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Großdeutschland 6. Teil

Thomas Engelhardt

Ein kaum berücksichtigter Aspekt ist die Zahl der 1945/1946 aus den angegliederten und eingegliederten Gebieten vertriebenen Deut-schen. In der Opferstatistik bleiben diese in der Regel ungenannt.

Die nach 1945 von unterschiedlichen Insti-tutionen[1] veröffentlichten Zahlen der aus den sog. deutschen Ostgebieten[2] (korrekt: den preußischen Ostprovinzen und dem Su-detenland) vertriebenen Deutschen bezieht sich ausnahmslos nur auf den Gebietsstand Deutschlands (des Deutschen Reiches) in den Grenzen vom 31.12.1937.[3]

Ostgebiete des Deutschen Reiches:

Provinz Ostpreußen (einschl. Regierungsbe-zirk Westpreußen, ohne Memelland) 36.966 km², Provinz Schlesien (Oberschlesien und Niederschlesien, ohne die westlich der Neiße gelegenen Teile) 34.529 km², Provinz Pom-mern (Hinterpommern, Stettiner Gebiet, Swinemünde und Odermündungsgebiet) 31.301 km², Ostbrandenburg (Regierungs-bezirk Frankfurt a. d. Oder) 11.229 km², Sächsische Oberlausitz (Teilgebiet östlich derNeiße) 142 km².

In diesen Provinzen bzw. Landesteilen lebten 1945 insgesamt 9,6 Millionen Einwohner. In der Vertriebenenstatistik erscheinen in der Regel nur diese (neben den ebenfalls ver-triebenen 2,9 Millionen Sudetendeutschen und den Volksdeutschen aus Ost- und Süd-osteuropa). Gemeinhin werden in den di-versen Veröffentlichungen 13,5 Millionen vertriebene Deutsche genannt.

Die Zahl der Geflüchteten und Vertriebenen aus dem Wartheland kann nur annähernd angegeben werden. Der Warthegau wies zu Beginn des Jahres 1945 bei einer Gesamtbe-völkerung von etwa 4,3 Millionen 1,2 Mil-lionen deutsche (bzw. deutschstämmige) Einwohner auf (327.000 Alteinwohner der früheren Provinz Posen, 200.000 zugezogene Reichsdeutsche, 232.000 volksdeutsche Ver-tragsumsiedler[4] und 228.000 volksdeut-sche Administrativumsiedler[5]).

Zu diesen etwa 1 Million deutschen Ein-wohnern hinzugerechnet werden müssen mindestens ca. 200.000 in die Deutsche Volksliste eingetragene Einwohner, davon jedoch der überwiegende Teil in der sog. Volkliste III.[6]

Diese eingedeutschten bzw. rückge-deutschten (germanisierten) polnisch-sprachigen Einwohner der preußischen Altprovinz Posen und des Anschlußgebietes des Regierungsbezirks Litzmannstadt müssen als sog. „schwebendes Volkstum“ einge-schätzt werden, die in der Regel in ihren Heimatorten verblieben.

Beim Vorrücken der sowjetischen Kampf-verbände auf das Gebiet des Reichsgaues ab dem 16.01.1945 (im Verlauf der am 12.01.1945 begonnenen Weichsel-Oder-Operation)[7] geriet innerhalb weniger Tage die gesamte Wohnbevölkerung in den Mahl-strom der erbarmungslos auch gegen die Zivilbevölkerung vorgehenden Roten Armee.

Die Evakuierung der Bevölkerung des Reichs-gaues erfolgte aufgrund des raschen Vor-dringens des Feindes in der Regel zu spät und verlief in Form einer chaotischen und un-geordneten Flucht.

Die (deutsche) Bevölkerung des Warthelandes dürfte von allen von der sowjetischen Kriegs-furie erfaßten Gebieten das größte Blutopfer erbracht haben. Es wird geschätzt, daß min-destens die Hälfte der Warthegau-Deutschen Opfer der militärischen Gewalt bzw. des unmittelbar nach der Eroberung des Gebietes einsetzenden Besatzungsherrschaft wurde.

Wie hoch die Zahl der aus dem Warthegau flüchtenden Deutschen ist, die die westlich der Oder-Neiße-Linie liegenden Gebiete erreichte, läßt sich mangels statistischer Angaben nicht feststellen.

Den Abläufen im Warthegau vergleichbar waren die Abläufe im Reichsgau Danzig-Westpreußen.

Auch dieser geriet im Zuge der sowjetischen Militäroperationen im Januar in den alles vernichtenden Strudel der sowjetischen Sol-dateska, heute als „Befreiung von faschi-stischer Herrschaft“ verklärt.

 

Gedenktafeln für den Verlust der deutschen Gebiete im Osten (wiki)

Nicht zur Kenntnis genommen wird mit der gezielten Umdeutung der geschichtlichen Ereigisse, daß Stalin seine Armeen nicht im Kampf gegen „Faschisten“ oder „Nazis“ op-ferte, sondern mit dem Ziel der Durchsetzung des sowjetischen Herrschaftanspruchs in Ost- und Mitteleuropa.

Das südliche Gebiet des Reichsgaues Danzig-Westpreußen wurde im Zuge der sowjetischen Weichsel-Oder-Operation ebenfalls sehr früh von den Kampfverbänden der 2. Weißrussi-schen Front erobert und die nördlichen Teile bis Ende April 1945 vollständig besetzt.

Die Bewohner des Reichsgaues, insgesamt 2,3 Millionen, davon etwa 1,1 Millionen Deutsche[8], waren wie zeitgleich die Ein-wohner Ostpreußens und des Warthegaus unmittelbar von der Kriegsfurie betroffen.

Am 31.01.1945 verlief die Front aufgrund des Einschwenkens der Kampfverbände der Roten Armee in Richtung Ostseeküste in Ost-West-Richtung (!) quer durch das Gebiet des Reichsgaues entlang der Linie Marienwerder (bereits sowjetisch besetzt)-Weichsellinie-Graudenz-Kulm-Schneidemühl[9], am 24.02.1945 entlang der Linie Dirschau (Weichsel)-Konitz-Schlochau.

Nach harten und verlustreichen Abwehr-kämpfen waren die Verbände der Deutschen Wehrmacht bis zum 30.03.1945 auf den Küstensaum um die Städte Danzig und Zoppot und die Putziger Nehrung (Halbinsel Hela) zurückgedrängt.

In der dazwischen liegenden Zeit hatte die sich an die Küste geflüchtete Zivilbevöl-kerung unbeschreibliches Grauen erleben müssen.[10] Die genauen Opferzahlen der deutschen Wohnbevölkerung während der Flucht vor der vorrückenden Front sind mangels Zahlenmaterials kaum zu beziffern.

Mit der Abriegelung Ost- und Westpreußens infolge des Vorstoßes der sowjetischen und der polnischen Armee an die Ostseeküste[11] war der in den Raum Danzig geflüchteten deutschen Zivilbevölkerung der Ausweg nach Westen abgeschnitten und ihr Schicksal besiegelt.

Bis Ende Januar 1945 koordinierte die Kriegsmarine unter dem Befehl von Konter-admiral Conrad Engelhardt (* 1898, † 1973) den Transport von insgesamt 500.000 Flüchtlingen auf Schiffen der Kriegs- und der Handelsmarine aus Danzig, Elbing, Gotenha-fen, Hela, Königsberg, Libau, Memel und Pillau.

Am 3.03.1945 erreichte die unter Schukow stehende polnische 1. Armee unter General Poplawski bei Kolberg die Küste der Ostsee.[12] Ab dem 10.03.1945 kontrollierten die Truppen der 1. Weißrussischen Front die Ostseeküste von Köslin bis zur Odermün-dung.

Die Gauhauptstadt Danzig wurde am 23.03.1945 von den Sowjets besetzt. Danach spielten sich in der von Hundertausenden Flüchtlingen belegten Stadt unbeschreibliche Greuelszenen ab.

Ende April hielten sich noch 250.000 deut-sche Flüchtlinge auf der Halbinsel Hela sowie im Gebiet der Weichselmündung auf.

Schätzungen zufolge betrugen die Verluste der deutschen Zivilbevölkerung des Reichs-gaues Danzig-Westpreußen mindestens 50 %, d. h. von den etwa 1,1 Million deutschen Einwohnern kam infolge direkter Kriegsein-wirkungen in den Wohnorten bzw. während der Flucht in Richtung Ostseeküste bzw. nach Danzig, durch Übergriffe von Angehörigen der Roten Armee und  nach Kriegsende durch Besatzerwillkür seitens der Polen und Sowjets mehr als 500.000 ums Leben.

Diese erscheinen heute jedoch in keiner Stastistik. Niemand gedenkt dieser Opfer, nirgends existiert ein Denkmal oder Gedenkstein.

___________

Anmerkungen

[1]Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Statistisches Bundesamt, Bund der Vertriebenen, Heimatortskarteien des kirchlichen Suchdienstes  (HOK) usw.

[2]Der Begriff „deutsche Ostgebiete“ u. „Ostgebiete des Deutschen Reiches“ bzw. „Oder-Neiße-Gebiete“ wurde nach 1945 eingeführt und umfaßt die an Polen und die Sowjetunion gefallenen Gebiete der preußischen Provinzen Pommern (Hinter-pommern einschl. der ehem. Grenzmark Posen-Westpreußen), Brandenburg (Ostbrandenburg/Neumark/östliche Niederlausitz) und Ostpreußen (Nord-Ostpreußen, Masuren, Memelland). Nicht eingeschlossen sind die 1939 in das Deutsche Reich eingegliederten „Neuen Deutschen Ostgebiete“. Der nach 1945 verwendete Begriff der „deutschen Ostgebiete“ suggeriert eine Sonderstellung dieser Gebiete innerhalb Deutschlands. Eine solche Sonderstellung bestand nicht. Dagegen hatten die seit 1939 existierenden „Neuen Deutsche Ostgebiete“, insbesondere auch die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Warthegau tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb des Staatsgefüges des Deutschen Reiches (ab 1943 Großdeutsches Reich).

[3]Das von Polen und der Sowjetunion annektierte Gebiet Deutschlands umfaßt 114.267 km². Wird der Gebietsstand Deutschlands 1919/1920 zugrunde gelegt, annektierte der polnische Staat im Jahr 1945 insgesamt 166.362 km² ehemaligen deutschen Staatsgebiets [46.859 km² Posen u. westpreußisches Korridorgebiet, 1.926 km² Danzig,  3.270 km² Ost-Oberschlesien]. Das entspricht nahezu der Hälfte des Staatsgebietes der sog. „Bundesrepublik Deutschland“.

[4]Vertragsumsiedler siehe Fußn. 69.

[5]Administraivumsiedler, siehe Fußn. 72.

[6]Deutsche Volksliste III: Hier wurden im Sinne der nationalsozialistischen Volkstumspolitik auf Widerruf „zur Eindeutschung fähige Menschen“ (Eingedeutschte) erfasst.

[7]Am Angriff auf das Gebiet des Warthelandes beteiligt waren 163 sowjetische  Schützen-Divisionen der 1. Weißrussischen Front sowie Panzerbrigaden  mit 7.042 Panzern und Sturmgeschützen. Die Hauptangriffsrichtung verlief aus den Brückenköpfen an der Weichsel (beiderseits Warschaus) über Litzmannstadt in Richtung Posen.

[8]Davon ca. 280.000 Alteinwohner (ehemaliges Westpreußen), 300.000 in den östlichen Kreisen (Regierungsbezirk Marienwerder), ca. 400.000 im Raum Danzig, Zoppot und Tiegenhof, 50.000 zugezogene Deutsche aus dem Altreichsgebiet und 51.000 Neusiedler (volksdeutsche Vertragsumsiedler aus dem Baltikum).

[9]Bromberg, Thorn und Kulm waren zu diesem Zeitpunkt bereits in sowjetischer Hand.

[10]Lit.:  Hans Jürgen v. Wilckens: Die große Not. Danzig-Westpreußen 1945. Münster/Westfalen: Truso-Verlag, 1981.

[11]Am 1.03.1945 drangen sowjetische Truppen östlich von Köslin bis zur Ostseeküste vor.

[12]Am 18. März fiel auch das belagerte Kolberg in polnische Hand. Dort wiederholten an diesem Tag (sowjetisch kommandierte) polnische Truppen die „Vermählung mit dem Meer“, mit der der neugegründete polnische Staat sich 1920 symbolisch seinen Zugang zur See wiederangeeignet hatte.

Fortsetzung folgt

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Dr. Gunther Kümel.
Dr. Gunther Kümel.
1 Monat zuvor

Einige wenige Historiker beschäftigen sich mit den tatsächlichen Fakten der Vertreibung und den Opferzahlen, darunter v.a. Nawraltil und Schickel.

Nawratil bezieht die seit 1939 aus dem Reich und den volksdeutschen Gebieten Osteuropas sowie die rußlanddeutschen Vertiebenen ein und kommt auf eine Gesamtzahl von über 20 Millionen Vertriebenen, davon zumindest 3 Millionen Ermordeter und Erfrorener.

Wenn heute überhaupt noch an die Vertreibung erinnert wird (Schule ???), dann wird von „Flucht und Vertreibung“ gesprochen. Damit soll schönfärberisch unterstellt werden, an der Flucht vor den Sowjettruppen seien die Betroffenen ja wohl „selber schuld“, bzw., es sei vielleicht Schuld der Reichsregierung.
ABER:
Jeder, der sich vor der nahenden Front in Sicherheit bringen konnte, wurde an einer Rückkehr in seine Heimatgemeinde gehindert, viele haben das versucht.
Also waren die Gelüchteten automatisch Vertriebene!
Der Dummschwätz von „Flucht und Vertreibung“ ist lügenhaft und sollte sofort aufgegeben werden!

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