Europa hat sich gebessert

1948: Eine Französin berichtet aus Berlin

Die neue Folge der “Emma” bringt dankenswerterweise auf vielen Seiten Texte von Simone de Beauvoir. In einem Brief vom 31. Januar 1948 berichtet sie über ihre Eindrücke von Deutschland 33 Monate nach Ende des Krieges. Wir erleben sie als einen Menschen der “unbeirrbaren Loyalität mit den Opfern – auch wenn diese neuen Opfer nun die Deutschen sind, die kurz zuvor noch ,Heil Hitler’ gerufen hatten” (Schwarzer). Und somit erleben wir hier einen Bericht ohne nationalistische Voreingenommenheit:

Um 16 Uhr kamen wir nach Deutschland und sahen die Ruinen von Saarbrücken … Dann wurde es allmählich unheimlich und ziemlich unangenehm. In dem tristen Speisewagen, wo wir endlich etwas – nicht viel – zu essen bekamen, waren nur Franzosen und insbesondere französische Offiziere, und im Schlafwagen auch. Wir erfuhren, daß in den anderen Wagen Deutsche waren, aber wir haben keinen einzigen gesehen. Deutschland umgab uns, und wir bildeten eine kleine, bewegliche französische Kolonie, das erinnerte mich an die Deutschen im besetzten Frankreich, ich fühlte, daß wir genauso hassenswert waren wie sie …

Die Ankunft (am nächsten Tag) – im Norden von Groß-Berlin, auf dem französischen Bahnhof – war unangenehm. Die Deutschen mußten warten, bis alle Franzosen ausgestiegen waren, bevor sie den Zug verlassen durften: Auch dies erinnerte mich an die Besatzungszeit, und man fühlt sich schlechter, wenn man auf der Seite der Besatzer ist …

Es ist interessant in Berlin, wie leidenschaftlich gern die Leute ins Theater und ins Kino gehen, nicht nur zum Vergnügen und um zu vergessen, sondern um eine Antwort auf ihre Probleme zu finden. Auf dem Kurfürstendamm stehen sie von früh bis spät Schlange, um Theaterkarten zu bekommen …

Heute morgen habe ich also die anderen abgehängt und bin allein in Berlin herumgegangen und mit der S-Bahn gefahren, endlos durch Schutt und Ruinen … nach langem Suchen fand ich dieses Café, in dem man nichts außer einer Brühe zu trinken bekommt. Sie können sich nicht vorstellen, wie traurig und verlassen diese Lokale sind, wie traurig und elend die Leute hier aussehen …

Dann kamen wir nach “Unter den Linden”, das früher die Chicago Avenue Berlins war; alles ist in die Luft geflogen, kaum ein Mensch auf der Straße, der große Park, Tiergarten, ohne Bäume: Die Leute haben im Winter die Bäume gefällt, um Brennholz zu haben, und jetzt haben sie dort kleine Gärten, in denen Rüben und Kartoffeln angebaut werden …

… das deutsche Paar war widerlich: Als gute Katholiken können sie die Russen nicht leiden, fürchten sie aber und drückten ihnen gegenüber wegen der deutschen Verbrechen ihre Reue aus.

Diese Frage der Reue ist für Deutsche von großer Bedeutung. Bei allen Vorträgen und in Diskussionen und privaten Gesprächen redeten sie immer über ihre Gewissensbisse. Einmal hat Sartre drei Stunden lang mit ihnen darüber diskutiert. Alle (oder fast alle) Deutschen, die wir treffen, sind Antinazis (oder geben sich als solche); viele Kommunisten meinen, die Deutschen müßten bereuen und Gewissensbisse haben.
Satre vertrat die Auffassung, sie sollten die kollektive Verantwortung für das, was sie getan haben, auf sich nehmen und sich schuldig fühlen, denn jeder ist gewissermaßen schuldig für alles, was passiert, insbesondere im eigenen Land, aber ein solches Schuld- und Verantwortungsgefühl impliziert weder Scham noch Demütigung oder Gewissensbisse; es impliziert den konkreten Willen, nun richtig zu handeln. Viele der deutschen Studenten, Schriftsteller und Intellektuellen, mit denen wir sprachen, waren sehr stark an diesen Fragen interessiert, sie diskutierten auch untereinander heftig, die Schuldfrage ist das Thema, über das sie immer zu allererst diskutieren wollen.

Berlin 1945 (aus: Emma)

Berlin 1945 (aus: Emma Jan./Febr. 2008)

Gewissensbisse wegen der “Vergangenheit” des eigenen Volkes sind seitdem eine “typisch deutsche” Erscheinung. Aber auch in anderen Ländern, die am europäischen Selbstzerstörungskrieg teilgenommen hatten, regt sich das Gewissen.

Der neue Umgang mit den einst “verfluchten Kindern”

Auf Hunderttausende wird die Zahl der nichtdeutschen Kinder Europas geschätzt, deren Väter Wehrmachtssoldaten waren. Ihre wirkliche Zahl ist unbekannt, wie auch das Schicksal der meisten – heute über 60-Jährigen – unbekannt ist.

In Norwegen, Dänemark und Frankreich jedoch ist Bewegung in das lange gehütete Geheimnis gekommen, das die Betroffenen eine so lange Zeit ihres Lebens gequält hat und viele von ihnen noch immer quält. In Frankreich haben 2004 ein Journalist und ein deutscher Mitautor ihre Recherche veröffentlicht – mit durchschlagendem Erfolg (siehe Tagesschau):

Jean-Paul Picaper hat an ein letztes Tabu in den deutsch-französischen Beziehungen gerührt: Der französische Journalist, langjähriger Deutschlandkorrespondent des “Figaro”, hat gemeinsam mit dem deutschen Co-Autor Ludwig Norz Einzelschicksale der rund 200.000 deutsch-französischen Besatzerkinder (“Enfants maudits”) aufgearbeitet. Sein Buch wurde innerhalb weniger Wochen zum Bestseller.

Er hat nicht nur vielen dieser “Kriegskinder” Mut gemacht, sich auf die Suche nach ihren Wurzeln zu begeben, sondern auch ein Thema angestoßen, das jahrzehntelang verdrängt und von der französischen Regierung tabuisiert wurde.

Die Frauen, die sich mit den Deutschen eingelassen hatten – so ist nun zu erfahren -, wurden mit Methoden gedemütigt, die an das Mittelalter erinnern: Geschoren, barfuß und mit einem auf die Stirn geschmierten Hakenkreuz wurden sie – begleitet von der johlenden Menge – als “Nazihuren” durch ihren Ort getrieben.

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Französinnen als Nazi-Huren durch ihre Ortschaft getrieben (aus: Emma a. a. O.)

Wie wir auch erfahren, waren für sie ihre deutschen Liebhaber oftmals alles andere als Feinde gewesen. Der Krieg hatte nicht vermocht, wirkliche Liebe zwischen Angehörigen verfeindeter Staaten zu verhindern. Picaper:

In 95 Prozent der Fälle ist von Liebesbeziehungen auszugehen. Vergewaltigungen hat es sicher auch gegeben, wie überall in den Kriegsgebieten. Aber hier gab es stabile, längerfristige Beziehungen zwischen Deutschen und Französinnen, oft über ein oder zwei Jahre, viele waren ja längere Zeit stationiert.

Die Frauen aber hatten ihre “Kollaboration mit dem Feind” allein auszubaden, ihre Kinder der “boches” waren ja sichtbarer Beweis ihrer “Verfehlung”. Die Wehrmachtssoldaten zogen weiter, sie mußten die Frauen ihrem Schicksal überlassen, viele von ihnen vielleicht ohne zu wissen, daß sie Vater geworden waren.

Schlimm erging es den Kindern dieser geschundenen Frauen. Viele von ihnen wurden als “Verursacher” von soviel Leid von ihren Müttern wohl nicht geliebt, ja an ihnen wurde der damals in Europa grassierende Völkerhaß ausgelassen.

Wer die wenigen veröffentlichten Gespräche mit Wehrmachtskindern aus verschiedenen Ländern liest, stößt auf immer dieselben Sätze: Man hat mich als Kind eines Deutschen beschimpft. Ich wurde schikaniert, weil mein Vater ein Deutscher ist. Als wir in der Schule den Krieg durchnahmen, habe ich mich geschämt. Es scheint, als habe man überall die Geringschätzung der „Deutschenmädchen“ und den Haß auf den deutschen Besatzer-Vater an den Kindern ausgelassen.

Das war in Norwegen nicht anders, dort aber beschuldigen einige Nachkommen deutscher Soldaten – die sich dort Kriegskinder nennen – den norwegischen Staat, sie vor den haßerfüllten Übergriffen ihrer Landsleute nicht geschützt zu haben. Sie klagen auf die Zahlung von Wiedergutmachung und sind entschlossen, vor den Europäischen Gerichtshof in Straßburg zu ziehen.

In einer ersten Reaktion hat der norwegische Ministerpräsident Bondevik bereits vor einigen Jahren die Betroffenen um Entschuldigung gebeten. In einem zweiten Schritt beauftragte die norwegische Regierung einige Wissenschafter damit, Kindheit und Jugend der norwegischen Wehrmachtskinder zu erforschen. Somit versucht Norwegen als einziges Land in Europa, möglicherweise der Welt, das Schicksal der „Feindeskinder“ im eigenen Land zu klären …

Der Rechtsausschuß des Storting habe eine Entschädigungszahlung in Aussicht gestellt (Kriegskinder Norwegen).

Auch in Dänemark haben die Behörden verhindert, so Arne Øland, daß die dänischen Kinder von ihrem biologischen Vater wußten oder ihn gar kennen lernten.

Dabei hatten zahlreiche deutsche Väter ihre dänischen Kinder anerkannt, so Øland weiter. Dies war während der Besatzungzeit auch von der Vergleichkommission festgehalten worden. Nach Ende des Krieges allerdings wurden, so lautet der Vorwurf, von staatlicher Seite diese Informationen gelöscht. Es erging auch an die nachgeordneten Behörden wie Gerichte die Anweisung, nicht nach den deutschen Vätern zu forschen. Dies war ein klarer Verstoß gegen das damals neue Kindesrecht, so der Vereinsvorsitzende, nach dem die Gerichte aufgefordert waren, im Sinne des Kindeswohles nach Vätern zu suchen.

… »Meiner Ansicht nach muß eine Untersuchung durchgeführt werden, wer wann was getan hat« und ob durch die dänischen Behörden den Kindern Unrecht zugefügt wurde. Vom Ergebnis einer solchen Untersuchung, für die gegebenenfalls auch Geld zur Verfügung gestellt werden müßte, wolle sie es abhängig machen, ob auch in Dänemark eine Entschädigung gezahlt oder eine Entschuldigung ausgesprochen werde (Kriegskinder Dänemark).

Europa hat sich moralisch gebessert!