Kriegsbeginn: Stalins Rede vom 19. August 1939

Der erste israelische Botschafter in Deutschland, Asher Ben-Nathan, hat einmal im Zusammenhang mit dem Sechs-Tage-Krieg Israels 1967 gesagt:

Nicht wer den ersten Schuß abgegeben hat ist entscheidend, sondern was den ersten Schüssen vorausgegangen ist.

Diese Weisheit gilt nicht nur für Israel, sie gilt für alle Völker, somit auch fürs deutsche Volk. Aus dieser Wahrheit ergeben sich die Schuldigen, die Täter und Opfer mit allen schicksalhaften Folgen für sie, wenn man nicht – wie nach dem 30-jährigen Krieg von 1618-48 – bereit ist, von rächender Abrechnung abzusehen.

Gut 70 Jahre nach den ersten Schüssen der deutschen Wehrmacht am 1. September 1939 auf Polen und nach 65 Jahren unablässiger Schuldzuweisungen und Forderungen an die Deutschen ist es angebracht, an Stalins Rede vom 19. August 1939 zu erinnern.

Sie gehört in die Geschichtsbücher aller Schulen und müßte längst zur Allgemeinbildung nicht nur eines jeden Deutschen, sondern aller Menschen weltweit gehören!

Schon 1994 veröffentlichte die Historikerin T. S. Buschujewa ihren sensationellen Fund – nämlich die besagte Stalin-Rede – in der Nr. 12 des angesehenen Moskauer Magazins Nowij Mir nebst Analyse und Kommentar, berichtet Hans Meiser in seinem neuesten Werk

“Deutschlands Abwehrkampf gegen den Bolschewismus 1918-1943”.

Gefunden hatte Buschujewa die Rede im

geheimen Beutefundus des Sonderarchivs der UdSSR, jetzt “Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Sammlungen”, Registr. Nr. 7/1/1223.

Der Autor berichtet weiter, daß der Wortlaut der Rede schon im September 1939 in der französischen Nachrichtenagentur Havas abgedruckt erschienen, aber in dem Prawda-Interview vom 30. November 1939 unter dem Titel “Das sind die Fakten” von Stalin dementiert worden war. Dementis haben jedoch bekanntlich nicht immer etwas mit der Wahrheit zu tun.

Stalins “Moral”

zeigte sich in seinem Schreckensregime. Während dessen verloren (nach Robert Conquest)

… in der Sowjetunion von 1929 bis Anfang 1938 etwa 18 Millionen Menschen ihr Leben, befanden sich 1939 rund sechs Millionen in Gefängnissen oder in Arbeitslagern. Hinzu kommen noch diejenigen, die in der Zeit von 1939 bis 1953 hingerichtet oder in Lagern gefangengehalten wurden und dort starben. (Meiser)

Doch

1938 nahm die Zahl der Verhaftungen auf Stalins Anordnung ab. Er hatte sein Ziel erreicht: Die alte kommunistische Garde aus der Zeit Lenins war liquidiert und die gesamte KP vollständig unter Stalins Kontrolle. Er allein war es, der die marxistische Doktrin auslegte und entschied, wie sie umzusetzen war. (Meiser)

Buschujewa urteilt über das von ihr Gefundene im Hinblick auf den Kriegsbeginn mit Rußland:

Die ganze Tiefe der Tragödie, die unsere fünf Millionen starke Armee im Juni 1941 ereilte, muß ausgelotet werden. Das Böse, welches die Machthaber der Sowjetunion für Andere ausgeheckt hatten, traf urplötzlich, durch undurchsichtiges Schicksal, unser eigenes Land.

Indes wird an der Echtheit der von Buschujewa gefundenen Rede noch heute von interessierter Seite gezweifelt, und das obwohl einer der besten Kenner der Geschichte der Sowjetunion, Wolfgang Strauss, berichten kann:

Auf der Grundlage der Veröffentlichung in Nowij Mir starteten Historiker an der russischen Elite-Universität Nowosibirsk eine Untersuchung der gesamten Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Ihre Forschungsergebnisse erschienen im April 1995 unter der Überschrift “1. September 1939 – 9. Mai 1945”.

Einer der Verfasser, W. L. Doroschenko, spricht bezüglich der Stalinrede von einem “phänomenalen Text”, der nun endgültig die Behauptung der stalinistischen Apologeten, eine solche Parteibüro-Sitzung habe gar nicht stattgefunden, als Lüge entlarve. “Stalin als Provozierer des Zweiten Weltkrieges”, so der Titel des Doroschenko-Beitrages …

Verständlich, daß alle, die von der Alleinkriegsschuld Deutschlands profitieren, und diejenigen, die jahrzehntelang diese These vertreten haben und zur Stützung ihrer Ideologie für unentbehrlich erachten, deren Widerlegung zu verhindern suchen. Doroschenko indes kommt zu dem Schluß:

Eine Analyse zeigt, daß der Text, bei allen möglichen Entstellungen, auf Stalin zurückgeht und ihm daher der Charakter eines der grundlegenden Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges zuerkannt werden muß.

Hitler-Stalin-Pakt

Nach Churchills Einkreisungspolitik und Roosevelts Kriegstreiberei sowie den Bemühungen der Westalliierten, Moskau mit in ihre Kriegs-Alliance gegen Deutschland zu bekommen, hatte Hitler sich nach längerem Zögern dazu entschlossen, einem Wirtschaftsabkommen mit Moskau zuzustimmen, um die Lage für Deutschland zu entschärfen, somit einen Pakt zu schließen mit dem Bolschewismus, dem von ihm zutiefst gehaßten Feind.

Dazuhin hatte Polen das Versprechen der Blanco-Garantien von Großbritannien und Frankreich erhalten, was Polen dazu ermunterte, sowohl Rußland wie auch Deutschland jedes Entgegenkommen zu verweigern:

  • Rußland erhielt nicht das Recht, im Falle eines Krieges mit Deutschland durch Polen zu marschieren – verständlich!
  • auf Berlins überaus moderate Vorschläge zu einvernehmlicher Lösung in der Korridor- und Danzig-Frage reagierte Polen überhaupt nicht.

Damit – wie auch mit seinen Überfällen auf die Deutschen in den deutschen Ostgebieten sowie mit seinen seit Ende des 1. Weltkrieges getätigten Eroberungen und seinen noch weitergehenden Eroberungsplänen – hat es sich am Ausbruch des Krieges schwer mitschuldig gemacht. Es hat Hitlers “Zurückschießen” herausgefordert.

Stalin erläuterte nun vor den Mitgliedern des Politbüros und der Komintern in seiner Rede am 19. August 1939 die Lage auf dem Schachbrett der europäischen Mächte sowie seinen Entschluß, mit Deutschland einen Nichtangriffspakt zu unterzeichnen. Er nahm kein Blatt vor den Mund, und wir lernen, wie er die Schach-Figuren zu setzen und damit Geschichte zu gestalten gedachte. Für sein

Ziel, die Sowjetisierung ganz Europas,

nahm er die Zerstörung Europas und den Tod von Abermillionen Menschen bewußt und ungerührt in Kauf. Für menschliches Leid und Unglück schien er nicht den geringsten Nerv zu besitzen.

Und wie bis auf den heutigen Tag die Kriegstreiber aller Zeiten und Erdteile ihre Schandtaten mit zukünftigem “Glück” in paradiesähnlichen Verhältnissen der Menschheit rechtfertigen, so auch Stalin, dem das sozialistische Utopia vom “Bauern-und-Arbeiter-Paradies” als Vorwand für sein Streben nach Weltherrschaft diente.

Die Rede

Frieden oder Krieg? Diese Frage ist in ihre kritische Phase getreten. Ihre Lösung hängt von der Position ab, welche die Sowjetunion einnehmen wird. Wir sind absolut überzeugt, daß, wenn wir ein Beistandsabkommen mit Frankreich und England schließen, Deutschland sich gezwungen sehen wird, Polen gegenüber zurückzuweichen und einen modus vivendi mit den Westmächten zu suchen. Auf diese Weise könnte ein Krieg vermieden werden …

Andererseits, wenn wir die Vorschläge Deutschlands annehmen und einen Nichtangriffspakt abschließen, dann wird Deutschland sicherlich Polen angreifen, und die Intervention in diesem Krieg wird von Seiten Englands und Frankreichs unausweichlich. Unter diesen Umständen haben wir große Chancen, uns aus dem Konflikt herauszuhalten, und können gespannt unseren Zeitpunkt abwarten. Das ist genau das, was in unserem Interesse liegt.

An dieser Stelle merkt Meiser an, daß der Wortlaut dieses 1. Teiles der Rede bereits am 23. Februar 1944 in der Westdeutschen Landeszeitung Rote Erde unter dem Titel “War der Krieg mit den Sowjets wirklich unvermeidlich?” veröffentlicht wurde.

Frieden lag also nicht in Stalins Interesse. Er brauchte das Chaos,

um in ihm die Weltrevolution herbeizuführen. Er fährt fort:

Es ist nicht schwierig, die Entwicklung vorherzusagen, wenn wir uns in dieser Weise verhalten. Für uns ist klar, daß Polen ausgelöscht sein wird, ehe England und Frankreich Maßnahmen treffen können, um Polen zu Hilfe zu kommen. In diesem Fall übergibt Deutschland uns einen Teil Polens, bis in die Gegend von Warschau und auch das ukrainische Galizien …

Polens alter Haß gegen Rußland bekommt also neue Nahrung.

Nach diesem kaltblütigen Übergehen der Lebensinteressen Polens wendet Stalin sich nun Deutschlands Vernichtung zu:

Daher müssen wir die Möglichkeiten abschätzen, die sich aus einer Niederlage oder einem Sieg Deutschlands ergeben können. Prüfen wir den Fall einer deutschen Niederlage. England und Frankreich sind stark genug, um Berlin zu erobern und Deutschland zu zerstören, und wir sind nicht in der Lage, in diesem Fall wirksam einzugreifen.

Jedoch unser Ziel muß sein, daß Deutschland den Krieg so lange wie möglich führen kann, bis England und Frankreich ermüdet und so weit geschwächt sind, daß sie nicht mehr in der Lage sind, Deutschland allein zu schlagen. Was unsere Lage betrifft:

Indem wir neutral bleiben, unterstützen wir Deutschland wirtschaftlich durch die Lieferung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln; aber wir werden dafür Sorge tragen, daß die Hilfe nicht eine bestimmte Grenze überschreitet, sie darf also nicht unsere eigene wirtschaftliche Situation erschweren und die Schlagkraft unserer Armee schwächen …

Prüfen wir nun die zweite Hypothese:

nämlich einen Sieg Deutschlands. Einige sind der Ansicht, daß diese Möglichkeit für uns die größte Gefahr bedeuten würde. Es ist klar, daß darin viel Wahrheit steckt. Aber es ist ein Irrtum anzunehmen, daß diese Gefahr schon so nahe und groß wäre, wie manche glauben.

Wenn Deutschland siegt, dann wird es so geschwächt sein, daß es während der nächsten zehn Jahre keinen Krieg gegen uns führen kann. Sein Bestreben wird sein, England und Frankreich so zu schwächen, daß sie sich nicht mehr erheben können. Andererseits wird ein siegreiches Deutschland über Kolonien verfügen, deren Anpassung mit germanischen Methoden Deutschland für Jahrzehnte beschäftigen wird. Es ist offenkundig, daß Deutschland zu stark in Anspruch genommen sein wird, um sich gegen uns zu wenden.

Es gibt darüber hinaus einen Faktor, der unsere Sicherheit garantiert. In einem besiegten Frankreich wird die Kommunistische Partei zu einer starken Kraft anwachsen, unausweichlich vollzieht sich dann die kommunistische Revolution. Diesen Umstand können wir ausnutzen, indem wir Frankreich zu Hilfe kommen und es zu unserem Verbündeten machen. Später werden alle Völker, die unter den “Schutz” des siegreichen Deutschland fielen, unsere Verbündeten.

Genossen, im Interesse der Sowjetunion, des Vaterlandes der Werktätigen, liegt es, daß der Krieg zwischen dem Reich und dem kapitalistischen anglo-französischen Block ausbricht. Es ist entscheidend für uns, daß dieser

Krieg so lange wie möglich

andauert, bis zur Erschöpfung beider Seiten. Das sind die Gründe, weshalb wir den von Deutschland vorgeschlagenen Vertrag annehmen und alles dafür tun müssen, daß dieser Krieg, ist er erst einmal erklärt, so lange wie möglich dauert. Wir müssen unsererseits unsere Wirtschaft verstärken, so daß wir am Ende des Krieges gut vorbereitet sind.

Der 24. August 1939

Jetzt ging alles Schlag auf Schlag – wie von Stalin geplant. Der 24. August 1939 sieht folgende kriegsentscheidende Ereignisse:

  • Reichsaußenminister von Ribbentrop meldet Hitler am Morgen den Vollzug der Unterzeichnung des Nichtangriffs-Paktes zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich. Damit ist Hitler in Stalins Falle getappt, und dieser freut sich (lt. Chruschtschow) mit den Worten:

    Ich habe ihn hinters Licht geführt.

  • Vor dem Unterhaus in London hält Premier Neville Chamberlain eine Rede, in der er den Polen die britische Bündnistreue aufs Neue bestätigt. – Am späten Vormittag telegrafiert der britische Botschafter in Deutschland Henderson dem Foreign Office:

    … Es war niederschmetternd, weil ich von Anfang an der Meinung war, daß die Polen äußerst dumm und nicht weise gehandelt haben. So ist es nun. Vielleicht glaubt die Vorsehung, daß wir erst durch einen Krieg lernen müssen, so etwas nicht wieder zu tun.

    Dieser Lernprozeß ist bis heute – leider Gottes – ausgeblieben.

  • Gegen Mittag erhält Hitler die Nachricht, daß noch am selben Tag die britische Beistandsgarantie für Polen unterzeichnet werde.
  • Hitler erschrickt und bläst den bereits befohlenen Angriff gegen Polen ab.
  • London dagegen ordnet eine Teilmobilmachung an und bespricht mit Paris das gemeinsame militärische Vorgehen gegen Deutschland.

Sechs Tage später

Am 30. August erhält der britische Botschafter in Warschau Kennard von Lord Halifax eine Weisung, in der es heißt, die englische Regierung

könne die Verantwortung nicht übernehmen, der polnischen Regierung die Mobilmachung abzuraten, doch bitte sie, daß sie in einer unauffälligen Form, wie irgend möglich, erfolge.

Am 31. August macht Polen allgemein mobil.
Am 1. September verkündet Hitler über Rundfunk:

Polen hat heute nacht zum erstenmal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!

“Deutscher Überfall auf Polen”? –

Ein Überfall sieht anders aus.

Doroschenko: Es

lag in Stalins ureigenem Interesse, den Krieg zu entfachen, einmal mit dem allgemeinen Ziel der Machteroberung in Europa, zum anderen mit einem unmittelbaren Gewinn, der sich aus der Vernichtung Polens und der Eroberung Galiziens ergab. Das wichtigste Motiv Stalins war aber der Krieg selbst …, der Sturz der europäischen Ordnung und der sich daraus ergebenden Möglichkeit, unter solchen Bedingungen seine Diktatur zu etablieren.