Rolf Hochhuths bedeutsamstes Bühnenwerk “Soldaten” totgeschwiegen!

Der Historiker Gerhard Bracke* würdigt

das Werk Rolf Hochhuths „Soldaten“

 

Rolf Hochhuth (Bild: Chrismon-Evangelisch.de)

Seinen Nachruf auf den am 13. Mai 2020 im Alter von 89 Jahren verstorbenen Dramatiker Rolf Hochhuth faßte Thorsten Hinz unter der aussagekräftigen Überschrift „Ein entschiede-ner Moralist“ zusammen.

Daß Hochhuth 1963 mit seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ einen Welterfolg erzielte, daran wurde in sämtlichen Nachrufen selbst-verständlich gebührend erinnert.

 

Papst Pius XII. (Bild: Die Welt.de)

Das in 16 Sprachen übersetzte und in 25 Ländern aufgeführte Stück thematisiert die unverständliche Haltung des römischen Pap-stes Pius XII. in der Frage der nationalsoziali-stischen Judenverfolgung, sein Schweigen zur Judenvernichtung während des Krieges.

Allerdings mußten am Premiereabend in New York Hunderte von Polizisten die Aufführung schützen, als die Empörung dem „Antichri-sten“ Hochhuth galt.

Thorsten Hinz weist darauf hin, der

„ungeheuer belesene und in historischen Detailfragen bewanderte“ Autor habe „eine Fülle Theaterstücke und literari-scher Texte nach dem erprobten Skan-dalrezept verfertigt“.

Auf der anderen Seite beweise sein „de-tailversessenes Dokumentar-Theater“, daß Hochhuth kein Opportunist, „viel-mehr auf eigene Weise ein Freigeist war“, der dem britischen Historiker David Irving, mit dem ihn ein persönliches Verhältnis verband, viele Anregungen zu verdanken hatte.

Er nannte Irving in einem Interview mit der „Jungen Freiheit“ 2005 einen „fabel-haften Pionier der Zeitgeschichte“, was ihm von verschiedenen Seiten heftige Kritik einbrachte.

Es fällt auf, daß dem nur vier Jahre später uraufgeführten Drama

„Soldaten“ – „Nekrolog auf Genf – Tragödie in freien Rhythmen“

heute kaum noch Aufmerksamkeit gewidmet wird. Allenfalls wurde nach Hochhuths Tod der Titel kurz erwähnt, ohne auch nur anzu-deuten, wieviel mehr an Sprengstoff dieses Stück damals freisetzte.

Schließlich geht es um eine den „Stellvertreter“ weit übertreffen-de welt(kriegs)geschichtliche Di-mension,

mit der wir uns einmal näher beschäftigen sollten.

Die am 9. Oktober 1967 an der Freien Volksbühne Berlin uraufgeführte Tragödie „Soldaten“ befaßt sich mit zwei durch die Person des einstigen britischen Kriegspre-miers Winston Churchill verknüpften Themen: die fehlende internationale Luftkriegsord-nung zum Schutz der Zivilbevölkerung einer-seits und dem mysteriösen „Unfalltod“ des polnischen Generals und Exilpräsidenten Wladislaw Sikorski andererseits.

Wir beginnen in dieser Adelinde-Folge mit dem Teil-Thema

Luftkrieg gegen Hamburg: „Operation Gomorrah“.

Wikipedia:

Operation Gomorrha … war der militäri-sche Codename für eine Serie von Luft-angriffen, die vom Bomber Command der Royal Air Force (RAF) und der Eighth Air Force der USAAF im Luftkrieg des Zwei-ten Weltkriegs vom 24. Juli bis zum 3. August 1943 auf Hamburg ausgeführt wurden.

Es waren die bis dahin schwersten in der Geschichte des Luftkrieges. Begünstigt durch besondere Witterungsbedingungen entfachten die Flächenbombardements insbesondere in den östlichen Stadtteilen einen verheerenden Feuersturm, dem schätzungsweise 34.000 Menschen zum Opfer fielen.

Die Darstellungen Hochhuths über den Luftkrieg gegen die Hansestadt Hamburg sind allerdings mit denen des Schicksals Sikorskis verquickt. Dessen Lebensdaten entnehmen wir Wikipedia:

Władysław Eugeniusz Sikorski (* 20. Mai 1881 in Tuszów Narodowy bei Mielec, Galizien/Österreich-Ungarn, heute Polen; † 4. Juli 1943 bei Gibraltar) war ein pol-nischer Offizier, Oberbefehlshaber, Staatsmann, Politiker und in den Jahren 1922 bis 1923 polnischer Ministerprä-sident sowie 1939 bis 1943 Minister-präsident der Polnischen Exilregierung.

 

Wladislaw Sikorski (Bild: Wikipedia)

Nun weiter bei Bracke:

Dieser (Sikorski) war nach dem Bruch mit der UdSSR und dem Genossen Stalin aufgrund der Entdeckung der Leichenfunde bei Katyn durch einen Flugzeugabsturz am 4. Juli 1943 ums Leben gekommen.

 

EKSHUMOWANE CIALA POLSKICH OFICEROW W KATYNIU. KATYN, 1943. ADM

Sikorskis Verhängnis bestand in dessen Forderung, mit der Auf-klärung des offenkundig sowje-tischen Massenverbrechens, der Erschießung Tausender polni-scher Offiziere im Wald von Katyn, von den Deutschen kürz-lich entdeckt, das Internationale Rote Kreuz zu befassen.

Damit war das Bündnis der sog. Anti-Hitler-Koalition ernsthaft gefährdet, und deren Zerfall galt es auf alle Fälle zu verhindern.

Die 1967 im Rowohlt-Verlag erschienene Paperback-Ausgabe der „Soldaten“ zeigt als Titelbild eine rotgetönte Ansammlung von Fliegerschirmmützen unterschiedlicher Nationalitäten mit der Schwarz-weiß-Foto-graphie, am unteren Ende wie hinter einem Vorhang sichtbar, einer durch Hyperthermie mumifizierten Frauenleiche.

Dieses Opfer des Feuersturms von Dresden im Februar 1945 findet sich ebenso auf Seite 20 ganzseitig abgebildet, denn „dieses sehr reale Foto“ „steht riesig wie die Trümmerfas-sade [der Kathedrale von Coventry] im Büh-nenbild „der durch Feuerwind mumifizierte SCHÄDEL, dem unerklärbarerweise sein Haar geblieben ist, die sitzende Tote auf einer Straße in Dresden“:

„Die Frau saß da, wie sie die Hitze hin-geworfen hatte, die Glut des einkrei-senden Feuerwindes, Augen und Fleisch herausgeschmolzen, nur ihr Nasenbein, unerklärbar, war noch bedeckt mit Haut, wie imprägniert. Und ihr Haar war erhal-ten.“

Zwar wurde die Zerstörung der Barockstadt Dresden 1945 zum symbolischen Höhepunkt der brutalen Flächenbombardements, doch Hochhuth läßt die Tragödie der „Soldaten“ mit dem Szenenbild der 1940 von der deutschen Luftwaffe zerstörten Kathedrale von Coventry beginnen.

Allerdings unterschlägt der Regieeinfall kei-neswegs die heute üblicherweise übergan-genen Tatsachen:

„Im November 1940 errichteten deutsche Kampfflugzeuge hier ein Hitler-Denkmal, als sie während des Angriffs auf das Zen-trum der englischen Flugzeugmotorenin-dustrie auch den Dom einäscherten und dreihundertachtzig Zivilisten umbrach-ten.“ (S. 11)

Coventry, Rotterdam oder auch Guernica die-nen hier nicht zur „Aufrechnung“, denn die deutschen Luftangriffe in diesen Fällen sind keineswegs mit den Terrorangriffen auf Lü-beck, Hamburg oder Dresden vergleichbar.

Aber alle zivilen Opfer solcher Angriffe ma-chen eben deutlich:

„Es gibt ein Seekriegsrecht, es gibt ein Landkriegsrecht – ein LUFTkriegsrecht jedoch ist nicht da.“ (S. 12)

Hochhuth verschweigt in seinem Stück auch nicht die Tatsache, daß sich die deutsche Reichsregierung 1936 für ein Luftkriegsrecht in Genf einsetzte, aber am Widerstand Eng-lands scheiterte.

Der „Wegmerzung der Bevölkerungszentren im Lager des Gegners“ (S. 23), auf die die bri-tische Langstreckenbomberkonzeption seit Mitte der 30er Jahre angelegt war, stand da-mit nichts mehr im Wege. Dorland, ehemali-ger Bomberpilot, bestätigt:

„So war‘s bei Churchill – wie hat der, uns zu retten, diese Insel, ohne Infanterie,  dazu getrieben, den Langstreckenbom-ber zu bauen …“ (S. 34)

Dorland, der im Schauspiel sinnigerweise als Regisseuer fungiert, führt an anderer Stelle aus, er habe dem ehemaligen Oberbefehls-haber des Bomberkommandos, Marschall Harris, vor Monaten sein Manuskript zur Kor-rektur vorgelegt:

 

Marschall Harris (Bild: Welt)

„Ich hab ihm schriftlich angeboten, jedes Wort zu streichen, das gegen die Wahr-heit verstößt.

Ich KONNTE nicht ahnen, daß Marschall Harris mir mit einer Anzeige drohen würde, wenn ich ihn seine historische Rolle auch in meinem Stück spielen lasse.

[Es ist einmalig in der Weltgeschichte, daß ein Marschall aus der Historie VER-SCHWINDEN will, nachdem er eine halbe Million Zivilisten verfeuert hat, um in sie hineinzukommen.]“ (S. 36)

Dorlands Sohn, Oberleutnant der RAF, be-merkt einmal:

„In keinem Nürnberger Pro-zeß ist je ein Bombermar-schall angeklagt worden.“ (S. 30)

Auf eine Art Vorspiel folgt im Stück „Das Lon-doner Kleine Welttheater“ in drei Akten für neun Spieler. Als Akteure für April bis Juli 1943 werden u.a. aufgeführt:

  • Seiner Majestät Premierminister [PM],

  • Polens Ministerpräsident und Oberbefehlshaber,

  • der Bischof von Chichester,

  • der Chef des Empire-Generalstabs,

  • der Generalzahlmeister des Schatzamtes,

  • ein Group-Captain des Bomberkommandos,

  • ein Major der RAF,

  • ein Hauptmann der Warschauer Untergrundarmee,

  • ein Leutnant des Women’s Royal Naval Service.

Durch seitenlange Zwischen- bzw. Einfüh-rungstexte erhält der Leser wichtige Informa-tionen über die Darsteller und die von ihnen verkörperten historischen Figuren. Somit wis-sen wir, WEN „Cherwell“ historisch gesehen nun wirklich darstellt:

„Zwischen dem nervösen General und dem ebenso nervösen, jedoch breit auf Deck [eines Schiffes] lastenden Premier-minister bewegt sich … Churchills  Günstling, der Physikprofessor Frederick Alexander Lindemann. Seit 1942 Baron, seit 1956 Viscount Cherwell … zur Grau-en Eminenz der Downing Street abge-zeichnet, wird Lindemann von seinen Feinden … als Deutscher oder als Jude gemieden …“ (S. 53)

Lindemann (ganz links) mit Winston Churchill bei einer militärischen Vorführung (1941) (Bild: Wikipedia)

Lindemann (Cherwell) gilt als der eigentliche „Konstrukteur“ des Flächenbombardements mit den fabrikmäßig entwickelten Feuerstür-men. Darüber lesen wir bei Hochhuth:

„Seit der Premierminister Lindemanns Rezept zur Einäscherung der Arbeiter-wohnhäuser in allen deutschen Städten über fünfzigtrausend Einwohnern als Hauptoffensive angeordnet hatte – ,Mittelstandshäuser in ihrer aufgelocker-ten Bauweise  führen unvermeidlich zu einer Verschwendung von Bomben‘ – verteidigte Churchill seinen ,Prof.‘ in Rage gegen jeden wissenschaftlichen Einwand.

Widersacher des Flächenbombardements ,wurden aus dem Zimmer gewiesen‘. Wer den Nutzen der Terrorangriffe – Churchill fand, das sei ein gutes Wort – anzweifel-te, … der war erledigt.“ (S. 55)3

Als der Premierminister im Stück zu beden-ken gibt:

„Hamburg oder Köln – … Beide Städte sind als Ziel dem Risiko ebenbürtig,“

wird er von Cherwell beruhigt:

„Wir sparen Blut und Bomber. Hitlers Nachtjagd wird durch den Ausstoß dieser Streifen entscheidend desorientiert  … nur diese EINE Handvoll.“

Er entnimmt seiner Manteltasche ein Kuvert und diesem mit flinken, spitzigen Fingern ein Bündel Lametta, fadendünne Silberstreifen von 25 cm Länge, deren einige er Churchill gibt, andere dem General. Einige läßt er aus hochgehaltener Hand demonstrierend herab-schweben – auch Churchill tut das.

Täuscht schon auf deutschen Radarschir-men ein zweites Flugzeug vor.

Stunden vergehen, bevor die Streifen bis auf den Erdboden gesunken sind. Erst dann sind drüben die Radarschirme wieder fähig, den Himmel abzusuchen.

PM hält dem ablehnenden Brooke die Streifen hin:

„Brookie, ist das nicht genial – diese Sim-plizität: […] was die Wissenschaft zum Kriege ausgeheckt hat – unheimlich!“ (S. 61)

Hamburg-Eilbek nach dem Feuersturm. (Bild: Wikipedia)

Hochhuth verfügte über erstaunliche De-tailkenntnisse, aber fairerweise ist zu fragen:

Wer weiß denn heute überhaupt noch von diesen geheimnisvollen Stanniolstreifen, die dem englischen Bomberkommando im Juli 1943 die Vernichtung Hamburgs mit den verheerenden Feuerstürmen erleichterten, indem sie schlagartig die deutsche Abwehr ausschalteten, und die wir Kinder damals am Tage auf den Wiesen fanden.

Nachtjagd und Flak waren vollkommen „blind“, weil in jeder Minute von den mehr als 700 Bombern der RAF Bündel von Tausenden von Silberpapierstreifen abgeworfen wurden. Diese flatterten in der Luft auseinander und senkten sich als millionenfach reflektierende Wolke langsam zur Erde.

„Das ist das Geheimnis der schlagartigen Störung aller deutschen Radargeräte: Die Silberpapierstreifen, mit Tarnnamen in England ,windows‘, in Deutschland ,Düp-pel‘ genannt, sind genau auf die halbe Wellenlänge der Würzburg-Geräte zuge-schnitten. Sie reflektieren die Suchimpul-se der deutschen Nachtjagd- und Jäger-leitgeräte besonders gut. Millionen win-ziger Echos werden auf die Bildschirme geworfen. Das ist der Nebel, hinter dem sich die Bomber verbergen.“4

 

Polen graben ihre Landsleute aus einem der Massengräber von Katyn aus. (Bild: Wikipedia)

In diesem Akt klingt auch schon das Sikorski-Thema an.

Lesen Sie darüber in der nächsten Adelinde-Folge!

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Anmerkungen

*) zuerst veröffentlicht in „Deutsche Annalen 2020“, Druffel & Vorwinckel-Verlag Gilching, Herausgegeben von Dr. Gert Sudholt

 1„Junge Freiheit“ vom 22. Mai 2020

2Rolf Hochhuth, Soldaten, Rowohlt-Paperback-Ausgabe 1967, S. 21

3Hochhuth verweist auf David Irving als den „Kenner auch des Nachlasses von Lindemann. (S. 36)

4Cajus Bekker: Angriffshöhe 4000  Kriegstagebuch der deutschen Luftwaffe, Oldenburg und Hamburg 1964, S.406