Die Westverschiebung Polens 1945 – 4. Teil

Und weiter mit Thomas Darnstädt und Klaus Wiegrefe, zitiert von

Thomas Engelhardt

Es war zwei Tage vor Churchills 69. Ge-burtstag. Der Gastgeber, US-Präsident Roosevelt, fühlte sich unpäßlich und ging früh zu Bett. Der Briten-Premier Churchill und der Kreml-Herr Stalin machten es sich auf dem Sofa bequem, um über die Nach-kriegsordnung zu plaudern.

Stalin war daran interessiert, den Ostteil Polens – in dem überwiegend Ukrainer und Weißrussen lebten – zu behalten, den Hitler ihm bereits 1939 zugestanden hatte: Galizien mit der Metropole Lemberg und den Ölfel-dern sowie Wilna und die weißrussische Ebene.

Churchill sagte, er habe nichts dagegen, wenn Polen nach Westen wandere „wie Soldaten, die zwei Schritte nach links auf-schließen“. Die Verluste des geschundenen Landes im Osten sollten im Westen durch den Zugewinn deutscher Gebiete kompensiert werden. Ein ganzer Staat, versetzt um einige hundert Kilometer!

Der Sowjetdiktator, ein ausgefuchster Schauspieler, gab sich skrupulös – da zog Churchill eine Streichholzschachtel heraus und entnahm ihr drei Hölzchen, die Weltge-schichte machten: Eines stand für Rußland, das zweite für Polen, das dritte für Deutsch-land. Das russische – rechts – schob der Brite nach links. Da mußten die beiden anderen auch nach links rutschen. „Das gefiel Stalin“, notierte Churchill.

Natürlich nahm sich der gerissene Kreml-Chef später ein größeres Stück vom Vor-kriegs-Polen, als es dem Bündnispartner lieb war. Die Zeche – das war die Logik des Spiels mit den Hölzchen – zahlten am Ende die Deutschen. Ihre Höhe stand allerdings auch im Frühsommer 1945 noch nicht fest.

Görlitz, 28. Mai 1945: Der Pfarrer Scholz no-tiert in seinem Tagebuch, das er später als Zeitdokument veröffentlicht:

„Die nach Osten wogenden Ströme der heimkehrenden Flüchtlinge werden ab heute von schwer bewaffneten Komman-dos an der Schenkendorffstraße aufge-halten. Zu Hunderten und Tausenden stehen sie da mit ihren Gespannen.“

Eine Woche zuvor hatte Wladyslaw Gomulka, der mächtige Generalsekretär der polnischen KP, beim Plenum des Zentralkomitees Krisen-stimmung verbreitet: Die „Rückkehr der Deut–schen“ bringe die Vereinbarungen der Alliier-ten in Gefahr.

Am 1. Juni werden fünf Divisionen der neuen polnischen Armee an die Oder und an die Görlitzer Neiße beordert. Der Eiserne Vor-hang geht herunter. Rückkehr für Deutsche nach Schlesien oder Pommern verboten. Wer es trotzdem wagt, landet in den Folterkellern im Osten von Görlitz.

Fast fünf Millionen Deutsche leben noch jenseits des Eisernen Vorhangs unter polni-scher Verwaltung. Nun droht auch ihnen der Austrieb. Denn was konnten die polnischen Kommunisten ihren Landsleuten in diesem völlig zerstörten und im Osten vom Genossen Stalin kaltschnäuzig amputierten Land schon bieten? Häuser und Boden der Deutschen – und die Vision eines homogenen National-staats, den fast alle Polen wollten. Gomulka:

„Wir müssen die Deutschen hinauswer-fen, da alle Länder auf nationalen, nicht multinationalen Grundlagen errichtet sind.“

Eigentlich sollte erst im Juli, auf der Pots-damer Konferenz der Siegermächte, ent-schieden werden, wie es weitergeht. Noch war ja ungeklärt, wo genau die neue Grenze zwischen Polen und Deutschland verlaufen würde. Doch die polnische Regierung hatte das Gesetz des Handelns längst in die Hand genommen – von Stalin dazu ermuntert.

Schon rollten aus den einstigen Ostprovinzen Polens, die an die Sowjetunion fielen, in offe-nen Viehwaggons eineinhalb Millionen Landsleute heran, darunter 150 000 Juden, die gerade dem „Holocaust“ entronnen wa-ren. Für ihre Häuser und Höfe hatte man ihnen Kompensation versprochen; sie sollten nun in Breslau oder Pommern siedeln. Doch da waren immer noch die Deutschen.

Edward Ochab, der Innenminister in War-schau, entschied, die übrig gebliebenen, unter polnischer Aufsicht befindlichen Deutschen in drei Gruppen zu teilen:

  • Die erste, so sein Beschluß, möge man zu Fuß „in kleinen Herden über Oder und Neiße“ hinaustreiben.

  • Die zweite habe sich aus Fachleuten und Experten zusammenzusetzen, die man vorerst noch brauche.

  • Als dritte Gruppe schließlich qualifi-zierte der Politiker Menschen in Städten und grenzfernen Gebieten, die man nicht so schnell aus dem Lande bekom-me. Die sollten erst einmal in Lagern untergebracht werden.

Die polnischen Armeeeinheiten im Westen – zuständig für die Gruppe eins – bekommen nun aus Warschau den Auftrag,

„mit den Deutschen so umzugehen, wie die mit uns umgegangen sind“.

Der Befehl an die polnische West-Truppe: Behandelt die so,

„daß sie von selbst fliehen“.

Den meisten muß man das nicht zweimal sagen.

Vom 20. Juni an läuft die erste große Aus-weisungswelle nun auch in Niederschlesien, das nach Meinung der Westalliierten gar nicht an Warschau fallen sollte. Aber wer – außer Stalin – kann die Polen noch stoppen?

„Wie ein Blitz aus heiterem Himmel“,

so beschreibt Georg Gottwald, katholischer Dekan im schlesischen Grünberg, sei der Befehl gekommen, binnen sechs Stunden müsse der gesamte Stadt- und Landkreis „deutschenfrei“ sein.

Der Ablauf war immer derselbe: Militärtrupps umstellten die Häuser, und deren Bewohner wurden mit Schüssen oder unter Einsatz von Gewehrkolben und Peitschen aus dem Bett geprügelt, ausgeplündert und unverzüglich in Marsch gesetzt.

Mehrere Tage lang wankten so ungezählte Schlesier zu Fuß bis zur 250 Kilometer ent-fernten Neiße. Im schlesischen Herrnstadt wurde ein ganzes Altersheim auf solche Weise vertrieben. Die gebrechlichen Greise kippten unterwegs in Scharen tot um.

Den Pommern ging es ebenso schlecht. Am 1. Juli, nachmittags um 17.30 Uhr, erschien der neue polnische Bürgermeister einer Gemein-de mit Namen Gottschimmerbruch, im Schlepptau zwei Polizisten. „In 30 Minuten raus“, wurde die Bäuerin Anna Kientopf angeherrscht. Zugleich brachte das Räum-kommando, wie die Frau später zu Protokoll gab, „eine Menge Ukrainer-Jungs“ mit auf den Hof. Vertriebene ersetzten Vertriebene.

Als sich der eilends zusammengestellte Treck, zu dem auch Anna Kientopf gehört, in Richtung Westen in Gang setzt – ein Elends-marsch der Entwürdigten -, schlägt ein auf-geputztes polnisches Mädchen mit Topf-deckeln den Takt dazu.

Und dann die Nächte im Wald: Wenn die Son-ne aufging und der Boden sich erwärmte, er-füllte ein „Pesthauch“ – Leichen von Menschen und verwesenden Tieren – die Luft. Ungeheu-re Schwärme blauer Fliegen saßen auf den Toten.

Görlitz, 21. Juni: Die Vertreibung hat auch Pfarrer Scholz erreicht. Er muß seine Woh-nung räumen und gesellt sich nun zu denen, die mit ihrem bißchen Habe in Parkanlagen und auf Wiesen umherirren und nicht weiter wissen. Die Baumstämme sind weiß vor Zet-teln, auf denen Kinder ihre Mütter suchen und Mütter ihre Kinder.

An den folgenden Tagen gibt es am west-lichen Ufer der Neiße bald keinen Fleck zum Treten mehr. Tausende und Abertausende werden über die Brücke nach Görlitz-West gepreßt. Dort wächst langsam das Chaos zur Katastrophe: Es gibt ja keine funktionierende Stadtverwaltung, kein Wasser, keine Nahrung mehr.

Schließlich ein Ultimatum von oben: Binnen 48 Stunden müssen die Habenichtse am Westufer das Stadtgebiet verlassen haben. Der diesseitig liegende Stadtteil droht nun auch noch von den Polen vereinnahmt zu werden.

Mitten im großen Tohuwabohu geschieht zusätzlich Verwirrendes. Am 29. Juni meldet der Stabschef des 27. polnischen Infanterie-regiments an den Stabschef der 7. Infante-riedivision, daß die Aussiedlung

„wegen des entschiedenen Widerspruchs der Führung der Roten Armee“

eingestellt worden sei. Es hätten sich Fälle ergeben,

„in denen unsere Soldaten von der Führung der Roten Armee unter Be-teiligung bewaffneter Deutscher ent-waffnet, verhaftet und geschlagen wurden“.

Nachforschungen bestätigten, daß tatsächlich ein polnisches Armee-Kommando bei seinem Versuch, Deutsche aus Hirschberg zu vertrei-ben, von Russen umringt, gefangen genom-men und zwei Tage eingesperrt worden war.

Diese erst kürzlich wieder aufgefundene Meldung – „Nummer 24“ – untermauert, was Historiker seit langem vermuteten: Die Polen hatten ihre Aktionen nicht einmal mit den Russen hinreichend besprochen.

Und der große Bruder reagierte empört. Weitere Hungerleider aus den polnisch be-setzten Gebieten wollte er in seiner Zone – der späteren DDR – nicht haben. Zumindest noch nicht.

Am 15. Juli, einem strahlenden Sommertag, geschieht in Görlitz ein kleines Wunder: Der Westen der Stadt wird nun doch nicht von den Polen beansprucht.

Und noch ein Wunder: Der Strom der Vertrie-benen aus dem Osten versiegt. Aber die Hoffnung, daß es mit dem Grauen ein Ende haben könnte, erfüllt sich nicht. Irgendein Mächtiger hat da nur wieder mal mit Streich-hölzern gespielt.