Stammen die „19 Punkte zur Versklavung der Völker“ von Karl Marx?

Horst Dahlke

hat sich die Mühe gemacht, im Weltnetz nach der Quelle zu suchen. Folgen wir seiner Spur! Er schreibt:

Auf zahlreichen Seiten im weltweiten Netz werden „19 Punkte, die Karl Marx zur Versklavung der Völker empfiehlt“, aufgelistet, so z.B. auf der Seite „Morbus Ignorantia – Krankheit Unwissen“ (1) Sie lauten:

1. Die Jugend durch falsche Grundsätze verderben

2. Die Familien zerstören.

3. Die Menschen durch eigene Laster beherrschen.

4. Die Kunst entweihen und die Literatur beschmutzen.

5. Die Achtung vor der Religion vernichten.

6. Priester in Skandalgeschichten verwickeln.

7. Grenzenlosen Luxus und verrückte Moden einführen.

8. Misstrauen zwischen sozialen Schichten säen.

9. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverhältnisse vergiften.

10. Das Volk gegen die „Reichen“ aufwiegeln.

11. Die Landwirtschaft durch Industrie ruinieren.

12. Löhne ohne Vorteil für die Arbeiter erhöhen.

13. Feindseligkeit zwischen den Völkern hervorrufen.

14. „Ungebildete“ regieren lassen.

15. Gestrauchelte Regierungsbeamte erpressen.

16. Vermögenschluckende Monopole schaffen.

17. Durch Wirtschaftskrisen Weltbankrott vorbereiten.

18. Massen auf Volksbelustigungen konzentrieren.

19. Menschen durch Impfgifte gesundheitlich schädigen.

Als Quelle wird stets „Katalog-Nr. 3926 im britischen Museum London“ genannt.

So erfreulich grundsätzlich eine Quellenangabe ist, so ungewöhnlich ist die Art der Angabe in diesem Fall.

Üblicherweise enthält eine Quellenangabe

  • den Autor,

  • den Titel,

  • das Jahr der Veröffentlichung,

  • ggf. auch den Zeitschriftenband, wenn es sich um einen Zeitschriftenartikel handelt.

Die Angabe der Katalognummer einer Bibliothek ist dagegen sehr ungewöhnlich.

Ganz selten werden auf den vielen einschlägigen Netzseiten auch Zweifel an der Echtheit der Quelle geäußert. Auf der Seite „gloria.tv“ schreibt z.B. der Leser „Zaunreiter“:

„Lieber Autor, ich habe über das Dokument etwas recherchiert. Das darfst Du natürlich auch. Suche doch bitte im britischen Museum das Dokument. https://bmus.ent.sirsidynix.net.uk/client/en_US/default/search/results?qu=3926&te=&lm=ALL.

Leider gibt es das Dokument nicht!

Aber vielleicht findest Du es ja. Das würde mich sehr freuen für Dich. Allerdings gibt es da überhaupt kein Dokument von Karl Marx, auch nicht von Marx, Karl. Ich habe als Beweissicherung Screenshots angefertigt. Die stelle ich bei Bedarf zur Verfügung.“

Der Leser „Zaunreiter“ hält das Dokument für „Lug und Betrug“. Wie kam er zu seinem Urteil? Er hatte auf der Netzseite des Britischen Museums im Onlinekatalog die Ziffer 3926 eingegeben und daraufhin 1107 Treffer erhalten.

Wie er angesichts dieser Trefferzahl zu seiner Aussage kommt, es gäbe dieses Dokument nicht, ist allerdings nicht ganz klar. Er hat sicherlich nicht alle 1107 Treffer angeklickt und schon gar nicht alle 1107 Publikationen ausgeliehen und durchgelesen (sofern das überhaupt technisch und organisatorisch möglich wäre).

Genau das wäre aber nötig, da aus der Katalognummer 3926 nicht hervorgeht, ob es sich um eine Primärquelle, also ein Schriftstück von Marx selber handelt oder nur um eine Sekundärquelle, in der Marx zitiert wird (auch wenn man spontan ersteres vermuten würde).

Die Online-Suche auf der Seite des Britischen Museums bietet jedoch auch die Möglichkeit, aus einer Liste Autoren auszuwählen und deren Titel im Bestand aufzulisten. In dieser Liste fehlt Marx tatsächlich. Darauf gründet sich vermutlich die Aussage von „Zaunreiter“, es gäbe gar keine Dokumente von Marx im Bibliotheksbestand.

Es gibt jedoch noch eine andere Möglichkeit nach Autoren zu filtern. Gibt man dann „Karl Marx“ in Anführungszeichen ins Suchfeld ein, erhält man 33 Treffer. Darin sind aber auch Quellen von Institutionen, die nach Karl Marx benannt sind, z.B. die Karl-Marx-Universität Leipzig, enthalten.

Es sind außerdem viele Bücher dabei, die nicht nur Texte von Marx umfassen. Alles in allem wäre es auch bei dieser geringeren Trefferzahl eine Zumutung, diese ganzen Quellen auf der Suche nach den 19 Punkten zu beschaffen und durchzulesen.

Auf den ersten Blick gibt jedenfalls keiner der Treffer zu erkennen, daß er diese 19 Punkte enthält.

Dies alles zeigt, wie unsinnig die Angabe der Katalognummer statt einer ordentlichen Quellenangabe ist.

Inhaltlich macht auch der Punkt 19 „Menschen durch Impfgifte gesundheitlich schädigen“ mißtrauisch.

Marx wurde 1818 in Trier geboren und starb 1883 in London.

Er hätte damit die Anfänge der ersten Impfversuche, die gegen die Pocken gerichtet waren, noch kennenlernen können. Laut Wikipedia gab es in Europa erste Impf-Erfahrungen Mitte des 18. Jahrhunderts.

„Der Arzt Jean de Carro hatte als erster 1799 die Impfung auf dem europäischen Kontinent durchgeführt. Diese erste moderne Art der Impfung gegen die Menschenpocken wurde rasch in Europa aufgegriffen.“

Erste nationale Impfprogramme begannen aber erst Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Pockenimpfung wurde 1867 in England und 1874 im Deutschen Reich eingeführt. Eine kurze Weltnetz-Suche ergibt jedoch keinerlei Hinweise, daß sich Marx irgendwann mit dem Impfen auseinandergesetzt hätte und wie er die Einführung der Pockenimpfung beurteilt hat.

Interessanterweise findet man keine englischsprachigen Seiten mit den 19 Punkten.

Ob dies daran liegt, daß der tatsächliche Erfinder der Punkte aus Deutschland kommt und es in Deutschland besonders viele Impfgegner gibt?

Aus der Angabe „Katalog-Nr. 3926“ geht nicht hervor, ob es sich bei den zitierten 19 Punkten um die wörtliche Wiedergabe einer schriftlichen Aussage von Marx handelt. Dies erscheint aber eher unwahrscheinlich.

Auch wenn man im Marx‘schen Schrifttum nicht bewandert ist, dürfte die Wortwahl und der Sprachstil eher zum 21. als zum 19. Jahrhundert passen. Nach diesen Überlegungen erscheint es eher als zweifelhaft, daß Karl Marx (wörtlich oder sinngemäß) diese Liste der 19 Punkte erstellt hat und es ist unwahrscheinlich, daß es tatsächlich ein Dokument mit diesem Inhalt im Britischen Museum gibt.

Dieser Schlußfolgerung steht nicht entgegen, daß viele der genannten Punkte tatsächlich geeignet sind, ein Volk zu zerstören und daß viele dieser Maßnahmen auch tatsächlich von verschiedenen Gruppen angewendet wurden und werden.

Dem steht auch nicht entgegen, daß gerade der Marxismus hervorragend geeignet ist und auch tatsächlich dazu gedient hat, Völker zu zerstören.

Dies ist für aufmerksame Beobachter der Weltgeschichte offensichtlich. Gerade wegen dieser Offensichtlichkeit besteht aber die Gefahr, die Liste, ohne sie gründlich zu prüfen, für wahr zu halten, weil sie grundsätzlich „ins Bild paßt“.

Andererseits übersteigt es natürlich die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen, alles, was er liest und hört, zuerst auf Herz und Nieren zu prüfen, bevor er es sich zu eigen macht. Selbst eine solche kurze Netzrecherche ist aufwendig genug. Wie soll man also mit diesem grundsätzlichen Problem umgehen?

Im „Skeptiker. Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken“ (3) werden fünf Fragen genannt, die man sich stellen kann, um eine Quelle oder Aussage zu beurteilen:

(1) Wer behauptet etwas und wie vertrauenswürdig ist die Quelle?

(2) Gibt es noch andere unabhängige Quellen, die das gleiche aussagen?

(3) Stimmt die Argumentationskette? Besteht eine Behauptung aus einer Kette von aufeinander aufbauenden Argumenten, so muß jedes Argument für sich stichhaltig sein, sonst bricht die Argumentation auseinander.

(4) Gibt es alternative Erklärungen für eine Behauptung? Es hat sich bewährt, als Arbeitshypothese zunächst von der einfachsten Erklärung auszugehen, ehe man neue, unbekannte Vorgänge als Erklärung heranzieht.

(5) Handelt es sich bei einem behaupteten Zusammenhang um einen zufälligen Zusammenhang (Korrelation) oder um eine ursächliche Beziehung? Ein Beispiel: Je mehr Störche in einer Stadt nisten, desto mehr Kinder werden dort geboren. Das ist richtig, aber deshalb bringt der Storch noch lange nicht die Kinder. In einer großen Stadt leben mehr Störche, aber eben auch mehr Menschen und damit ist die Wahrscheinlichkeit, daß mehr Kinder geboren werden auch größer!

Angewendet auf unseren Fall, wäre die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Quelle mit „sehr gering“ einzustufen.

Es sind in keinem Fall wissenschaftliche Netzseiten.

Die zweite Frage ist oberflächlich betrachtet mit einem „Ja“ zu beantworten. Man findet tatsächlich nicht nur eine, sondern viele Netzseiten, die wortwörtlich die gleichen 19 Punkte auflisten und die gleiche Quelle nennen.

Da es ja scheinbar eine eindeutige Quelle, nämlich die Katalog-Nr. 3926 im Britischen Museum, gibt, erübrigt sich auch für die meisten Seitenbetreiber die Angabe, von wem sie die Liste abgeschrieben haben.

Es ist daher nicht festzustellen, wer der erste war, der sie veröffentlichte.

Abwegig erscheint jedoch der Gedanke, daß alle unabhängig voneinander die Originalquelle im Britischen Museum gefunden hätten. Wären die Eigentümer der Netzseiten tatsächlich unabhängig voneinander auf die Liste gestoßen, dann hätte zumindest einer darunter sein müssen, der genaueres über das Dokument, das sich hinter der genannten Katalognummer verbirgt, zu berichten weiß.

Damit sind auch die zwei Hauptkettenglieder der Geschichte ziemlich brüchig: Die Existenz der Liste im Museum ist sehr fraglich, und für die Urheberschaft von Karl Marx gilt dasselbe.

Der Hauptgrund für den erstaunlich großen Verbreitungsgrad der Liste dürfte in der Tatsache liegen, daß mit den 19 Punkten bei gegenwartskritischen Beobachtern offene Türen eingerannt werden und damit die kritische Distanz leidet.

Die Kritikfähigkeit wird außerdem durch eine auf den ersten Blick seriösen Quellenangabe geschwächt. Eine Katalognummer ist eine exakte Angabe und das Britische Museum eine weltweit angesehene, wissenschaftliche Einrichtung. Gleichzeitig ist es aber gerade die völlig unübliche Angabe einer Katalognummer als Quelle, die sofort mißtrauisch machen sollte.

Das Internet ist Segen und Fluch zugleich.

Trotz aller Zensurbestrebungen ist es noch immer eine Fundgrube für Wissen aller Art und eine Möglichkeit, vorbei an gesteuerten Massenmedien, vielen Menschen wichtige Kenntnisse zu vermitteln.

Allerdings ist es im Netz noch wichtiger, sich kritische Fragen zu stellen, da die Gefahr, auf Unsinn zu stoßen, viel größer ist als bei gedruckten Medien.

Ins Netz stellen kann jedermann seine Gedanken, ohne großen Aufwand.

Damit ist es ein Leichtes, seinen politischen Gegner auf falsche Fährten zu locken, um ihn anschließend als unglaubwürdig bloßzustellen.

Quellen:

  1. https://morbusignorantia.wordpress.com/2016/08/26/neue-weltordnung-19-punkte-die-karl-marx-zur-versklavung-der-voelker-empfiehlt/).

  2. https://gloria.tv/post/KgR4GuMFCxN9478vBWtoJthRj

  3. Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken (3/2019), S. 135