“Es ist Nacht, und mein Herz kommt zu Dir”

Brief einer Frau zu

Weihnachten 1943

Ja, „es ist Nacht, und mein Herz kommt zu Dir…“

Weißt Du auch, welche Nacht es ist? Es ist die kurze Stundenspanne, die uns von dem Heiligen Abend trennt, jene Nacht, in der wir als Kinder vor Seligkeit und Erwartung kaum schliefen, weil uns Mutter beim Zubettgehen noch einmal die Haare aus der Stirn gestrichen und dabei gesagt hatte: „Morgen, Kinder, wird’s was geben, morgen werdet Ihr Euch freun…“

Wie lange ist das her! Mir scheint manchmal, als seien Hunderte von Jahren seitdem vergangen; Zeiten, in denen Menschen lachen konnten und Kinder vor Seligkeit nicht schliefen.

In dieser Nacht, Liebster, liege ich wach und rede mit Deinem Bild, das ich an die schräge Mansardenwand meines Bauernzimmers gehängt habe, und denke viele, viele Gedanken. Nicht alle sind schön. Ich sage Dir das ganz ehrlich.

Als vor drei Tagen Dein Brief kam, der mir die Bestä-tigung meiner Sorge gebracht hat und schwarz auf weiß festlegte, daß ich zum fünften Mal in diesem Kriege allein mit den Kindern Weihnachten feiern muß, weil Dein U-Boot zu neuer Auslandsfahrt ausläuft, da habe ich lange geweint und mit dem Schicksal gehadert, das uns allen heute, die wir jung genug zum Genießen und alt genug zum bewußten Erleben sind, so unendlich viel Glück zerschlägt.

Ich weiß, Du verstehst das nicht ganz, denn Du bist ein Mann, und Deine Gedanken und Gefühle gehen andere Wege. Ihr sprecht von „Not-Wendigkeit“, und sicher habt Ihr recht.

Aber Ihr müßt auch uns Frauen begreifen, denen der Krieg doppelt fern und feindlich erscheint, Ihr Män-ner könnt ihn viel eher bejahen als wir, denn der Kampf ist Euer tiefstes Gesetz, und im allerletzten Grunde Eures Herzens freut Ihr Euch, daß Ihr Euch beweisen könnt. Es liegt Euch allen im Blut.

Ja, so ist es, – ich sehe das ja schon an unserem blonden Götz, wenn er über seinem Soldatenspielen mit den Bauernbuben alles vergißt: Essen, Trinken und „natürlich“ seine lange wartende Mutter.

So seid Ihr alle! Und unser Herz hat das längst be-griffen; ich möchte nur, daß auch Du mich als Frau begreifst und nicht nur meinst, ich sei uneinsichtig. Du weißt, daß es nicht so ist; aber Du mußt verste-hen, daß uns der Krieg, die wir als Gebärende, Hüterinnen und Schützerinnen alles Bestehenden sind, die Grausamkeit des Todes, diese haßerfüllte Zerstörung, die unsere Feinde wie ein Inferno über uns schütten, doppelt trifft, weil unser Herz das alles nicht fassen kann.

Wir sind aus unserem Boden gerissen wie Pflanzen, die blühten, weil sie wurzelten, wurzelten in der Luft der Behütung, des Aufbaues, der Fürsorge für die, die wir lieben …

 

(Foto: Egbert A. Hoffmann, Hamburg ’45 – So lebten wir zwischen Trümmern und Ruinen)

Jetzt sind wir allein, bei fremden Menschen, in einem fremden Dorf, und die Augen der Kinder scheinen uns manchmal voll von unbewußter Frage: „Wann sind wir wieder zu Hause?“

In dieser Nacht, die Deinem Briefe folgte, stieg eine Verzweiflung in mir hoch, die mir den Entschluß gab, diesmal einfach das „Fest“ ausfallen zu lassen. Schließlich dachte ich, ist eben der 24. Dezember ein Tag wie alle Tage …

Aber, weißt Du, in der Verzweiflung betreten wir, wenn wir ein richtiges, echtes, unverfälschtes Frauenherz haben, wohl alle unbewußt die goldene Brücke, die an das andere Ufer hinüberführt, an jenes Ufer, an dem Mut und das Gefühl einer feinen und letzten Pflicht zu Hause ist.

Und weißt Du, welcher Gedanke mich sanft und sacht hinüberhob? Die Erinnerung an meine Urgroßmutter, deren schöne Tagebuchblätter ich mit unseren Familienpapieren hier herüber gerettet habe. Das war damals für sie auch ein trauriger 24. Dezember 1870, als der Briefträger ihr, durch den Weihnachts-schnee stapfend, die Nachricht brachte, daß ihr Lieblingsbruder in den Kämpfen vor Paris gefallen sei.

Damals hat sie sich einen Tag lang eingeschlossen, den Weihnachtsbaum mit dem Rauschgold und Wachsvögelchen halbfertig stehen lassen und ihren drei Kindern dann weinend erklärt, daß es diesmal kein Weihnachten gäbe.

Und als sie dann im sinkenden Abend ihr Zimmer mit rotgeweinten Augen verlassen hat, fand sie ihre „drei“ verschüchtert, verstört auf der Treppe sitzen, weil sie es einfach nicht fassen konnten, daß so etwas Furchtbares geschehen konnte: „Kein Weih-nachten haben“. Ein deutsches Kind sein – kein Weihnachten haben, das ist sehr arg.

Da hat das Herz meiner Urgroßmutter einen schnellen Schlag getan, und sie ist hinter der verschlossenen Tür des Weihnachtszimmers verschwunden, hat den Schmuck darangehängt und die Kerzen aufgesteckt, die Puppen, Bilderbücher und Soldaten darunter gelegt.

Und eine Viertelstunde später ist sie dann die Treppe heruntergekommen, umknistert von dem grauen Taffetkleid mit den gelben Spitzen, und sie hat ihren schönen Schmuck getragen und ihre Augen haben gelächelt. Dann ist doch Weihnachten gewesen, die Kerzen haben geleuchtet, die Tanne geduftet und die alten, schönen Lieder sind durch das stille Haus geklungen, das eine schwere Nachricht durch seine Tür eingelassen hatte. Die Kinder aber haben gejubelt.

In dieser „Heiligen Nacht“ schrieb meine Urgroßmutter den Satz in ihr Tagebuch, der mir gerade noch zur rechten Zeit einfiel:

„Ich weiß, Dein tapferes, fröhliches Soldatenherz wird mir nicht gezürnt, sondern recht gegeben haben, daß ich Trauer und Trauerkleid in dieser Stunde beiseite tat. Denn die Kinder haben ihren Anspruch auf Freude und Glück. Und noch dazu an diesem Tag! Wir Erwachsenen aber können glauben, was wir wollen und fühlen, wie wir meinen; es bleibt uns doch tiefste Gnade in dieser dunkelsten aller Nächte, das zurückkehrende Licht dankbar zu empfangen. Licht muß wieder werden, und eines Tages wird aus dem Haß der Völker doch von neuem der Friede wachsen, der aufbauen lehrt, bewahren, behüten und beschützen. Das ist mein tiefster Glaube, den ich heute bewiesen habe.“

Diese Worte, Lieber, waren es, die mich zurückführ-ten zu dem, was ich zu tun habe. Und Du kannst ruhig sein, Götz und Helga werden nicht ohne ihr Bäumchen und ohne ihr Lichtchen, nicht ohne ein kleines Geschenk sein.

Wenn wir auch fern von Dir und fern von unserem Daheim sind, so will ich den Kindern hundert Lichter für eines in meinem Herzen anzünden, damit die Freude nicht auslösche; damit werde ich Dir näher sein als mit allen sehnsüchtigen und zehrenden Gedanken.

Wie oft hast Du mir Walter Flex’ schönes Wort vorgelesen: „Ihr sollt nicht mit trüben Augen in die hellen Weihnachtskerzen blicken!“ Nein… Ich weiß nun, daß es unsere tiefste, frauliche, mütterliche Pflicht ist, die Lichter der Freude aus unseren Herzen heraus in das trostlose Dunkel der sorgenden Nächte anzuzünden. Für die Kinder – aber auch für Euch, die Ihr draußen kämpft.

Denn Ihr sollt nicht in eine dunkle, schaurige Welt zurückkommen, wenn Ihr heimkehrt; in unseren wartenden Herzen wird und soll Euch das Licht brennen, über Trauer und Trümmern sollen Euch die Fackeln unserer Liebe leuchten, Es ist schon wahr – und heute ganz besonders:

Immer wieder, wie wir sinnen,
Birst die Welt in tausend Stücke,
Immer wieder, still von innen
Bauen wir die goldne Brücke.

Gewiß, es tut diesmal weh, Feuer aus unserem Herzen zu schlagen – wie aus einem Stein. Aber es muß uns gelingen.

Der Wind weht über weite Meere, und ich weiß nicht, wohin er meine lieben Gedanken zu Dir trägt, der Du weit, weit fort bist… Aber meine Liebe würde Dich an allen Ecken der Welt erreichen, Denn es ist Nacht, und mein Herz kommt zu Dir, hält’s nicht aus, hält’s nicht aus mehr bei mir. Legt sich auf die Brust wie ein Stein, sinkt hinein zu dem Deinen.

Dort erst, dort erst kommt es zur Ruh, liegt am Grund seines ewigen „Du“.

Und so wie ich zünden heute Millionen Frauen ihr Herz in Freude und Liebe an, damit der Schein an die Fronten wandere und Euch die längste Nacht erhelle, die Ihr draußen für uns wacht und kämpft.

Das Licht liegt in uns,

und es wird uns alle die Kraft eines jungen Frühlings zurückfinden lassen. – Das ist mein fester, unwandelbarer Glaube.