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Was ist eigentlich aus dem Aufbruch zu neuen Lebensformen geworden, den etliche deutsche Erneuerungsbewegungen in der Zeit vor Hitlers “Machtergreifung” auf den Weg brachten? Der Autor

Hermann Soyka

hat sie einmal unter die Lupe genommen und stellt Adelinde dankenswerterweise seinen Bericht zur Verfügung unter der Überschrift:

Abstinenzbewegung – Lebensreform – Jugendbewegung

Diese drei Bewegungen wurden im deutschen Sprachraum etwa zwischen dem letzten Drittel des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts wirksam. Sie beeinflußten einander gegenseitig, es kam zu Querverbindungen und Wechselwirkungen, gemeinsam vertraten sie einen umfassenden Reformansatz zur Änderung der menschlichen Lebensformen, der Lebensgestaltung und des Lebenszieles. Im nachfolgenden Beitrag sollen ihre Wurzeln, ihre Ideen und Zielsetzungen, ihre Arbeitsweisen und ihre Entwicklung näher beschrieben werden.

Abstinenzbewegung

Die Antialkoholismus-Bewegung (Abstinenzbewegung) war eine Antwort auf den im 19. Jahrhundert zunehmenden Alkoholkonsum breiter Bevölkerungsschichten, dessen nachteilige Auswirkungen in der Öffentlichkeit mehr und mehr kritisch beobachtet wurden. Jahrhundertelang waren Wein, Bier und ähnliche vergorene Getränke die einzigen Alkoholika, die dem Menschen zur Verfügung standen. Erst ab der frühen Neuzeit weitete der technische Fortschritt das Angebot an alkoholischen Getränken aus:

Die Entwicklung der Destilliertechnik etwa ab dem 15./16. Jahrhundert, der ab dem 17. Jahrhundert aus den karibischen und mittelamerikanischen Kolonien importierte Zucker und die Verwendung der billigeren Kartoffeln statt Weizen bewirkte ein Angebot an billigen und hochprozentigen Alkoholika, sodaß der Alkoholkonsum trotz gleichbleibender Reallöhne bis in die 1870er Jahre ständig stieg.1

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es vor allem die in den USA von den calvinistischpuritanisch geprägten Quäkern und Methodisten getragene Mäßigkeitsbewegung, die sich ab den 1830er Jahren über den angelsächsischen Raum nach Nord- und Nordwesteuropa ausbreitete. Mit zunehmender Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung wurde das Alkoholproblem ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zur sozialen Frage. Friedrich Engels schrieb 1845 dazu:

Der Arbeiter kommt müde und erschlafft von seiner Arbeit heim; er findet eine Wohnung ohne Wohnlichkeit; feucht, unfreundlich und schmutzig; er bedarf dringend einer Aufheiterung, er muß etwas haben, das ihm die Arbeit der Mühe wert, die Aussicht auf den nächsten sauren Tag erträglich macht; […] sein geschwächter Körper, geschwächt durch schlechte Kluft und schlechte Nahrung, verlangt mit Gewalt nach einem Stimulans von außen her.2

In der bürgerlichen Diskussion um die Folgen der Industrialisierung wurde die Bekämpfung des Alkoholproblems thematischer Schwerpunkt. Alkoholkonsum als Ausdruck von Sucht und Abhängigkeit sei zu bekämpfen, der gesellschaftliche Trinkzwang einzudämmen. Kritik am überbordenden Kapitalismus, vertreten durch das sog. „Alkoholkapital“, war ebenfalls Teil der Argumentation.

Wissenschaftliche Grundlagen

Die ethisch-religiösen Beweggründe aus dem anglo-amerikanischen Raum wurden in Europa ergänzt durch Ärzte, die gesundheitliche und sozialhygienische Argumente in die Debatte zur Alkoholfrage einbrachten. Führend waren

  • Christoph Wilhelm Hufeland,
  • Abraham Adolf Baer,
  • Gustav von Bunge,
  • Auguste Forel und
  • Emil Kraepelin.
Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836)

war ein deutscher Arzt, Sozialhygieniker und Volkserzieher. Er schrieb über den Einfluß von Alkoholkonsum auf Volk und Staat und argumentiert, daß die Menschen in unheilbare Krankheiten gestürzt würden und dem Staat zur Last fielen.3

Auch bringt er die Rassenhygiene ins Spiel, die in der Alkoholfrage ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt thematisiert wird.4

Abraham Adolf Baer (1834-1908)

wurde 1861 promoviert. Er war als Strafanstaltsarzt zunächst in Naugard (Westpommern) tätig, ab 1872 in Berlin-Plötzensee. In einem 1878 erschienenen Buch stellt er die Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus dar, beschreibt die Konsequenzen der Trunksucht für Individuum und Gesellschaft und bezeichnet den Alkohol als ein weit verbreitetes Genußmittel, das den Organismus schädigt und zur Sucht führen kann.5

Gustav von Bunge (1844-1920)

war deutsch-baltischer Physiologe und Mediziner. 1886 wurde er ordentlicher Professor für physiologische Chemie in Basel. Seine Antrittsvorlesung vom 23. November 1886 hielt er unter dem Titel „Die Alkoholfrage“. Sie bildete die Grundlage der wissenschaftlichen Abstinenzbewegung und der gesundheitsorientierten Alkoholpolitik. Bunge sah den Alkohol als Hemmnis auf dem Weg der menschlichen Weiterentwicklung:

Durch die Ertötung des idealen Sinnes wird der Alkohol zum mächtigsten Hemmschuh beim sittlichen Fortschritt der Menschheit. Die chronische, endemische Narkose und Verfuselung läßt im Volke den Mangel eines sittlichen Ideals gar nicht zum Bewußtsein kommen. Wo irgend die Stimme des Gewissens sich regt, wird sie im Alkohol erstickt. Wo irgend das Verlangen nach edleren Freuden hervortritt, wird es fortgespült durch den ununterbrochenen Bierstrom.6

Auguste-Henri Forel (1848-1931)

war Psychiater, Hirnforscher, Entomologe, Philosoph und Sozialreformer. Er gilt als Vater der Schweizer Psychiatrie und als einer der wichtigsten Vertreter der Abstinenzbewegung in der Schweiz. 1892 gründete er den Schweizerischen Guttemplerorden und wandte sich scharf gegen die Propagierung von Mäßigkeit im Alkoholkonsum. Die „Mäßigkeitsprediger“ würden durch ihre Rücksicht auf den „Alkoholteufel“ die Nachteile des Alkohols fördern.7

Ausführlich behandelte Forel die Frage, wie weit sich Alkoholkonsum auf den Nachwuchs auswirke. Zur Schädigung von Nachkommen prägte er den Begriff „Blastophthorie“, eine Schädigung der Keimzellen durch Alkohol. Dadurch bestünde zwar nicht die Gefahr von vererbbaren Schäden, jedenfalls steige aber das Risiko, Kinder mit körperlichen oder geistigen Gebrechen zu zeugen.

Emil Kraepelin (1856-1926)

war ein deutscher Psychiater. Er gilt als Begründer der modernen, empirisch orientierten Psychopathologie, mit der in ersten Ansätzen ein psychologisches Denken in der Psychiatrie üblich wurde. In einem Vortrag über „Alkohol und die Jugend“ prangerte er die Trinksitten und den Gruppenzwang zum Alkoholkonsum an.8

Er stellte dem die Aussage entgegen, daß Alkohol die Klarheit des Denkens, die Selbstbeherrschung, Willensfestigkeit und Tatkraft vermindere. Im Alkohol sah er eine der wichtigsten Ursachen der Entartung und nannte ihn als Verursacher eines sittlichen Niederganges und Zerstörer des Familienlebens.

Theoriemodelle

In der organisierten Abstinenzbewegung gab es drei Theoriemodelle, die auf dem jeweiligen Weltbild der maßgeblichen Personen beruhten: Einen christlichen Ansatz, einen sozialdemokratischen und einen völkisch-nationalen Denkansatz.

Christlicher Ansatz

Auf einer Bonner Katholikenversammlung im Jahre 1881 wurden Maßnahmen zur Bekämpfung der überhandnehmenden Trunksucht gefordert. Einer der Berichterstatter, Emil Witte, beklagte – unter Bezug auf die göttliche Schöpfung – den Verlust menschlicher Würde durch Alkoholkonsum. Die Unmäßigkeit im Trinken raube dem Menschen „…oftmals die unsterbliche Seele, das Ebenbild Gottes!“9 Alkoholiker handelten durch ihre Trunksucht den Zehn Geboten zuwider, er verlangte einen „Rettungsgürtel christlicher Nächstenliebe“ zur Trinkerrettung.

Der steirische Theologe Johannes Ude (1874-1965) meinte, daß „Mäßigkeit“ sinnlos sei, denn „mäßig“ sei ja ohnehin jeder, der trinke. Er prangerte die wachsende Zahl von Verbrechern, moralisches Elend, zunehmende Geisteskrankheiten und frühe Sterblichkeit an. Er verlangte, „… daß überzeugte Katholiken […] nur Mitglieder des katholischen Kreuzbündnisses sein sollen.”

Sozialdemokratischer Ansatz

Victor Adler (1852-1918, Führer der österreichischen Sozialdemokraten) behandelte 1907 auf einem Gewerkschaftskongreß in Wien ausführlich den Problemkreis von Alkoholismus und Gewerkschaftsarbeit.10 Der Alkoholismus sei eine der vom Kapitalismus ausgelösten Erscheinungen. Für ihn und die sozialdemokratischen Alkoholgegner war der Kampf gegen den Alkohol ein Teil ihres Kampfes gegen den Kapitalismus. Denn das „Elend der Arbeiter führe zum “Suff…“ und

um den Alkoholismus als Massenerscheinung zu bekämpfen, ist auch die Besserung der Existenzbedingungen der Arbeiter nötig.

Der Wiener Arzt und Sozialpolitiker Julius Tandler (1869-1936) prangerte in einer Studie die Auswirkungen des Alkoholismus auf die Familien, die Gesellschaftsstruktur und die Sozialhygiene an. Kritisch sei die Weitergabe des Alkoholismus an die Folgegeneration durch das Milieu in der Alkoholikerfamilie, durch Keimschädigung der Nachkommen oder durch genetische Weitergabe einer Neigung zur Sucht. Alkoholsucht sei

… eine der Offenbarungen der Minderwertigkeit innerhalb der heutigen Menschheit …

Sie bewirke einen „Rückgang der Kultur“ und sei Folge des

… rücksichtslosen Fortschreitens der Zivilisation, die sich in ihren technisch-maschinellen Vervollkommnungen als kultur-, ja als menschheitsfeindlich erwiesen hat.11

Völkischer Ansatz, Jugendbewegung

Im Gegensatz zum christlichen und zum sozialdemokratischen Ansatz war die Alkoholenthaltsamkeit der Jugendbewegung nicht im Sinne einer „Belehrung“ nach außen gewandt. Es ging ihr nicht darum, gesellschaftliche Zustände durch Überzeugungsarbeit gegenüber anderen zu ändern, sondern der Verzicht auf Sucht- und Rauschmittel (Alkohol, Nikotin) war Ausdruck von Selbstdisziplin und sollte der Persönlichkeitsbildung im Sinne von Eigenverantwortung und innerer Freiheit dienen. Daß später aus der Jugendbewegung alkoholgegnerische Vereinigungen hervorgingen, war eine Folgewirkung dieser Eigenverantwortung. Diesem Theoriemodell ist die „Deutsche Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur“ zuzurechnen, die weiter unten beschrieben wird.

Alkoholgegnerische Organisationen

Guttempler

Die Guttempler wurden 1851 in Utica im Staate New York von Leverett E. Coon gegründet. Sie sind – ähnlich den Freimaurern – in Logen gegliedert. Die erste Loge Deutschlands wurde im Jahre 1889 in Flensburg gegründet.12

Blaues Kreuz

Das Blaue Kreuz ist eine christliche Organisation zur Selbsthilfe bei Suchtkrankheiten. Es wurde 1877 in Genf vom freikirchlichen Pfarrer Louis-Lucien Rochat (1849–1917) gegründet. 1885 erfolgte die Gründung in Deutschland durch Arnold Bovet, einen Schweizer Prediger der Freien Evangelischen Gemeinde in Bern. Seine Haupttätigkeit liegt in der Suchtprävention und der Heilung Alkoholkranker.

Kreuzbund

Das katholische Kreuzbündnis wurde 1896 von dem Priester Josef Neumann in Aachen gegründet. Es will durch Aufklärung und das persönliche Beispiel der völligen Abstinenz zeigen, daß ein Leben ohne Alkohol möglich ist, und damit den Alkoholismus bekämpfen. Ziel der Aufklärung ist vor allem die Jugend, weil die eingefahrenen Trinksitten bei Erwachsenen schwer auszurotten seien.

Arbeiter-Abstinentenbund

Der „Deutsche Arbeiter-Abstinentenbund“ wurde 1903 gegründet; die Gründung in Österreich erfolgte 1905 durch die Ärzte Rudolf Wlassak und Richard Fröhlich. Der Bund beruft sich auf einen Viktor Adler zugeschriebenen Ausspruch:

Der denkende Arbeiter trinkt nicht, und der trinkende Arbeiter denkt nicht.

Zusammenfassung

Die Anfänge einer organisierten Alkoholgegnerbewegung lassen sich – auf christlich-ethischer Grundlage beruhend – von den USA ausgehend festmachen. Die wissenschaftlichen Argumente lieferten Ärzte, vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum. Man kann drei argumentative Hauptlinien unterscheiden:

  • Alkohol als ein auf die Einzelperson beschränktes medizinisches Problem; er schädige Gehirn und Nervensystem, verkürze die Lebensdauer und fördere Krankheiten. Weiters bestehe die Gefahr einer Sucht. Diese Argumente wurden von ärztlicher Seite eingebracht.
  • Alkohol als ein auf die Nachkommenschaft einwirkendes eugenisches Problem; er verursache Schäden am Fötus, fördere geistige und körperliche Behinderung und könne zu degenerierter Nachkommenschaft führen. Dieses Argument, etwa Anfang des 20. Jahrhunderts erweitert um rassehygienische Argumente, kam ebenfalls aus der Ärzteschaft und wurde im weiteren Verlauf von der Bevölkerungspolitik übernommen.
  • Alkohol als soziales Problem, das alle Bevölkerungskreise gefährde; es bestehe eine Wechselwirkung zwischen prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen und Alkoholismus. Das Aufzeigen dieses Problems wurde verbunden mit Kapitalismuskritik. Dieses Argument vertrat vor allem die sozialdemokratische Abstinenzbewegung, verknüpfte es aber ebenfalls mit Fragen der Rassehygiene und der Bevölkerungspolitik. Auch in der völkischen Enthaltsamkeits-bewegung wurde diese Argumentation bevorzugt.

Lebensreformbewegung

Die Anfänge der Lebensreform-Bewegung werden in das ausgehende 19. Jahrhundert gelegt, eine Epoche, in der das „gebildete Bürgertum und die Intellektuellen“ geschwankt habe „… zwischen Beklemmung und Hoffnung, Angst und Stolz, Zorn und Zuversicht.“13

Einerseits seien die vergangenen Jahrzehnte ein Zeitalter der großen Erfindungen, eine Epoche der Industrie, des raschen Aufschwunges von Gewerbefleiß und Wirtschaft gewesen, andererseits habe es Verluste und Bedrohungen gegeben. Apokalyptische Visionen und die Angst vor gewaltigen Zerstörungen traten in den Diskurs. Der deutsche Philosoph und Psychologe Ludwig Klages (1872-1956) malte in einer Festschrift zur Freideutschen Jugendtagung auf dem „Hohen Meißner“ 1913 die Zukunft in düsteren Farben:

Wo aber der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, derer er sich rühmt, hat er ringsum Mord gesät und Grauen des Todes.“14

Nach Klages laufe der „Fortschritt“ auf Zerstörung hinaus, wobei „Methode im Wahnwitz der Zerstörung“ stecke. Der Fortschritt

… rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch übrig läßt, gleich dem “Schlachtvieh” zur bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt “rationeller” Ausbeutung. In seinem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.15

Klages kritisiert die „wetterfesten Phrasen“ der „Fortschrittler“, die Irrlehre vom „Kampf ums Dasein“ verkomme zum Sozialdarwinismus und produziere nur

Legitimierung von Eigensucht (und) rücksichtslose Durchsetzung von Sonderinteressen.

Bei Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke wird der Gesamtkomplex „Lebensreform“ in sieben große Themenkreise gegliedert:

  1. Umwelt und Heimat;
  2. Lebensreform und Selbstreform;
  3. Gemeinschaft und Gesellschaft;
  4. Leben und Arbeiten/Wirtschaften und Wohnen;
  5. Erziehung und Bildung;
  6. Kunst und Kultur;
  7. Religiosität und Spiritualität.

Innerhalb dieser Themenkreise wird weiter heruntergebrochen auf 42 verschiedene Reformbewegungen, darunter u. a.

  • Heimatschutz,
  • Naturheilbewegung,
  • Antialkoholbewegung,
  • Jugendbewegung,
  • Bodenreform,
  • Biologischer Landbau,
  • Reformpädagogik,
  • Jugendmusikbewegung u.v.m.

Die Lösungsansätze der verschiedenen Reformbewegungen enthielten eine Vielzahl an Widersprüchlichkeiten zwischen

  • Moderne und Antimoderne,
  • Fortschrittsbegeisterung und Reaktion,
  • rationaler Weltsicht und irrationaler Verstiegenheit,
  • Liberalität und Autoritätsdenken,
  • nüchterner Rationalität und esoterischer Geistgläubigkeit.

Unter ihren Vertretern findet sich ein Konglomerat von

  • verschrobenen Querulanten,
  • anarchistischen Weltverbesserern,
  • vergeistigten Kosmikern,
  • emanzipatorischen Revolutionären,
  • prophetischen Eiferern,
  • elitären Geistaristokraten und
  • sachlich-zweckorientierten Ratgebern.

Konsistenz und Widerspruchsfreiheit ist wenig ausgeprägt. Das gemeinsame Ziel ist der Wunsch nach Veränderung und Neugestaltung, um den Zivilisationsschock der Jahrhundertwende zu überwinden. Als Widerpart wurde der „wilhelminische Hohenzollernmythos“ in seiner Verbindung mit dem „industriell-kommerziell militärisch-klerikalen Komplex“ gesehen.16

Die deutsche bürgerliche Jugendbewegung – der Wandervogel

In der einschlägigen Literatur wird allgemein die Entstehung des Wandervogels um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Großraum von Berlin als Beginn der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung angesehen. Daneben bestand zwar auch eine proletarische und eine religiöse Jugendbewegung, aber der Wandervogel war für die weitere Ausformung der Bewegung prägend, und auch der nachfolgend beschriebene alkoholgegnerische Verein Österreichs, die „Deutsche Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur“, baute auf der Wandervogel-Tradition auf.

Das staatlich-offizielle Umfeld

Das wilhelminische deutsche Kaiserreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war geprägt von 30 Jahren des wirtschaftlichen, machtpolitischen und militärischen Aufschwunges. Das preußische Schulwesen jener Zeit war darauf ausgerichtet,

… tüchtige, fleißige, pflichtbewußte und züchtige junge Männer zu produzieren.17

Die Lehrer waren bestrebt, ihren Einfluß auf die Erziehung der Schüler auch außerhalb des Schulbetriebes wahrzunehmen, und auch die Erziehung zu Patriotismus und Militarismus war Teil der Schulpädagogik des Kaiserreiches. Staatlich verordnete „patriotische Gesinnung“, „glühende Vaterlandsliebe“ als Pflichtübung, vordergründige Schlagworte gehörten zum Alltag der Schüler. Ein jährlich wiederkehrender „Pflichttermin“ war der „Sedantag“, die Feier zur Erinnerung an den Sieg von Sedan am 2. September 1870 über Frankreich und die Gefangennahme Kaiser Napoleons III.

Die Entstehung des Wandervogels

Ein Vorläufer des Wandervogels war ein Stenographenverein, den der Student Hermann Hoffmann (-Fölkersamb) geschaffen hatte und der außerdem mit seinen Schülern in der Freizeit wanderte. Karl Fischer, einer seiner Schüler, war begeistert von diesem Leben und baute auf diesem Erleben eine Wandergruppe auf. Am 4. November 1901 gründete er – gemeinsam mit weiteren neun Personen – im Hinterzimmer des Steglitzer Rathauses den „Ausschuß für Schülerfahrten“ (A.f.S.).

Steglitz war um die Jahrhundertwende eine Gemeinde am Südrand Berlins mit ca. 20.000 Einwohnern. Seine Bevölkerung war großteils dem mittleren und höheren Bürgertum zuzurechnen. Offiziere, Beamte, Lehrer – es waren viele Menschen mit literarischen, künstlerischen, philosophischen Interessen, also Leute mit geistigem Beruf und Lebensinhalt. Aber es war auch eine hierarchische Gesellschaft: Preußische Standesunterschiede wurden gepflegt, pädagogisches Regelwerk, durchstrukturiertes Leben bestimmten das Dasein.

Aus diesem Substrat, welches das Leben der Jugend bis ins letzte Detail vorgab, in einer Zeit, in der „Jugend“ nur als Vorphase zur Schaffung eines „vernünftigen, leistungsfähigen und kaisertreuen Untertanen“ verstanden wurde – hier wuchs der Wandervogel hervor als Gegenentwurf einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und unabhängigen Jugend, die sich als Brückenzeit zwischen dem von Elternhaus und Schule abhängigen Kind und dem im Berufs-, Familien- und Erwerbsleben stehenden Erwachsenen verstand.

Der Name „Wandervogel“ stammte von der Inschrift eines Grabsteins auf dem Friedhof von Berlin-Dahlem:

Wer hat euch Wandervögeln die Wissenschaft geschenkt,
Daß ihr auf Land und Meeren nie falsch die Flügel lenkt?
Daß ihr die alte Palme im Süden wieder wählt,
Daß ihr die alten Linden im Norden nicht verfehlt!

Was trieb diese jungen Menschen dazu, kilometerlange Märsche auf sich zu nehmen, in Heu, Stroh oder auf blanker Erde zu nächtigen, auf offenem Feuer im „Hordentopf“ die gemeinsame Mahlzeit zuzubereiten, stundenlang um das Feuer zu sitzen, zu singen und den Sternenhimmel zu betrachten? Es war Sinn- und Bedeutungsfindung für das eigene Leben, das Finden von Selbstverantwortung durch Erlebnisse und Erfahrungen, der Wandel vom Einzel-Ich zum sozialen Ich.

Wenn es überhaupt ein klares Programm gab, so war es ein Programm des Anders-Seins. Einer der wesentlichsten Punkte war

… der Kampf gegen die erstarrten Formen der bürgerlichen Gesellschaft und gegen das Diktat der Erwachsenen in Schule und Elternhaus. […] Man versuchte vor allem, sich in Gebaren, Sprache und Aussehen von allen anderen Menschen zu unterscheiden. […] An Stelle des Äußerlichen, des Status- und Konsumdenkens setzte man Menschlichkeit, Askese, Bescheidenheit und Freundschaft. Als Hauptmerkmale, als charakteristisch für den Wandervogel und die Jugendbewegung standen „das Erlebnis der Gemeinschaft“, „das Erlebnis
der inneren Bindung“, die „kreative, musisch-ästhetische Gestaltung des Gemeinschaftslebens“
und die absolute „Selbstverpflichtung“.18

Der Wandervogel sah sich als „Jugendreich“ mit Jugendlichen als Führer und Vorbilder. Symbole waren die grün-rot-goldene Schnur und der sagenhafte weiße „Vogel Greif“ auf blauem Grund.

Schon früh, ab 1902, wurde die Alkoholfrage thematisiert, u.a. als Begründung gegenüber den Behörden, die Jugend von den Gefahren des Alkohols fernzuhalten. Einkehr in Wirtshäuser auf Fahrten war ausgeschlossen, die Führer sollten Vorbild sein und (zumindest auf Fahrt und Wanderung) abstinent leben. Abstinent zu leben, war innere Selbstverständlichkeit, aber nicht das Ziel, nicht nach außen gerichteter Überzeugungsgedanke. Trotz verschiedener Abspaltungen und unterschiedlicher Teilziele inzwischen entstandener Bünde suchte die Bewegung doch auch immer wieder das Gemeinsame und Einigende.

Die Meißner-Tagung

Den Höhepunkt der deutschen Jugendbewegung und ihrer Einigkeitsbestrebungen vor dem Ersten Weltkrieg bildete zweifellos der „Freideutsche Jugendtag“ auf dem „Hohen Meißner“ vom 10. bis zum 12. Oktober 1913. Das offizielle Deutschland rüstete im Herbst 1913 zu Feiern und Festlichkeiten im Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig im Jahre 1813 und zum Anlaß des 25-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II.

Die neue deutsche Jugendbewegung wollte dazu einen Gegenpol bilden, wollte den bürgerlich-patriotischen Gestaltungsplänen zu dieser Feier mit einem Fest ihrer Sicht und ihrer Gesinnung entgegentreten. Es
sollte das Gemeinsame der verschiedenen jugendbewegten Strömungen darstellen, zukunftsorientiert, zielgerichtet. In einem Aufruf zur Feier hieß es u.a.:

Die deutsche Jugend steht an einem geschichtlichen Wendepunkt. Die Jugend, bisher … aus dem öffentlichen Leben der Nation ausgeschaltet …, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, … sich selbst ihr Leben zu gestalten …

Die Tagung wurde mit Liedern, Volkstänzen, Ansprachen, Grußworten, Laienspiel und einem großen Lagerfeuer gestaltet. Inhaltlich waren die verschiedensten Interessensrichtungen vertreten:

  • Lebensreformer,
  • Alkoholgegner,
  • Rassehygieniker,
  • Reformpädagogen,
  • anarchistisch gesinnte Gruppen,
  • Sozialreformer,
  • Menschen aus der Siedlungsbewegung,
  • Naturreligiöse usw.

Die einzige Gemeinsamkeit, die als „größter gemeinsamer Nenner“ richtungsweisend das Wesen und das Ziel des Festes und im weiteren Sinne der Jugendbewegung ausdrückte, war die sog. „Meißnerformel“:

Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Für deren Durchführung gilt: Alle gemeinsamen Veranstaltungen sind alkohol- und nikotinfrei.

Der Wandervogel in Österreich

Der Österreichische Wandervogel (ÖWV) entstand in Böhmen. Der Prager Student Hans Mautschka hatte 1909 in Prag eine Gruppe gegründet. Zu Pfingsten 1911 lud er zu einem österreichischen Gautag nach Hirschberg am See (Nordböhmen) ein, wo

… am Pfingstmontag, dem 5. Juni 1911, zu Mittag “im Straßengraben” die Gründung des Österreichischen Wandervogels … beschlossen wurde.19

Durch den Nationalitätenkampf Österreich-Ungarns war der Wandervogel von Anfang an in die Konflikte der Deutschen gegenüber Tschechen, Italienern, Ruthenen oder anderen Volksgruppen eingebunden.

Die nationale Begeisterung aus der Zeit der “Reichsgründung”, die in Deutschland […] vielfach zur hohlen, nur zu nationalen Festlichkeiten hervorgeholten Phrase geworden war, hatte in Graz, Marburg an der Drau, Prag und Wien, [obwohl nur aus der Ferne miterlebt…] noch die Kraft eines […] Bekenntnisses. Sie war zugleich die Ankündigung der nächsten Welle der “deutschen Jugendbewegung”, die dann im Wandervogel […] auch nach Österreich herüberschlagen […] und [… hier] einen nationalkämpferischen Charakter erhalten sollte.20

Aus dieser Einbindung in die Nationalitätenfrage entstand auch ein enger Kontakt zu den „Schutzvereinen“, z.B.

  • dem „Deutschen Schulverein“,
  • der „Südmark“,
  • der „Nordmark“,
  • dem „Bund der Deutschen Nordmährens“,

deren Anliegen es war, den Bestand der deutschen Sprache und des deutschen Schulwesens an den Sprachgrenzen, vor allem gegen Tschechen und Slowenen, zu sichern.

Eine weitere Wurzel in dem Geflecht, aus dem der ÖWV hervorwuchs, war eine bereits bestehende Abstinenzbewegung. 1901 war in Wien „Akademischer Abstinentenverein“ gegründet worden, der sich 1906 der Gesellschaft gegen die Trinksitten „Nephalia“ anschloß. Im Februar 1910 kam es zur Gründung der Guttempler-Loge „Deutsche Kraft“, die sich 1911 in „Deutsch-Akademische Gemeinschaft“ umbenannte. Es waren fast ausschließlich Angehörige dieser alkoholgegnerischen „Deutsch-Akademischen Gemeinschaft“, die zu Pfingsten 1911 den Österreichischen Wandervogel gegründet hatten. So war die alkoholgegnerische Bewegung Österreichs maßgeblich an der Entstehung des Wandervogels beteiligt.

Die „Deutsche Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur“21

Dieser Verein wurde am 6. Jänner 1920 in Linz gegründet. Hervorgegangen war er aus einer Guttempler-Loge „Nephalia“, die wieder eine Folge von weltanschaulichen Auseinandersetzungen innerhalb der österreichischen Guttempler war. Dort gab es zwei Strömungen – eine klassisch-international ausgerichtete und eine, die sich als deutsch-arisch empfand. Als Folge dieser Auseinandersetzungen lösten sich die Deutschbewußten völlig los und gründeten schließlich den obgenannten Verein. Gemäß den Satzungen sah man

… im Alkoholismus ein gesellschaftliches Übel, das die Rasse gefährdet und die Entwicklung einer gesunden und edlen deutschen Kultur hindert.

Mitglied konnte

… jeder Deutsche arischen Stammes ohne Unterschied des Geschlechtes und unbekümmert um Parteirichtung und Glaubensbekenntnis…

werden. Jedes Mitglied verpflichtete sich mit Handschlag, persönliche enthaltsam zu leben, alkoholische Getränke nicht zuzubereiten, nicht zu kaufen, zu verkaufen oder zu verabreichen und auch nicht andere dazu zu veranlassen.

Gründungsobmann der „Deutschen Gemeinschaft“ (DG) war der Grazer Lehrer Stefan Schöck (geb. 1880), auch die meisten anderen Vorstandsmitglieder lebten in Graz. Man hatte guten Kontakt zu US-amerikanischen Alkoholgegnern und nahm sich das dort seit 1919 (und bis 1931) bestehende Alkoholverbot als Vorbild. Ein ähnliches Alkoholverbot wurde als langfristiges Ziel auch für Österreich gefordert.

Weiters hatte der Verein gute Kontakte zum Bundespräsidenten Hainisch, der selbst Alkoholgegner war und die Vereinstätigkeit im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstützte. Hauptgegner in der Agitation war die Alkoholwirtschaft, das „profitorientierte Alkoholkapital“, damit kam ein antikapitalistischer, sozialkritischer Gesichtspunkt in die Argumentation. Daneben wurden aber auch „Mäßige“ angegriffen, z. B. der Verband „Mäßig und frei“, die man als „Soldknechte des Alkoholkapitals“ bezeichnete. Inhaltlich argumentierte man mit Volks- und Heimatbewußtsein, der Alkohol zerstöre die Menschenwürde, und nur ein alkoholfrei lebendes Volk sei ein gesundes Volk; „Alkoholgegnerschaft als Schritt zur Volkswerdung“.

In Gestaltung und Form berief sich der Verein zunehmend auf die Jugendbewegung, speziell den Wandervogel, denn Jugend und Jugendbewegung seien in der Lage, deutsches Wesen zu erneuern. Ein weiteres Arbeitsfeld, um Kinder und Jugendliche für die Alkoholabstinenz anzusprechen, war die sog. „Jungschar“. Dies war eine lose an den Verein angebundene Organisation, die, mit behördlicher Unterstützung, eng mit Lehrern und Schulen zusammenarbeitete, dort Aufklärungs-veranstaltungen durchführte und ein sog. „Goldenes Buch“ führte, in welches sich Schulkinder bis zum 14. Lebensjahr eintragen konnten und sich damit verpflichteten, keinen Alkohol zu trinken.

Hauptverantwortlich für die Jugendarbeit war der Lehrer (und spätere Schriftsteller) Karl Springenschmid aus Wagrain (Land Salzburg). Springenschmid hatte die Begabung, Jugendliche anzusprechen und zu begeistern, ihnen in der Alkoholenthaltsamkeit ein erstrebenswertes Ziel zu zeigen und mit der Durchführung eigener Jugendfahrten und Jugendtreffen nach Art des Wandervogels ein erlebnis- und abenteuerliches Leben zu bieten.

Organisatorisch war der Verein in Ortsgruppen gegliedert. Am Beginn gab es acht Ortsgruppen, die aus der „Nephalia“ hervorgegangen waren. Zwischen 1920 und 1926 wuchs die Zahl der Ortsgruppen und Mitglieder rasch.

  • Ende 1920 gab es 9 Ortsgruppen mit insgesamt 380 Mitgliedern,
  • 1921 19 Ortsgruppen mit 700 Mitgliedern,
  • 1922 53 Ortsgruppen und 1600 Mitglieder,
  • 1923 60 (2300),
  • 1924 63 (2800),
  • 1925 67 (1700) und schließlich
  • Ende 1926 77 Ortsgruppen mit knapp 3000 Mitgliedern.

Die „Blütezeit“ der Vereinstätigkeit lag in den Jahren bis etwa 1929. Mit Einbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 und der ganz allgemein zunehmenden Radikalisierung des politischen Lebens in Österreich änderte sich dies. Vor allem der Aufstieg der illegalen NSDAP beherrschte den politischen Alltag. Zunehmende Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Notlage der Bevölkerung ließen wenig Raum, sich mit der Alkoholfrage zu befassen.

1929 wurde Walter Rafelsberger zum Bundesvorsitzenden gewählt. Dieser, 19 Jahre jünger als der bisherige Obmann, brachte sehr bald einen wesentlich radikaleren und militanteren Zug in die „Gemeinschaft“ ein. Auch die Junggemeinschafter traten zunehmend als „Kämpfer“ auf und sahen sich als alkoholfreie Elite innerhalb einer nationalen Jugendbewegung.

Parallel zur politisch-ideologischen Radikalisierung stagnierte die Vereinsarbeit, manche Ortsgruppen wurden wegen Untätigkeit von der Bundesleitung aufgelöst, manche lösten sich selbst freiwillig auf. Der autoritäre Ständestaat (seit 1933 war Österreich eine christlich-sozialklerikale Diktatur) überwachte die Vereinstätigkeit, vor allem die Jugendarbeit, scharf, es gab aber keine behördliche Auflösung aus politischen Gründen.

Die beiden maßgeblichen Führungspersonen, Rafelsberger und Springenschmid, traten der NSDAP bei, Rafelsberger im Jahre 1934 auch der SS. Auch bei manchen anderen Funktionären in den Ortsgruppen ist eine Nähe zur NSDAP anzunehmen, denn in den behördlichen Vereinsakten heißt es mehrmals, daß dieser oder jener „auf der Flucht“ oder „nach Deutschland ausgewandert“ sei.

Die DG sah sich zunehmend als „elitäre Kampfgemeinschaft“, die grundsätzliche Volkstumspolitik betreiben und in einen „deutschen Freiheitskampf“ eingreifen müsse, die eine „Führerschicht zur Überwindung der Trinksitten“ zu bilden habe.

Abschließend läßt sich sagen, daß die „Deutsche Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur“ nach einem schwungvollen Beginn im Jahre 1920 etwa 5 bis 7 Jahre zunehmend an Gewicht und Bedeutung gewann, dann noch etwa 2 bis 3 Jahre stagnierte und sich ab 1930 einengte und auf eine „elitäre Minderheit“ schrumpfte. Ab 1934 ist keine konkrete Vereinsarbeit mehr dokumentiert. Angesichts der Entwicklung der politischen und sozialen Lage zwischen 1927 und 1934 und der Verschiebung der Gewichte der öffentlichen Wahrnehmung ist dies allerdings verständlich.

Soweit Hermann Soyka

Klar ersichtlich ist aus seiner Darstellung, wie sich die Voraussagen der Lebensreformer aus damaliger Zeit heute bewahrheitet haben: Einerseits die verheerenden Folgen des Kapitalismus für alles Lebendige, doch andererseits die noch heute wirkenden Gegenkräfte in einigen – vielleicht weiterentwickelten – Erneuerungsbewegungen mit ihrem Kampf für Leben und Arterhaltung. Es ist noch nicht alles verloren, aber vieles. Bleiben wir tapfer auf der Seite der Kämpfer für die Erhaltung des Lebendigen auf unserer Erde! Adelinde

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Anmerkungen:

1 Vgl. Baumgartner, Judith: Antialkoholbewegung. In: Kerbs, Diethart und Reulecke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal, 1998, 141-154, hier 143.

2 Vgl. Baumgartner, Judith: Antialkoholbewegung. Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit? In: Buchholz, Kai u.a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1. Darmstadt, 2001, 383-385, hier 383.)

3 Hufeland, Christoph Wilhelm: Über die Vergiftung durch Branntwein. Berlin, 1802.

4 Vgl. Schaller, Sabine: Kampf dem Alkohol. Weibliches Selbstverständnis und Engagement in der deutschen alkoholgegnerischen Bewegung (1883-1933). Univ. Diss. Freiburg/Br., 2009, 67.

5 Vgl. Schaller, Kampf dem Alkohol, 84.

6 Bunge, Gustav: Die Alkoholfrage. Antrittsvorlesung an der Universität Basel, 23. Nov. 1886, 15.

7 Vgl. Forel, Auguste und Schwiedland, Eugen: Warum soll man den Alkohol meiden? Wien, Leipzig, München, 1924, 19.

8 Kraepelin, Emil: Alkohol und Jugend. Nach einem Vortrage vor den Oberklassen der Heidelberger Mittelschulen. Basel, Schriftstelle des Alkoholgegnerbundes, 1915.

9 Witte, Emil: Die Alkoholfrage in religiöser Beleuchtung. Bonn, 1907.

10 Adler, Viktor: Alkoholismus und Gewerkschaft. Referat, gehalten auf dem fünften österreichischen Gewerkschaftskongreß 1907 zu Wien. Wien, Arbeiter-Abstinentenbund in Österreich, 1907.

11 Tandler, Julius: Die Sozialbilanz der Alkoholikerfamilie. Eine sozialmedizinische und sozialpsychologische Untersuchung. Wien, 1936. Kreuzbund

12 Vgl. Gläß, Theo und Biel, Wilhelm: Der Guttempler-Orden in Deutschland. 2 Bde., Hamburg, 1979. Band 1, 1889-1945., 8f.

13 Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen: Einleitung der Herausgeber. In: Kerbs/Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen. Wuppertal, 1998, 10-18, hier 10.

14 Klages Ludwig: Mensch und Erde. In: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913. Jena, 1913, 91.

15 Ebd., 98.

16 Vgl. Wolbert, Klaus: Die Lebensreform – Anträge zur Debatte. In: Buchholz et al.: Die Lebensreform, Bd. 1, 13-21, hier 17.)

17 Ille, Gerhard: Schülernot und Jugendkult im deutschen Kaiserreich – zur Situation der bürgerlichen Jugend um 1900. In: Ille, Gerhard/Köhler, Günter (Hg.): Der Wandervogel. Es begann in Steglitz. Berlin, 1987, 30-53; hier 30.

18 Herrmann, Ulrich: Wandervogel und Jugendbewegung im geistes- und kulturge-schichtlichen Kontext vor dem ersten Weltkrieg. In: Herrmann, (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit …“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. Weinheim und München, 2006, 60-61.

19 Ursin, Karl und Thums, Karl: Der Österreichische Wandervogel. In: Ziemer, Gerhard/Wolf, Hans (Hg.): Wandervogel und Freideutsche Jugend. Bad Godesberg, 1961, 294-326; hier 295.

20 Ursin/Thums, Der Österreichische Wandervogel, 303.

21 Als Hauptquelle zu diesem Kapitel diente die Vereinszeitschrift „Deutsche Gemeinschaft, Zeitschrift für alkoholfreie Kultur“.

Schrifttum

  • Adler, Viktor: Alkoholismus und Gewerkschaft. Referat, gehalten auf dem fünften österreichischen Gewerkschaftskongreß 1907 zu Wien. Wien; Arbeiter-Abstinentenbund in Österreich, 1907.
  • Baumgartner, Judith: Antialkoholbewegung. In: Kerbs, Diethart und Reulecke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal, 1998, 141-154.
  • Baumgartner, Judith: Antialkoholbewegung. Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit? In: Buchholz, Kai u.a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. 1. Darmstadt,2001, 383-385.
  • Buchholz, Kai; Latocha, Rita; Peckmann Hilke; Wolbert, Klaus (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde., Darmstadt, 2001; Bd. 1.
  • Bunge, Gustav: Die Alkoholfrage. Antrittsvorlesung an der Universität Basel, 23. Nov. 1886.
  • Deutsche Gemeinschaft: Mitteilungen der Deutschen Gemeinschaft für Alkoholfreie Kultur, Wien. Vereinszeitschrift, nachweisbar von 1923 bis 1934.
  • Forel, Auguste und Schwiedland, Eugen: Warum soll man den Alkohol meiden? Wien, Leipzig, München, 1924.
  • Gläß, Theo und Biel, Wilhelm: Der Guttempler-Orden in Deutschland. 2 Bde., Hamburg, 1979. Band 1, 1889-1945; Band 2, 1945-1980.
  • Herrmann, Ulrich: Wandervogel und Jugendbewegung im geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext vor dem ersten Weltkrieg. In: Herrmann, Ulrich (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit …“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. Weinheim und München, 2006, 30-79.
  • Hufeland, Christoph Wilhelm: Über die Vergiftung durch Branntwein. Berlin, 1802.
  • Ille, Gerhard: Schülernot und Jugendkult im deutschen Kaiserreich – zur Situation der bürgerlichen Jugend um 1900. In: Ille/Köhler: Der Wandervogel, Es begann in Steglitz., Berlin, 1987; 30-53.
  • Kerbs, Diethart und Reulecke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal, 1998.
  • Klages Ludwig: Mensch und Erde. In: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913. Jena, 1913.
  • Kraepelin, Emil: Alkohol und Jugend: Nach einem Vortrage vor den Oberklassen der Heidelberger Mittelschulen. Basel, Schriftstelle des Alkoholgegnerbundes, 1915.
  • Schaller, Sabine: Kampf dem Alkohol. Weibliches Selbstverständnis und Engagement in der deutschen alkoholgegnerischen Bewegung (1883 – 1933). Freiburg/Br., Univ. Diss., 2009.
  • Tandler, Julius: Die Sozialbilanz der Alkoholikerfamilie: Eine sozialmedizinische und sozialpsychologische Untersuchung. Wien, 1936.
  • Witte, Emil: Die Alkoholfrage in religiöser Beleuchtung. Bonn, 1907.
  • Wolbert, Klaus: Die Lebensreform – Anträge zur Debatte. In: Buchholz/Latocha/Peckmann/Wolbert: Die Lebensreform, Bd. 1, 13-21.
  • Ziemer, Gerhard/Wolf, Hans (Hg.): Wandervogel und Freideutsche Jugend. Bad Godesberg, 1961.
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