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Jung Chang, Wilde Schwäne

Kein Buch über China hat je mehr Leser und Anhänger gefunden als Jung Changs Erinnerungsbuch WILDE SCHWÄNE, das in 30 Sprachen übersetzt und zehn Millionen Mal verkauft wurde,

schreibt Amazon 2005.

Jung Changs Erfolge beruhen auf der Authentizität und Lebendigkeit ihrer Darstellungen.

In ihrem Werk „Wilde Schwäne“ erleben wir am Schicksal einer chinesischen Familie in mehreren Generationen geradezu hautnah mit, was die politischen Umbrüche im China des 20. Jahrhunderts den Menschen zugemutet haben.

Als sie zwei Jahre nach Maos Tod als vermutlich erste Person seit 1949 aus der Provinz Sichuan in den „Westen“, nach London, ausreisen durfte, um dort – immer noch unter strenger Abschottung und Kontrolle durch chinesische Funktionäre – zu studieren, fielen ihr als erstes das Grün und die Blumen in der britischen Hauptstadt auf.

Mao hatte 1964 angeordnet, Chinas Städte von solchen „feudalistischen“ und „bourgoisen“ Überlieferungen zu säubern.

Es war nicht seine erste und auch nicht seine letzte Anordnung gewesen, China in Häßlichkeit zu stürzen und es seiner überlieferten Kultur zu berauben. So wurde Jung Chang bei ihrem ersten Spaziergang im Hyde Park über die dortige Schönheit

vor Freude fast verrückt.

Das zweite, was ihr in England sofort ins Auge fiel und sie zutiefst beeindruckte, war,

daß es eine wunderbare, klassenlose Gesellschaft war. Ich bin in eine kommunistische Elite hineingeboren worden und erlebte,

wie klassenbewußt und hierarchisch Maos China war.

Jeder wurde in ein strenges Raster gepreßt. Auf jedem Formular befand sich neben „Geburtsdatum“ und „Geschlecht“ der unvermeidliche Punkt „Familienhintergrund“. Das bestimmte die Karriere, die Beziehungen und das Leben eines jeden … denjenigen, die in eine „schlechte“ Familie hineingeboren wurden, (war) ein von vornherein ruiniertes Leben vorbestimmt.

Das Ergebnis dieser schrecklichen Realität war, daß wir alle davon besessen waren, wer aus welcher Familie stammte …

In London … schienen (alle) gleichgestellt, und der Familienhintergrund war das Letzte, für das man sich interessierte … Trotz einer Tradition der Klassenunterschiede besitzt jeder in England Würde, und die sozial Schwachen werden nicht mißhandelt und unterdrückt, wie sie das unter Mao wurden.

Das muß sich allerdings inzwischen sehr verändert haben nach dem, was wir heute aus England hören. 1978 mag Jung Changs Urteil noch zugetroffen haben. In Tottenham wird man damals noch nicht wie heute

in 39 Sprachen aneinander vorbeigeredet

haben, wie ein Kommentator in der Elbe-Jeetzel-Zeitung schrieb.

Die junge Studentin war aus einer Welt von unermeßlichem Leid gekommen,

das zu ertragen für Westler, insbesondere Engländer, unvorstellbar war. Daher mußten in deren Augen Chinesen „nicht dieselben menschlichen Wesen“ sein wie sie.

Als in einer Gesprächsrunde ein Professor, eben aus China zurückgekehrt, Dias von einer chinesischen Schule gezeigt hatte mit Kindern „an einem offensichtlich sehr kalten Wintertag … in Klassenräumen ohne Heizung, dafür aber mit zerbrochenen Fensterscheiben“, fragte jemand: „Frieren sie nicht?“ Und als „der freundliche Professor“ verneint und eine Frau daraufhin, zu Jung Chang gewandt, gemeint hatte: „Es muß Ihnen hier sehr warm sein“, verließ die Chinesin abrupt den Raum und weinte, überwältigt vom Schmerz um ihre Heimat, deren unsagbare Leiden von der Außenwelt relativiert wurden, weil die anders nicht fähig gewesen wäre, sich vorzustellen, welches Maß an Grausamkeit das chinesische Volk erduldet hat.

Da faßte die Autorin den Entschluß, über ihr vergangenes Leben ein Buch zu schreiben: „Wilde Schwäne“. Der Untertitel „Drei Frauen in China von der Kaiserzeit bis heute“ läßt kaum erwarten, daß sogar vier Generationen – auch mit Vätern und Brüdern – vorgestellt werden.

Gerade das Schicksal der Urgroßmutter, die als Mädchen, 1888 geboren, nicht einmal wert war, einen Namen zu bekommen und nur „Mädchen Nummer zwei“ hieß, weist auf die 2000-jährige Geschichte chinesischer Leiden hin, die im 20. Jahrhundert in anderer Verkleidung wiederholt wurden, verstärkt aber und diesmal das gesamte Volk, nicht nur die Frauen, betreffend.

2000 Jahre Erfahrung mit Herrschaft und Unterdrückung,

Befehl und Gehorsam, rücksichtsloser Vorteilsnahme hatten zu verbreiteter Gefühllosigkeit dem Mitmenschen gegenüber geführt. Die Urgroßmutter jedenfalls betete eines Tages zu Buddha, sie im nächsten Leben als Hund oder Katze wiedergeboren werden zu lassen, aber bitte nicht wieder als Frau.

Ihrer Tochter Yu-fang, der Großmutter der Autorin, brach sie dennoch brutal die Füße und wickelte sie ein, waren doch klein erscheinende Füße die Voraussetzung dafür, an einen wirtschaftlich einigermaßen gutgestellten, angesehenen Ehemann verheiratet zu werden. Eingeschränkte Bewegungsfähigkeit war die weniger triste Zukunftsaussicht für ein Mädchen. Die Mutter tat also das Bestmögliche für die Tochter.

Die hatte dann 1924 mit 15 Jahren die „Ehre“, als Konkubine an einen geschäftstüchtigen, reichen General und Polizeichef „der Regierung eines Kriegsherrn in Beijing“ verkuppelt zu werden.

In Einsamkeit, Tatenlosigkeit und geistiger Öde verbrachte die hochintelligente Frau ihre Jugendjahre, bis sie mit ihrer Tochter, der Mutter der Autorin, schwanger wurde. Die wurde 1931 geboren und erhielt später den Namen De-hong, „Wilder Schwan“. Für die Großmutter bedeutete das Töchterlein zunächst einmal Erlösung aus dem Nichts ihres bisherigen Daseins. Welche Schrecken ihr zukünftiges für sie bereit hielt, ahnte sie glücklicherweise nicht.

„Wilder Schwan“ hatte ihren Namen zurecht erhalten.

Sie zeigte schon früh eine bemerkenswerte Furchtlosigkeit, die Voraussetzung dafür, ein Leben stark und mit Anstand durchzustehen, an dem Millionen andere zerbrachen. Sie warf sich begeistert in den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, den sie bei den Kommunisten vermutete, wurde aber alsbald brutal vor rätselhafte Anforderungen gestellt, deren Sinn sie nicht begriff.

Immer wieder unterlief ihr der „Fehler“, die Sorge – anstatt für die Partei – für die Angehörigen „an die erste Stelle zu setzen“. Ihr um 10 Jahre älterer prinzipientreuer Ehemann, ebenfalls Kommunist und bereits hoher Funktionär der Partei, belehrte sie dann:

Die Revolution ist noch nicht gewonnen, der Krieg geht weiter. Du hast die Regeln verletzt. Man muß seine Fehler eingestehen. Die Revolution erfordert von allen die strikte Einhaltung der Regeln. Man muß der Partei gehorchen, auch wenn man ihre Anweisungen nicht versteht oder sie für unsinnig hält.

So lehnte er strikt ab, den Angehörigen seiner Familie beizustehen. Es hätte nach „Begünstigung“ und „Vetternwirtschaft“ aussehen können, und „Kommunist zu werden, sei ein schmerzhafter Prozeß“, den es auszuhalten galt, um abgehärtet zu werden.

Beispielsweise ließ er seine noch nicht als Vollmitglied in die Partei aufgenommene Frau auf ihrem „langen Marsch“ von über 1000 km von Jinzhou in der Mandschurei nach Nanjing mit der Bettrolle auf dem Rücken über Gebirge steigen und durch reißende Flüsse waten, während er es für sich als Höhergestelltem für schicklich hielt, im Jeep nebenher zu fahren.

Auch als sie erschöpft in einem Fluß strauchelte und beinahe ertrunken wäre, erlaubte er ihr nicht, ins Auto zu steigen.

Es ist nur zu deinem Besten,

versicherte er ihr.

Du hast die Wahl: entweder ins Auto oder in die Partei. Beides geht nicht.

Das sah sie ein. Denn noch brannte sie darauf, Parteimitglied zu werden. Zuviel bedeutete ihr zu der Zeit noch die Revolution.

Die verbissene Unerbittlichkeit ihres Mannes allerdings ging ihr oft zu weit und entfremdete sie einander. Ihn selbst trieb später, als er die Revolution im Sumpf von Unmoral und Absurdität untergegangen sah, die Reue über sein Verhalten um.

An die Stelle des „Familienoberhauptes“ war die Partei getreten,

erklärt Jung Chang. Das blinde Gehorchen setzte sich in China also bruchlos von der Kaiserzeit in die Zeit Maos fort. „Die Partei hat immer recht“,  wurde als Richtschnur anstandslos hingenommen.

Daß niemand einen Schritt ohne die Erlaubnis der Partei tun durfte, wurde ein wesentliches Element der kommunistischen Herrschaft in China.

Im Laufe der Zeit verlernten die Menschen jegliche Eigeninitiative.

Mao erreichte überdies, daß das ganze riesige, zudem rasant anwachsende

Volk der Chinesen immer tiefer in die Angst getrieben

wurde vor den Menschen im eigenen Land, im eigenen Lebenskreis. Wer heute auf der „richtigen“ Seite gestanden und andere verfolgt, gefoltert und getötet hatte, wurde morgen zum Feind erklärt und selbst gefoltert.

Nicht nur, weil eine in ihnen schlummernde Bereitschaft zur Bestialität geweckt war, machten so viele mit, sondern schon allein aus Angst, als regimefeindlich zu gelten und bestraft zu werden, also auf Kosten des Anderen die eigene Haut zu retten.

Diese Erfahrungen im Blick, ging den Menschen jegliches Vertrauen zueinander verloren.

Wir wurden ein Volk von Lügnern … viele Menschen (waren) unfähig, etwas Gutes zu denken. Sie reagierten wie Automaten …

Den Tiefpunkt menschlichen Wahnsinns bildete die „Kulturrevolution“ in China.

Alles „Alte“ sollte vernichtet, jegliche Autorität – außer der des „Gottes“ Mao – untergraben werden.

  • So griffen Schüler die Lehrerschaft an und verjagten sie,
  • rissen marodierende Banden die Altstädte nieder,
  • zerstörten Tempel und Kulturschätze aller Art
  • und vernichteten ganze Bibliotheken,

so daß das chinesische Volk von seinen kulturellen Wurzeln und den Weisheiten seiner Vorfahren abgeschnitten wurde. Wer wie der Vater Jung Changs sich einen eigenen Buchbestand erworben hatte, sah sich genötigt, ihn zu verbrennen. Für den Vater war das der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte: Er landete mit Schizophrenie in der Irrenanstalt.

In dieser Welt wuchsen seine und der Mutter „Wilder Schwan“ fünf Kinder auf. Die Autorin wurde 1952 als zweites Kind geboren und erhielt den Namen Jung, „Zweiter Wilder Schwan“. Ihr jüngster Bruder erhielt den Namen Xiao-fang, „Gleich dem Wilden Schwan“. So erklärt sich der Titel des Buches.

In den Revolutionswirren – die Mutter saß von 1955 bis 1956 im Gefängnis – konnten sich die Eltern um ihre Kinder nicht kümmern. Sie wurden ins Heim gesteckt, jedes in ein anderes. Sie litten schwer, entwickelten sich aber später zu aufgeweckten, warmherzigen Menschen, die zueinander und zu den Eltern hielten, auch als das für sie die Zukunft kosten konnte.

Denn während der „Kulturrevolution“ ab 1966 wurden beide Eltern als „Klassenfeinde“ jahrelang getrennt voneinander in Straflagern festgehalten.

Kinder, die sich von solchen Eltern nicht lossagten, stürzten sich sehenden Auges ins eigene Unglück.

Doch die „Kulturrevolution“ hatte bereits zu einer gewissen Einebnung des Kinderglücks geführt: Für sie alle gab es sechs Jahre lang keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen.

Ohnehin stellten Maos rote „Bibel“ und die „Volkszeitung“ die einzig noch verbliebene Literatur dar!

Als sich China nach Maos Tod mehr und mehr der Welt öffnete,

zogen die fünf Kinder es vor, ins westliche Ausland auszuwandern und damit ihrem geschundenen Land den Rücken zuzukehren, in dem Mao

humanitäre Gedanken als „bürgerliche Scheinheiligkeit“ verurteilt (hatte und so viele) Menschen sich in Ungeheuer verwandelt hatten.

Jung Chang (Wikipedia)

Der ältesten Tochter allerdings wurde zu ihrem größten Leidwesen als verheirateter junger Frau die Ausreise verwehrt.

  • Jung wurde in London Ärztin und Schriftstellerin;
  • ihr ältester Bruder Jin-ming „international anerkannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Festkörperphysik“ an der Universität Southampton;
  • der zweite Bruder Xiao-hei nach der Zeit bei der Luftwaffe Journalist in London;
  • der dritte Bruder Xiao-fang betreibt nach dem Studium der Internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Straßburg eine eigene Firma in Frankreich.

Immer wenn Jung Chang ihre Mutter in China besuchte

– der Vater war 1975, ein Jahr vor Mao, gestorben –, war sie

wieder überwältigt, wie sehr etwas abgenommen hatte, was unter Mao unser ganzes Leben bestimmt hatte: die Angst.

Das wurde den Demonstranten für Demokratie 1989 auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ allerdings zum Verhängnis. Was sie nicht mehr erwartet hatten, wurde ihnen und der Welt vorgeführt:

Auch das nachmaoistische Regime war bereit, Regimegegner rigoros zu vernichten.

Etwa 3000 Freiheitskämpfer und -kämpferinnen des eigenen Volkes ließ es auf dem Tiananmenplatz niedermachen.

Mao, der unübertroffene Meister der Intrige und Zerstörung,

der größte Massenmörder aller Zeiten – 70 Millionen in „Friedens-“Zeiten verhungerte und ermordete Chinesen gehen auf sein Konto –, schaut dort – wie an unzähligen anderen Plätzen in China – noch heute auf die vorübergehenden Menschen herab!

Das Buch – spannend, aufwühlend und erkenntnisreich von der ersten bis zur letzten Seite, von Andrea Galler und Karlheinz Dürr aus dem Englischen in flüssig zu lesendes, gutes Deutsch übersetzt – kann ich als Lektüre nur wärmstens empfehlen.

Ihre Werke sind in der Volksrepublik China verboten!

berichtet Wikipedia.


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