen des Mangels an Düngemitteln und Treibstoff konnten 1947 nur noch sieben Tonnen Kartoffeln pro Hektar geerntet wer-den. Vor dem Krieg, 1937, betrug die durch-schnittliche Kartoffelernte pro Hektar noch 17 Tonnen (sic.). Ähnlich verhielt es es sich beim Weizen und Roggen. Von allem gab es zu wenig.

Kalorienverbrauchszahlen dieser Zeit allein sagen nur wenig über die wirkliche Ernäh-rungslage aus; entscheidend aber war vor allem der Mangel an tierischem Eiweiß und Fett.[4]

Abfall essen, betteln, „fringsen“ war ange-sagt- im Extremwinter 1946/47 starben Hunderttausende Menschen im besetzten Deutschland an den Folgen von Hunger und Frost. Ursache war die regelrecht arktische Kälte. Temperaturen bis zu Minus 25 °C, 40 Tage Dauerfost – der Winter 1946/47 war der härteste Winter des Jahrhunderts.

Die Opferzahl des Hungerwinters wurde nie-mals erforscht. Die Offenlegung der Zahlen konnte nicht im Interesse der Kriegssieger liegen. Die in den Besatzungszonen sta-tionierten Soldaten wurden in dieser Zeit überdurchschnittlich gut versorgt. Auch diese Tatsache wird im Gesamtzusammenhang tabuisiert.

Wie viele Menschen in der Kälteperiode vor knapp 80 Jahren an den Folgen von Mangel-ernährung und Frost starben, bleibt deshalb unklar. Laut Schätzungen waren es mehrere Hunderttausend Tote. Ein „äußerst grober und vager Richtwert, der jedoch wahrschein-lich ist“, stellte der Historiker Wolfgang Benz 2015 fest.

Zwischen November 1946 und März 1947 sanken die Temperaturen auf bis zu minus 25 Grad. Die Elbe war damals komplett vereist, der Rhein auf einer Länge von mehr als 60 Kilometern zugefroren. Damit war aber auch die Binnenschiffahrt lahmgelegt. Infolgedes-sen kollabierte die Versorgung mit Rohstof-fen und Nahrung vollständig.

Zur Ernährungskrise kam die Kohlenkrise. Kohle war nicht nur der wichtigste Rohstoff der deutschen Industrie, sondern auch un-erläßliche Voraussetzung eines funktionie-renden Verkehrs- und Transportsystems sowie wichtigster Energieträger der privaten Haushalte.

Überdies bildete die Kohle einen der we-sentlichen Posten im Export der ersten Nachkriegsjahre, obgleich ohne günstige Auswirkungen für die deutsche Wirtschafts-bilanz: Die deutsche Kohle wurde von den Alliierten streng bewirtschaftet und weit unter dem Weltmarktpreis verkauft, wobei die Erlöse nicht in Devisen, sondern nur in Reichsmark gutgeschrieben wurden.

Die Zeitzeugen jener Zeit sind nicht mehr befragbar. Die Erlebnisgeneration ist auf die andere Seite gegangen. Damals fünf- bis zehnjährige Kinder sind heute überwiegend bereits verstorben.

Und so fällt ein düsteres und trauriges Ka-pitel der jüngeren deutschen Geschichte der vollständigen Vergessenheit anheim, während ahnungslose Nachgeborene, heute zwischen 30 bis 80 Jahre alt, nur die Geschichten einer verbrecherischen Nazizeit und das Narrativ der vollständigen Judenvernichtung kennen.

Sie wissen nichts über das bittere Los ihrer Großeltern und Urgroßeltern und in der Regel sind sie so verblendet, daß sie es auch nicht wissen wollen!

Die Traumata ihrer Vorfahren aber sind un-bewußt auf die heute lebenden Generationen übergegangen. Die Deutschen sind ein in hohem Maße kollektiv traumatisiertes Volk. Folge zweier verlorener Kriege und des Hei-matverlustes von Millionen.

Dieses kollektiv erlittene Trauma wirkt bis heute fort und wird in den Familien (meist unbewußt) transformiert und an die nächste Generation weitergegeben. Diese Gegeben-heiten wurden soziologisch untersucht und sind wissenschaftlich belegt, also weder ein Gedankenkonstrukt noch eine in den Raum gestellte These.

Strittig ist lediglich das Ausmaß der Lang-zeitwirkung. Heute wächst die dritte bzw. vierte Nachkriegsgeneration auf, und man sollte annehmen, daß sich die Traumata abschwächen und vergehen. Das Gegenteil scheint der Fall.

Mit jeder neuen Generation nehmen die Übertreibungen der sogenannten Vergangen-heitsbewältiger noch zu. Das Leid der deut-schen Opfer dagegen ist so gut wie unbe-kannt.

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Anmerkungen:

[1]US-Amerikaner und Briten begannen mit Hilfslieferungen: Monate später bilanzierte der stellvertretende US-Militär-gouverneur George P. Hays aus britischer und amerikanischer Sicht: „Nahezu siebeneinhalb Millionen Tonnen Lebensmittel im Wert von über 967 Millionen Dollar wurden seit dem 8. Mai 1945 bis zum 16. Oktober 1947 auf Kosten der Steuerzahler beider Länder in die Bizone eingeführt. Und ich möchte hinzufügen, dass dies eine äußerst großzügige Behandlung ist, die Deutschland als besiegter Nation durch seine Sieger zuteilwird.“ So Hays in der damaligen Übersetzung von RIAS Berlin.

[2]Das besetzte Deutschland ist von den US-amerikanischen Hilfssendungen nach Europa kategorisch ausgenommen. Lebensmittelpakete etwa des Internationalen Roten Kreuzes dürfen ausschließlich nur an ehemalige Zwangsarbeiter, Lagerhäftlinge und befreite Kriegsgefangene der Alliierten verteilt werden. Erst nach massivem Protest vor allem von US-Amerikanern mit Verwandten in Deutschland dürfen ab Juli 1946 Care-Pakete auch in die US-Zone ver- sendet werden (jedoch nur in diese).

[3]Lit.: Alexander Häusser/Gordian Maugg: Hungerwinter. Deutschlands humanitäre Katastrophe 1946/47, Bonn 2010. Katja Iken, Caroline Schiemann, Benjamin Braden: Zeitzeugen des Hungerwinters 1946/47: „Die Moral geht zum Teufel“. Abfall essen, betteln, „fringsen“ – im Extremwinter 1946/47 starben viele tausend Menschen in Deutschland an den Folgen von Hunger und Frost. Fünf Zeitzeugen erzählen von arktischer Kälte, Diebestouren und Madensuppe.

In: Der Spiegel online, 20.02.2017 https://www.spiegel.de/geschichte/hungerwinter-1946-47-in-deutschland-das-ueberleben-nach-dem-krieg-a-1133476.html

[4]Hatte der durchschnittliche Kalorienverbrauch in Deutschland im Jahre 1936 mit 3113 Kalorien noch über der vom Völkerbund empfohlenen Norm von 3.000 Kalorien am Tag gelegen, so war er bis zum Frühjahr 1945 allmählich auf 2010 abgesunken, um 1946 bei 1451 täglichen Kalorien einen Tiefstand zu erreichen, der regional und lokal sogar noch unterschritten wurde. In der US-Zone lag der Durchschnitt bei 1564, in der französischen Zone bei 1209 Kalorien pro Kopf.

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