Malwida von Meysenbug – die große Zeitzeugin der 1848er Revolution – 2. Teil

Doch nun der Reihe nach:

Malwida von Meysenbug 1848 (Bild aus der Biografie Meysenbugs)

Malwida von Meysenbug wurde 1816 als 9. von 10 Kindern einer aristokratischen Familie geboren, die väterlicherseits hugenottische Wurzeln hatte und geadelt worden war.

Ihre Mutter schildert sie als schöne Frau, die sich in den Kreisen ihres Standes gern bewegte und die gesellschaftlichen Standesunterschiede zeit ihres Lebens nicht in Frage gestellt sehen wollte, obwohl die industrielle Revolution bereits dabei war, die allgemeinen Lebensverhältnisse grundlegend zu verändern.

Ganze Handwerkszweige verarmten. Die Bevölkerung schwoll zahlenmäßig an, und so fanden viele Men-schen kein Auskommen und gerieten in erbärmlich-ste Lebensumstände. Tausende wanderten nach Amerika aus. Sozialer Sprengstoff sammelte sich in ganz Europa an, der im Juli 1830 in Paris zur Explosion kam.

 

Barrikadenkämpfe Paris 1830 (Gemälde von Eugene Delacroix – Wikipedia)

„Ein elektrischer Strom durchzuckte Europa. Alle Elemente der Unzufriedenheit, die seit lange in den Völkern gährten, wollten an das Licht“,

schildert Meysenbug die Stimmung.

Weil ihr Vater Adjutant des Kurfürsten von Hessen-Kassel war, betraf die Revolution ihre Familie in Kassel hautnah. Wegen einer Reise des Fürsten, die ihr Vater zu begleiten hatte, zogen sich die Gewit-terwolken unmittelbar über ihrem Elternhaus zusammen:

„Die Unzufriedenen … sagten, der Fürst habe die Reise nur seiner Maitresse zu Liebe unternommen.“

Um dem drohenden Volkszorn zu entgehen, kehrt der Fürst heim ohne Mätresse, und nach wenigen Tagen – nach jahrelanger Trennung – auch die Fürstin. Und schnell wie der Wind drehte sich die Volksmeinung:

„Der Fürst und seine Familie zeigten sich den Volksmassen, welche den großen Platz vor dem Schloß bedeckten, auf dem Balkon“,

schildert Meysenbug die Kasseler Show.

„Enthusiastische Freudenbezeugungen empfingen sie und steigerten sich bis zum ausgelassensten Jubel, als der Fürst ein zweites Mal auf dem Balkon erschien, umge-ben von den Abgesandten des Volks, unter denen sich die fanatischesten Liberalen befanden, und versprach, was das Volk durch ihren Mund verlangt hatte: eine Constitution.“

Der Vater macht sich unverzüglich an die Arbeit, die Verfassung zu entwerfen. Das Volk aber – vielleicht aufgehetzt – bleibt mißtrauisch, und wieder kommt es zum Aufstand:

Die aufgebrachte Volksmasse wälzt sich nach dem Lustschloß, wo sie den Fürsten samt Mätresse vermutet.

Im Hause Meysenbug befindet sich im 1. Stock die fürstliche Kanzlei. Noch lastet eine unheimliche Stille über der leergefegten Stadt.

„Nach einigen Stunden angstvoller Erwartung hörten wir einen Lärm, dem fernen Rauschen des Oceans ähnlich. Bald sahen wir eine dichte, schwarze Masse in der Ferne, die die Straße ihrer ganzen Breite nach ausfüllte.

Ein Mann von ungewöhnlicher Größe ging voraus und schwang einen dicken Stock in der Hand. Dies war ein Bäcker, welcher das Haupt der Bewegung geworden war.

Plötzlich hielt er vor unserem Hause still und mit ihm die ganze Masse, die ihm folgte. Er erhob seinen Stock gegen unsere Fenster und stieß furchtbare Verwünschungen aus.

In demselben Augenblick erhoben sich Tausende von Händen und Stöcken und Tausende von Stimmen schrieen und brüllten. Kaum daß wir Zeit hatten, uns von den Fenstern zurückzuziehen, so flogen schon große Pflastersteine gegen die Fenster des ersten Stocks …“

Dann brechen sich zwei junge Offiziere zu Fuß durch die Menge Bahn.

„Es waren der Erbprinz und sein Adjutant. Sie stellten sich vor unsere Thür, und der Prinz richtete einige Worte an die Aufrührer, befahl ihnen auseinanderzugehen und sich zu beru-higen, und versprach, daß ihre gerechten Wünsche gehört und befriedigt werden soll-ten. Dieser Beweis von Muth machte einen großen Eindruck.“

Und: Gehorsam, sehr deutsch, zog die Menge ab.

Als dann wenig später die Verfassung feierlich verkündet werden sollte, der Fürst nun als „constitutioneller Monarch“ auf dem Balkon erschien, war das „Volk trunken vor Freude“, schreibt Meysenbug, und sie selbst – als 14-Jährige – „ergriffen“.

„Der Anblick einer solchen Menge, die von einem einzigen Gefühl, dem der Liebe und der Dankbarkeit erfüllt war, schien mir eine erhabene Sache, obgleich ich nicht recht wußte, wie ich dies Gefühl mit dem des Schreckens und des Hasses vereinigen sollte, welches der Anblick dieses selben Volkes mir kurz zuvor eingeflößt hatte.“

Bild: Wikipedia

Zwei Jahre danach feierten Zehntausende Deutsche in der 1. Großdemonstration für ein freies und geeintes Deutschland das Hambacher Fest. Die neue Fahne anders als heute: unten schwarz, oben gold.

Malwidas Schicksal wurde es nun, daß die Familie dem Vater von Ort zu Ort folgen mußte, der seiner-seits dem Fürsten als Diener von Ort zu Ort zu folgen hatte. Für die hochbegabte Malwida begann ein Martyrium:

Ihr Wissenshunger fand keine Nahrung, und sie empfand sich als einen der

„Märtyrer der erwachenden Intelligenz, welche Führer und Antwort verlangen und statt dessen unter dem Druck der Mittel-mäßigkeit, die sie umgibt, oder der Lastthierarbeit, die man ihnen auferlegt, ersticken“,

was ja das Schicksal der sozialen Unterschicht sowie fast aller Frauen damals war.

Religiöse Unterweisung in der orientalischen Bibel-religion allein stand allen offen. Malwida geriet dabei in schwere innere Kämpfe. Mit Grauen entdeckte sie

„jeden Tag neue Abgründe von Skepticismus …“

in sich. Ihr wacher Geist sah

„nichts wie Widersprüche. Gott, der die höchste Weisheit und Güte sein sollte – konnte er den Menschen mit der Fähigkeit zur Freiheit (er-)schaffen, indem er ihn zugleich zum blinden Gehorsam, zur ewigen Unterwerfung unter die absolute Autorität, verdammte?

Er hatte ihm das Paradies gewährt mit der Bedingung, Sklave zu bleiben. Sobald der Mensch seine Individualität bejahte und sich wahrhaft Mensch machte, indem er für sich selbst urtheilte, wurde nicht nur er aus dem Paradies vertrieben, sondern auch seine Nachkommenschaft bis in das fernste Glied.“

Sie sieht die hebräisch verfälschte Sage vom Paradies vor sich. Hätte sie sie in der Urform gekannt:

 

Lucas Cranach d. Ä.: Adam und Eva im Paradies

Eva, der erste weibliche Mensch, pflückt vom Baum der Erkenntnis das Abbild von Vollkommenheit und Weisheit, den Apfel, und reicht ihn Adam.

Mit dem Erwerb des Bewußtseins unterscheidet sich der Mensch von nun an von der noch unterbewußt verbliebenen Tierwelt. Damit verliert er auch seine Unschuld, indem er ein Bewußtsein für Gut und Böse gewinnt, zwischen dem er wählen kann.

Das Paradies des Schlafes im Un- und Unterbewuß-ten ist nun für das Mensch gewordene Lebewesen verschlossen. Eine in der Welt einzigartige Weisheit unserer Ahnen liegt in diesem Gleichnis.

Die Bibelredakteure übernahmen es und verfälschten und verhäßlichten es wie alles Heidnische, das sie für ihre Geschichten stahlen!

Und so setzt sich Malwidas deutsche Seele also mit der eingeimpften biblischen Weltsicht auseinander. Mit unbestechlicher Logik kommt sie schließlich dazu, die Erlöserlehre abzulehnen:

„Ich hatte noch niemals das Bedürfnis eines Mittlers und Erlösers gefühlt. Es hatte mir immer geschienen, als müsse das Herz Gott ohne Vermittlung finden, sich unmittelbar ihm vereinen.“

Am Sterbebett einer geliebten Schwester erkennt Malwida: Gott ist keine

„Individualität: er erfüllt das Universum, er … ist eins mit den strengen Gesetzen, welche die Welt regieren. Das Verhängnis, das über uns schwebte, zu ändern, war nicht in seiner Macht … Anstatt des liebenden Vaters, den inbrünstiges Flehen rührt, fand ich die eherne Nothwendigkeit.“

Was der Mensch in seiner Unvollkommenheit an-richtet, ist ihm frei überlassen. Da greift kein Gott ein.

Welch freier, tiefgründiger Geist reift bereits in Malwida von Meysenbug heran! Damit entfernt sie sich von den Konventionen ihres Standes. Sie kann – wohlhabend durch Herkunft – die Ungerechtigkeiten gegen Menschen nicht mehr mitansehen.

In Frankreich hat sie bald Gelegenheit, einen Strafvollzug mitanzusehen, der entwürdigender nicht gedacht werden kann. An Händen und Füßen Gefesselte werden zur Schwerarbeit angetrieben!

In ihrem Heimatland Deutschland sieht sie die bitterste Armut vieler Menschen und im Gegensatz dazu ihren Adelswohlstand.

Als Malwida ihr humanitäres Denken in die Tat umsetzt und einen Jungen beim Sterben begleitet, in dessen Zimmer sich kein Prediger hineinwagt, weil der Fäulnisgestank – verursacht durch Knochenfraß am Bein – nicht auszuhalten ist, begegnet sie in ihrer Familie einer

„stummen Opposition“. „Sie waren so aufrichtig gut, fromm, mildthätig … und begriffen doch nicht, warum man gerade ,so weit‘ gehen müsse.“

Malwida läßt sich nicht beirren und fährt fort, „die Armen und Unglücklichen zu besuchen …“

Dann begegnet sie ihrer großen Liebe, dem vom Glauben abgefallenen Theologen und bekennenden Demokraten Theodor Althaus,

Theodor Althaus (Zeichnung von Malvida von Meysenbug)

der sich als einer der Vorden-ker der 48-Revolution einen Namen machen wird. Beide sind begeistert von ihrer Gleichgesinntheit, die vor allem ihre selbstgewonnene innere Freiheit dem überkom-menen Glauben gegenüber betrifft. Beide streifen auch den Glauben an die persönli-che Unsterblichkeit ab.

Der Bund unserer Herzen wurde doppelt fest und heilig während dieser Verständigungen über die höchsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens …

Malwida aber erlebt, wie sich ihre Familie wieder ein Stück weiter von ihr zurückzieht. Der Umgang mit dem Demokraten Althaus paßt nicht in ihr aristo-kratisches Weltbild. Theodor Althaus wurde von einigen ihrer Angehörigen geschnitten.

„So weit ging der Absolutismus damals in Deutschland, schreibt sie, daß in einem solchen Duodezländchen … kein freies Wort, kein gerechter Tadel über Angelegenheiten, die das allgemeine Wohl betrafen, ausge-sprochen werden konnte, und daß ein Mensch verpönt wurde, der an den Nimbus dieser kleinen Majestäten zu rühren wagte.“

Das schildert auch Georg Büchner sehr anschaulich in seinem „Hessischen Landboten“, dem er einen „Vorbericht“ voranstellt. Darin heißt es:

„Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahr-heit melden, aber wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt, ja sogar der, welcher die Wahrheit liest, wird durch meineidige Richter vielleicht gestraft. Darum haben die, welchen dies Blatt zukommt, folgendes zu beobachten:

  1. Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses vor der Polizei verwahren;

  2. sie dürfen es nur an treue Freunde mittheilen;

  3. denen, welchen sie nicht trauen, wie sich selbst, dürfen sie es nur heimlich hinlegen …“ usw.

Das kommt uns heute doch sehr bekannt vor. Büchner leitet dann seine Botschaft ein:

„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Im Jahr 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft … als hätte der Herr … gesagt: Herrschet über alles Gethier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm (hinzu)gezählt.

Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker …“

Das entsprach Malwidas Erfahrungen. In ihrem aristokratischen Umfeld aber fand sie nur noch Ablehnung, selbst aber fühlte sie dabei, daß sie – wie sie schreibt –

„eine Individualität wurde, mit Überzeugun-gen und mit der Energie, sie zu bekennen. Ich begriff nun, daß dies mein Verbrechen sei.

Die allgemeine Anerkennung fing an, ihren Werth für mich zu verlieren, und ich sah ein, daß ich hinfort nur mein Gewissen zur Richtschnur nehmen und nur thun würde, was dasselbe mir vorschrieb.“

Mit Immanuel Kant gesprochen bedeutet es, überhaupt den Mut gefunden zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und sich aus der Unmündigkeit selbst zu befreien.

Fortsetzung folgt