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Erkennen und Schaffen aus dem seelischen Einssein mit dem göttlichen Wesen der Erscheinungswelt.

 

 

 

 

 

„Die Sprache der Schriften ist betont nichtphilosophisch, Fachtermini werden vermieden oder mit Übersetzung versehen“, vermeldet

Frank Schnoor 2001 in seiner Doktorarbeit über „Mathilde Ludendorff und das Christentum“. [1]

Ihre Sprache entspricht nicht der Norm, die in philosophischen Fachkreisen als die gültige hochangesehen ist. Dieser Norm entspricht seit zweieinhalb Jahrtausenden eher Nüchternheit, Unanschaulichkeit, theoretische Konstruktion, ja bloße Wortspielerei, kurz die Vorgehensweise des alles zerteilenden Logos, der grübelnden Vernunft.

Auf ganz andere Weise ist tatsächlich Mathilde Ludendorff dazu gekommen, ihre Werke zu schreiben. Sie ist der „schauende Erkenntnistyp“, wie ihn die Philosophin Annegret Stopczyk z. B. in Giordano Bruno sieht.

Bruno sah sich nicht als Subjekt seiner Erkenntnisse, er verstand sich nicht als Macher und Hervorbringer, sondern wie Parmenides als ein von Diana geführter Mann … Gleichzeitig präsentierte er sich nicht als Aktiver, wie es sich seit Aristoteles für einen Vernunftmann gehörte, sondern als passiver, schauender Erkenntnistyp. [2]

Passivität gehört zu den für „weiblich“ und damit seit Aristoteles und seinen Lehrern Platon und Sokrates für minderwertig eingeschätzten Verhaltensweisen. Werfen wir also zuvor einen Blick sowohl auf Parmenides wie auf Bruno!

Der Vorsokratiker Parmenides von Elea [3]

erkannte, daß unsere Wahrnehmungen von der Welt der Erscheinungen nur eine Scheinwahrheit wiederspiegeln, während die wirkliche Welt „das Sein“ sei: die unveränderliche, ungeschaffene, unzerstörbare, ewige Wirklichkeit ohne jede Bewegung und Veränderung.

In mythischen Bildern schildert er sein Einswerden mit dem Göttlichen:

Die Stuten, die mich tragen, soweit mein Herz nur begehrt, geleiteten mich, seitdem sie mich auf den kundenreichen Weg der Göttin geführt …

Er wird also getragen, ist selbst passiv, und dies Getragen-Werden, soweit das Herz nur begehrt, das währt, seitdem er zur Göttin, zum Göttlichen geführt wurde. Er erzählt weiter:

Auf diesem Weg ließ ich mich tragen; denn auf diesem trugen mich die verständnisreichen Stuten, indem sie den Wagen zogen, und Jungfrauen wiesen den Weg … zuvorkommend empfing mich die Göttin …: „Junger Mann, der du in Begleitung unsterblicher Wagenlenkerinnen mit den Stuten, die dich tragen, unser Haus erreicht hast, sei willkommen!“

Parmenides ließ sich tragen und führen, noch dazu von weiblichen Kräften „auf kundenreichem Weg, der den wissenden Mann über alle Städte hin trägt“ [4] zur Göttin. Er kleidet sein erhabenes Erleben in mythische Sinnbilder. Auf diese Weise werden auch die uralten Märchen entstanden sein.

Gleiches erfahren wir bei Giordano Bruno,

der die „Vorsokratiker“ lobt, die noch ganzheitlich und in den Bildern der alten Mythen dachten, der den „Sokratismus“ zurückweist – wie er das neuaufgekommene Denken nennt, das einzig die Vernunft als Erkenntnisfähigkeit gelten läßt, und der den Zugang zur Weisheit der Mythen verloren hatte. Bruno lehnt den Dualismus Platons scharf ab und schilt die „Dürftigkeit“ des Übervaters moderner, bis heute vorherrschender Denkweise, nämlich die des Aristoteles, der- wie Bruno schreibt –

niemals müde wird, das, was in Natur und Wirklichkeit ungesondert ist, im Verstande zu sondern. [5]

In Brunos Werk „Von den heroischen Leidenschaften“ [6] finden wir seine Anknüpfung an die Vorsokratiker in der mythisch-bildhaften Wiedergabe seines Erlebens, daß die menschliche Seele in ihrer Suche nach Erkenntnis und Weisheit dem Jäger Aktaion gleiche, der der Göttin Diana nachjagt und

dem vom Schicksal gewährt ist, Diana nackt zu schauen und dahin zu kommen, daß die schöne Liebesgestalt der Natur ihn ganz verzaubert, und der dann, durch die beiden Augen, durch die er den Glanz göttlicher Güte und Schönheit wahrgenommen, in den Hirsch verwandelt wird und fortan nicht mehr Jäger, sondern gejagtes Wild ist.

Man beachte: Durch seine eigenen Augen, die das unverhüllte Göttliche geschaut haben, wird er selbst in ein gejagtes Tier verwandelt. Bruno:

Denn das letzte und endgültige Ziel dieser Jagd … ist eben das, jene flüchtige und wilde Beute zu erreichen, durch die der Erbeuter selbst zur Beute, der Jäger zum gejagten Wild wird.

Das heißt mit anderen Worten: Wer das Göttliche schaut, wird von ihm eingenommen, mit ihm geschieht eine Anverwandlung seiner Seele an das Göttliche. Bruno fährt fort:

Doch wer seine Jagd auf einzelne Dinge richtet, gelangt … schließlich dazu, diese … Dinge an sich zu reißen, indem er sie mit dem Munde der eigenen Erkenntnis erfaßt [er meint die alles zerteilende Vernunft] … bei jener göttlichen und allumfassenden Jagd aber vollzieht sich das Fangen so, daß auch er notwendigerweise gefangen, aufgesogen und geeint wird.

Dadurch wird er aus einem gewöhnlichen, durchschnittlichen und dem alltäglichen Volk angehörenden Menschen zu einem wilden Wesen, wie ein Hirsch oder ein Bewohner der Wildnis; gleichsam göttlich lebt er in der Erhabenheit des Waldes, in den nicht durch Menschenkunst gestalteten Gemächern höhlenreicher Berge, wo er den Ursprung der großen Ströme bewundert, wo er von den gewöhnlichen Begierden unberührt und rein dahinlebt, wo die Gottheit freier umgeht … so daß er nun nach seiner Diana nicht mehr wie durch Ritzen und Fenster zu spähen braucht, sondern die trennenden Wände niederwirft und angesichts der ganzen Weite des Horizonts ganz Auge wird.

So schaut er das Ganze wie ein Einziges und sieht nicht mehr durch Unterscheidung und Zählung, wie sie sich aus der Verschiedenheit der Sinne ergibt, durch die man wie durch Ritzen nur in verworrener Weise wahrnehmen kann.

Hier treffen wir auf

deutliche Parallelen des Erlebens Giordano Brunos, des Italieners aus Nola, zu dem der deutschen Philosophin Mathilde Ludendorff,

die in ihrem Werk „Selbstschöpfung“ den Seelenwandel beschreibt, der sich in der Gott schauenden Seele vollzieht, ja, der Voraussetzung für Gotterkennen ist. [7] Dort heißt es:

Gottesbewußtheit bedingt Einklang der Seele mit Gott…
Gottesbewußtheit bedingt Wahlverschmelzung mit Gott…
Gotteinheit aber bedingt Erlösung vom unvollkommenen Sein.

Das „unvollkommene Sein“ (M. L.) mit seinen „gewöhnlichen Begierden“ (G. B.) ist die Folge des Selbsterhaltungswillens, der – wie Mathilde Ludendorff darlegt – im Menschen von der göttlichen Einheit des Alls abgesondert und ohne Rücksicht auf sie darauf aus ist, Lust zu häufen und Leid zu meiden. Und wie Bruno bedient sich auch Mathilde Ludendorff eines Naturbildes, um die Erhabenheit des Gotterlebens zu versinnbildlichen: [8]

Stille harret auf einsamer Höhe, lautlose Stille,
Das Schweigen lauschet mit uns auf nächtlich umdunkeltem Gipfel.
Ein heiliges Klingen hebt an, das Werdelied der vollkommenen Seele.

Mathilde v. Kemnitz (später Ludendorff) als junge Ärztin und Philosophin

In diesem „Werdelied“ führt Mathilde Ludendorff in ihrem Werk „Selbstschöpfung“ ähnlich dem Brunoschen Bild von den „Ritzen und Fenstern“ das Bild des Seelenkerkers vor Augen, aus dem sich die Seele selbst befreit, indem sie Steine aus den Mauern herausbricht und somit Licht und Luft hereinströmen läßt, bis ihr einst der Abflug ins Unendliche gelingt und sie der Mauern für immer ledig ist, die sie von der in Allem waltenden Gottheit getrennt haben.

Bei Bruno „wirft“ die Seele „die trennenden Wände nieder“ und wird nun angesichts der ganzen Weite des Horizonts „ganz Auge“.

Für Mathilde Ludendorff war das Hochgebirge seelische Heimat und zugleich Sinnbild menschlicher Seelenverfassungen. Dort auf dem Rofan, im Angesichte des Todes bei der Grablegung ihres Ehemannes Gustav Adolf v. Kemnitz,

kam jene seltsame Klarheit stärker denn je zuvor über mich, jene Überwachheit, wie sie in der Zukunft das große Schaffen der Werke meines Gotterkennens mir dann wieder und wieder schenkte. [9]

Die Gottschau läßt beide Philosophen zu Dichtern werden.

Bruno wird deshalb auch – mehr oder minder herablassend – als „Dichterphilosoph“ eingestuft. Mathilde Ludendorff wird ihr „Stil“ angekreidet. Sie berichtet selbst über ihre Gedanken zur Sprache der Philosophie: [10]

Während die Wellen des Sees mir zu Füßen rauschten, lag ich jeden Tag am Strand … und schrieb ungestört nieder, was leise und dann lauter und immer herrlicher zu klingen begann. Ich … erkannte im Schreiben, daß es Dichtersprache wurde. Wie seltsam! Wenn ich zuvor bei Kant gelesen, wie er die Hoffnung aussprach, daß seine Erkenntnis wohl irgendwann einmal von einem Dichter in die gehobene Sprache der Dichtkunst gekleidet werde, da hatte ich ihm im Geiste geantwortet: „Ach, lieber Kant, das hast du vergeblich erhofft, denn hier könnte nur der dichten, der das schöpferische Erleben der Erkenntnis gehabt hat.“

Über das Erleben, das dem Beginnen mit dem Prosateil ihres ersten philosophischen Werkes “Triumph  des Unsterblichkeitwillens” vorausgegangen war, berichtet sie:

Es waren nur wenige Tage vergangen, da ging ich von der Sprechstunde aus an den Kramerhang auf jenem Weg, den ich schon so manches Mal im Mondschein aufgesucht hatte, bis hin zu einem einsamen Waldplätzchen, das zwischen Tannen die erhabene Zugspitzgruppe freigab, und ließ des Erlebens Allgewalt, das ich in den Felsen jüngst gehabt, wieder über mich kommen … meine überwache Seele erlebte mit unbeschreiblicher, erhabener Schönheit und Kraft den Sinn des Lebens aller bewußten Seelen. [11]

Mathilde Ludendorff „ließ des Erlebens Allgewalt wieder über sich kommen“. Sie war nicht die „Macherin“, passiv ließ sie es über sich kommen. Früher schon, Jahre vor Beginn ihres philosophischen Schaffens, war in ihr unversehens etwas entstanden, dessen Nichtvergehen sie sich wünschte, was man aber nicht aktiv herbeibefehlen kann:

O diese köstliche Klarheit, dieses Überwachsein, möchte es doch nie mehr schwinden, so sehnte ich. Aber weiter, als zu der Gewißheit, daß sich hier der Weg zu den heiligen Rätseln öffnete, drang ich nicht, denn durch „Nachdenken“ läßt sich diese leuchtende Klarheit nichts abringen! [12]

Philosophen dieser Art

passen weder ins abendländische noch ins morgenländische oder asiatische Herrschaftssystem,

stellt Annegret Stop­czyk sehr richtig fest. Der Doktorand der Theologie Frank Schnoor gehört dem Herrschaftssystem innerhalb seines Christentums noch an. Aus diesem, seinem Blickwinkel zitiert er Erich Ludendorff, der das Schaffen seiner Frau aus nächster Nähe beobachten konnte:

Es ging von meiner Frau die höchste Weihe aus, wenn sie in tiefster Empfindsamkeit oft in transzendentaler Schau die Werke gestaltete. [13]

Schnoor versieht das Wort „Schau“ mit einem „[sic.]“; er scheint hier einen kennzeichnenden Ausdruck entdeckt zu haben, mit dem Mathilde Ludendorff das „Nichtphilosophische“ nicht nur ihrer Sprache, sondern ihrer Werke insgesamt seiner Meinung nach selbst verrät: die „Schau“, vermerkt er, „also ein aus der mystischen Tradition stammender Begriff“. [14]

Mit seiner Schublade „Mystik“ will er Mathilde Ludendorffs Philosophie abqualifizieren. Er scheint überzeugt zu sein, damit die richtige Wahl getroffen zu haben, denn er setzt das Wort „philosophische“ ebenso wie das Wort „Werke“, wenn sie diejenigen Mathilde Ludendorffs betreffen, stets in Anführungszeichen und nennt ihre Werke „Schriften“, ja versteigt sich gar dazu, sie „monomanische Elaborate“ zu nennen, denen er nicht dadurch „zuviel der Ehre antun“ wolle, daß er „alle Gesichtspunkte“ der Philosophie Mathilde Ludendorffs „nachzeichnete“. Dennoch sieht er sich zu einer „gewissen Ausführlichkeit“ gezwungen, „wegen der z. T. recht eigentümlichen Vorstellungen und der spezifischen Terminologie“ Mathilde Ludendorffs. [15]

Mit dieser Einschätzung und Polemik stellt sich hier ein Theologe ein Zeugnis aus, das ihn selbst kennzeichnet. Unfähig, den schöpferischen Zugang der Philosophin zu ihrer Gotterkenntnis nachzuvollziehen, ist ihm der ungeliebte Gegenstand seiner Doktorarbeit bei allem Fleiß innerlich fremd geblieben. So kann er sich zur Verstärkung seiner Darstellung, daß „diese Schriften doch oft eine straffe Struktur und Gedankenführung vermissen (lassen), was ihre Lektüre nicht gerade erleichtert,“ [16]

nicht verkneifen, eine überaus gehässige Auslassung eines feindlich gesonnenen Zeitgenossen Mathilde Ludendorffs anzuführen, wie es ihm auch darum zu tun zu sein scheint, Erich Ludendorffs Autorität in dessen „Beurteilung seiner späteren Frau und ihrer Ideen“ in Frage zu stellen, eine Beurteilung, die Schnoor, wie er schreibt, [17]

„– sehr vorsichtig gesagt – extrem positiv“ findet, und er läßt den ehemaligen Adjutanten Erich Ludendorffs, Wilhelm Breucker, „bezeugen“: „… der General wurde ihr hörig, wie nie ein Mann einer Frau hörig geworden ist.“ [18]

Wir sind nun vollends in die Giftküche patriarchalen Spießertums abgeglitten. Wie hätte ein Erich Ludendorff in der Dumpfheit einer solchen Welt verstanden werden sollen, wo ein Mann sich „unmöglich“ macht, wenn er seine Frau in ihrem Denken ernstnimmt!

Erich Ludendorff

Seiner Zeit weit voraus und erhaben über Beschränktheit und Häme der Zeitgenossen, gab Erich Ludendorff aus seelischer Kongenialität und daher Fähigkeit zur Hochachtung vor dem Geistesschaffen seiner Frau das Beispiel eines außergewöhnlichen, freien Mannes, der mit seiner Frau eine Ehegefährtenschaft auf geistiger, seelischer und charakterlicher Augenhöhe lebte.

Das war damals neu und einzigartig, ja läutete grundlegenden Wandel in dem weltweiten, etwa 2500 Jahre alten krassen Geschlechter-Mißver­hältnis ein und steht in vollständigem Gegensatz zur extrem patriarchalen Herrenmenschen-Mentalität der seinerzeitigen NS-Diktatur. Das Vorbild, das Erich Ludendorff auch hier gab, ist als eine starke Kraft in der Frauenbewegung einzustufen.

Schnoor gibt ein paar Kostproben aus jener Zeit. Er zitiert zum Beispiel den Reichsführer SS Himmler:

Wenn ich je glaubte, daß die Freimaurerei bestimmte Leute abschickt, um andere zu verderben, so glaube ich in diesem Falle bei Frau Dr. v. Kemnitz, daß sie geschickt worden ist, den General zu verderben. [19]

(Zu der Zeit hieß Mathilde Ludendorff noch Dr. v. Kemnitz.) Schnoor läßt Breucker erzählen:

Diese Frau v. Kemnitz … stieß … bei Hitler, dem ihre Gedanken und Lehren als konfuse Wahnvorstellungen erschienen, auf brüske Ablehnung. [20]

Von Leuten solcher Art nicht verstanden, sondern abgelehnt zu werden, ehrt schon fast. Einen K. Hutten läßt Schnoor ehrlicherweise berichten:

Sie [M.L.] war außerdem eine glänzende Rednerin – in einer Versammlung 1932 in Stuttgart konnte ich den General Ludendorff und seine Frau hören; sie stellte ihn weit in den Schatten und faszinierte die Versammlung mit der Klarheit und dem leidenschaftlichen Schwung ihrer Rede. [21]

Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß der Theologe den Bezug der Philosophie Mathilde Ludendorffs zur Naturwissenschaft mit seinen Begriffen „biologistisch“ und „mechanistisch“ abwerten will. Als christlichem Theologen fehlt ihm für die sinnlich-anschauliche, ganzheitlich-lebendige Natur möglicherweise der Sinn. Doch gerade zum

Bezug von Philosophie und Naturwissenschaft

zueinander schreibt Mathilde Ludendorff in einem Brief vom 24.3.1920: [22]

Die Synthese naturwissenschaftlicher Tatsachen und meiner philosophischen Erkenntnisse hat mich zu einem wunderbaren Erkennen geführt, zu einer Gotterkenntnis nicht nur dem Namen, sondern dem Inhalte nach, die dem Mann bisher verborgen blieb, weil er entweder zu wenig naturwissenschaftlicher Philosoph oder zu wenig philosophischer Naturwissenschaftler war … Ich glaube überhaupt, daß in hochentwickelten Frauen die höchsten Ahnungen dieser Gotterkenntnis lagen und liegen, und so wundert es mich denn auch gar nicht, daß schon wenige Jahrzehnte, nachdem Frauen in vollem Ausmaße aus der Wissenschaft schöpfen, eine Frau diese Funde und diese Formgestaltung bringt.

Damit nimmt Mathilde Ludendorff den Faden zu weiblicher Weisheit wieder auf, der vor 3000 Jahren begonnen hatte, mürbe zu werden, und um 400 v. u. Z. in Griechenland vollends abgerissen war, was sich mit Ausbreitung des Christentums in ganz Europa auswirken sollte. Sie schildert, wie die

Schaffende … schon in den Kinderjahren an(fing), ohne dies zu wissen, sich den schwersten Stein wegzuwälzen, der [sie] von dem herrlichen Lande des Gestaltens absperren wollte. Soviel kann ich nur sagen, daß meine Seele von frühester Kindheit an hellhörig war für die großen und kleinen Demütigungen des Frauenstolzes und Knebelungen der geistigen Freiheit … Ich ahnte wohl dumpf, daß der Quell meines Schaffens erst sprudeln konnte, nachdem ich durch Forschen all die Vorurteile von der „geistigen Minderwertigkeit des Weibes“ widerlegt und in meinem Werke „Das Weib und seine Bestimmung“ wortgestaltet hatte. [23]

Bei Mathilde Ludendorff – sie war schon Mutter geworden – meldete sich Verantwortung zu weitergreifendem Schaffen:

Die junge Mutter 1906 mit ihrem ersten Kind

Seltsam, obwohl das Mutterglück mich so tief getroffen hatte [auch hier also wieder das passive Erleben dessen, was mit ihr geschah], obwohl ich nicht von meinem Kind zu trennen war, kam mir in stillen Stunden aus der Seele Tiefen immer wieder ein ernstes Mahnen, als ob ich pflichtvergessen sei … Wieder und wieder tauchte es auf und mahnte mich daran, daß noch andere Pflichten meiner harrten.  Nie aber konnte ich erkennen, welche denn? [24]

Das Erkennen solcher „Pflichten“ sollte sich wenige Jahre danach ereignen, als „jene seltsame Klarheit, jene Überwachheit“ sich immer öfter und beständiger in ihr einstellte.

Dieser schauenden Philosophin waren auch – wie sie schildert – die

gewaltigen Natureindrücke ganz wesentliche Voraussetzung zum Schaffen, die bei den Klettertouren bei manchem Versteigen im Fels, bei manchem Unwetter oder bei Skitouren durch Wettersturz unerwartete, manchmal allzu ernste Gefahren brachten. Sie haben in mir seelische Kräfte geweckt, ohne die wohl mein Schaffen niemals wach geworden wäre.

Auch hier wieder das Mit-sich-Geschehen-Lassen. „Es blieb in jenen Jahren nur bei einem Erwachen“, berichtet sie weiter. Der „unerbittliche Ernst der Naturgesetze“ habe sich aber in ihre Seele eingegraben, an denen sie bis dahin, wie ihr schien, „mit abgewendeten Augen singend vorübergezogen“ war.

Als weitere wichtige Voraussetzung empfand sie ihre

Eigenart, die mir in frühester Jugend schon Ereignisse bestimmter Art tief nachwirksam in der Seele machte, und die mich, mochte der persönliche Anteil an dem Ereignis auch noch so tief gehen, nicht an dem Persönlichen des Erlebnisses haften ließ. Ich nahm bald das tiefer liegende Allgemeine, das darunter erkennbar war, wahr und bereicherte meine Erfahrung daran. [25]

Über das Schaffens-Geschehen schreibt sie:

Als ich aber dann mit dem Schaffen begann, da wuchs mir wieder das Buch unter den Händen. Hier ging ich nicht mehr von Beweisführungen durch Statistiken aus. Nein, von den Tatsachen der Entwicklungsgeschichte, von ihren Gesetzen … ging ich aus und erlebte nun weit mehr als in dem ersten Werke, wie reich die Intuition im Schaffen selbst in mir geweckt wurde und mich zu Erkenntnissen führte, die ich ebenso wenig wie ein Leser meines Buches zuvor gehabt hatte.

So fing schon hier jener seelische Zustand der Überwachheit im Schaffen an … Auch die Merkwürdigkeit, die sich in der Zukunft jedesmal wiederholte, zeigte sich hier schon, daß ich mich zu solchen Schaffensstunden nicht etwa vorbereiten, daß ich auch nicht etwa völlig verschont bleiben müßte von den Sorgen des Lebens, von den Alltagspflichten, von Arbeit in Fülle.

Nur anderes gab es damals und würde es auch zur Stunde noch geben, das mir Schaffen stören könnte: Häßliche Kleinlichkeit, schäbige Charakterzüge, Unfriede, der sich in meine nächste Umgebung drängt; die konnten das Schöpferlied der Seele manchmal verstummen machen. [26]

Das Ich des Menschen die „einzige Stätte der Freiheit im All“ [26]

Weitere Stellen aus ihren Lebenserinnerungen zeigen das passive Empfangen der Erkenntnis, zu der ein aktives Wollen niemals gelangen könnte. Gerade diese Tatsache ist die wichtigste Erkenntnis Mathilde Ludendorffs, dem Sinne nach hier wiedergegeben:

Nach unermeßlich langen Zeiten, die die Entwicklung der Erscheinungswelt benötigte, um ihr Ziel zu erreichen, das Großhirn des Menschen mit seinen Fähigkeiten, sich bewußt dem Göttlichen zuzuwenden, ist mit dem darin lebenden Ich gleichzeitig die göttliche Freiheit in der Schöpfung wiedererlangt.

Sind die Erscheinungen ihrerseits räumlich und zeitlich begrenzt und den Gesetzen der Ursächlichkeit unterworfen, so ist im Gegensatz dazu im Ich des menschlichen Großhirns, der nun entstandenen „einzigen Stätte der Freiheit im All“ [27] die Möglichkeit geschaffen, daß sich nun dieses Sich-Offenbaren des Göttlichen ereignen kann. Und es ereignet sich „ursachlos wie Gott selbst“ (M. L.). Dieses Geschehen läßt sich nicht herbeiführen, weil das Göttliche sich nicht zwingen läßt. Zwang wäre Verursachung. Unter ihm bliebe das Göttliche verhüllt. Eine versuchte Verursachung göttlichen Erlebens ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Daher bringt allein der „schauende Erkenntnistyp“ die Voraussetzungen mit, der Wahrheit des Göttlichen ins Antlitz zu schauen. Die schauenden Erkennenden wissen dann, wovon sie sprechen. Ihr passives Sich-ereignen-lassen-Können ist die einzige Möglichkeit, zur Göttin Sophia, zur Weisheit zu gelangen. Wer über das Göttliche Wahrheit berichten will, braucht ihr Erschauen. Denn, wie schon Kant feststellte, ist Erkenntnis nur à posteriori, nach Anschauung, möglich.

Der Vernunft ist das göttliche Wesen verschlossen. Wenn sie über es Aussagen machen möchte, so bleiben ihr lediglich Vermutungen. Ihr fehlt die Anschauung von dem, worüber sie spricht. So mußte Mathilde Ludendorff auch ihren beiden verehrten Vorgängern Kant und Schopenhauer das Zeugnis ausstellen,

aus Sehnsucht nach überschauender Klarheit über die Grenzen ihrer eigenen Erkenntnis hinausgegriffen [zu haben]. Dadurch standen ihre Behauptungen keineswegs im Einklang mit der Tatsächlichkeit. [28]

So verdankt ihr einzigartiges Werk „Schöpfungsgeschichte“ sein Entstehen dem Umstand, daß sie sich

Mathilde Ludendorff (Foto: Greiner)

in wunderbaren Sommersternennächten, [wie sie schreibt] diesem köstlichen Schaffen hingeben [durfte, das] ja ausschließlich aus dem Wesen der Schöpfung geboren, einer Mitarbeit der Vernunfterkenntnis nicht bedurfte … Was hier erschaut wurde, war jenseits der Grenzen der [Vernunft-]Erkenntnis. … in dieser heiligen Pracht [lebte sie da], in dieser gewaltigen unermeßlichen Welt der kreisenden Gestirne, wie ich einst in den Seelen der unsterblichen Einzeller gelebt hatte.

Sie taucht ein in die Erscheinungen und erlebt sie in ihrem Wesen.

Wie selbstverständlich ward mir da die Wahrheit

– auch hier läßt sie Erkennen geschehen, die Wahrheit „ward“ ihr:

Wer die Rätsel der Menschenseele als Wille enthüllen will, der muß den gewaltigen Weg der Entwicklung hin zur Bewußtheit … von Urbeginn an schreiten … Ich werde zurückschreiten bis hin zu den stumm kreisenden Urwelten … werde mit diesen Milliarden glutender Sonnen eins werden … werde dann weitere Zeiträume zurückschreiten bis zur ersten Erscheinung des Weltalls, um zu erleben, welcher göttliche Wille jeweils als Kraft Erscheinung wurde, die zum fernen Ziel hinführte.

In einer der folgenden Nächte

kam das Erhabenste: Es kam in dieser Nacht das Erschauen des Schwindens des Weltalls in seiner stillen Feierlichkeit, in seiner Einfachheit und seiner großartigen Unerbittlichkeit … sinnvolle Verhüllung göttlichen Willens … Heimkehr in das Jenseits, Heimkehr der Seelen, Heimkehr der Stoffe des Alls, Lösung von aller Verwebung an die Formen des Seins.

… Nach dieser Nacht mußte ich mir eine Woche Ruhe lassen, zu Kräften zu kommen und das Durchlebte abklingen zu lassen, ehe ich es wagen durfte, dies Schwinden des Alls in Worte zu fassen. Und doch ergriff mich nach dieser Woche die Niederschrift noch so tief, daß meine Freundin, die ins Zimmer trat, sichtlich über mein Aussehen erschrak; ich winkte ihr ab – war noch eine Stunde schweigsam bei meinem Werke – und mußte dann noch das Weiterleben lernen! [29]

Wen wundert es, wenn dieses Erleben und Gotterkennen von den meisten Menschen nicht nachvollzogen werden kann! Mathilde Ludendorff wollte ihre Gotterkenntnis in Worte fassen, „die auch fernsten Geschlechtern ein Gleichnis des Erlebens sein“ konnten.

Ja, fernsten Geschlechtern; an sie nur dachte ich dabei!

Mit der Veröffentlichung ihr Innerstes preiszugeben, war ihr zunächst ein unerträglicher Gedanke. Dann aber wurde ihr klar, daß sie ihr Werk einer ihr

wohltuenden Gleichgültigkeit der Millionen [gäbe, einem] schmerzenden Mißverstehen der Tausende, der erkennenden Aufnahme der Hunderte und dem seltenen kongenialen Miterleben Einzelner … Jedes Kulturwerk trägt seine Hüllen um sich, die nur der durchdringt, der sie auch getrost durchdringen mag. [30]


[1] Frank Schnoor, Mathilde Ludendorff und das Christentum, Dissertation, bei der theologischen Fakultät der Universität Kiel eingereicht und für den Druck überarbeitet, Dr. Hänsel-Hohenhausen, 2001, S. 54

[2] Annegret Stopczyk, Sophias Leib, Entfesselung der Weisheit, Heidelberg 1998, S. 267-268

[3] seine Lebenszeit wird aus widersprüchlichen Berichten errechnet: entweder von 540 bis 470 oder von 515 bis 445 v. u. Z.

[4] Geoffrey S. Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart/Weimar 2001, S. 267

[5] Giordano Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Hamburg 1993, S. 41

[6] Philosophische Bibliothek Band 398, Hamburg 1989

[7] Mathilde Ludendorff, Selbstschöpfung (Erstauflage 1923), München 1941, S. 278

[8] ebd., S. 66

[9] Mathilde Ludendorff, Lebenserinnerungen, Band 2, Durch Forschen und Schicksal zum Sinn des Lebens, München 1937, S. 296

[10] Mathilde Ludendorff, Lebenserinnerungen, Band 3, Erkenntnis – Erlösung, Pähl 1960, S. 161-162

[11] ebd., S. 98

[12] Lebenserinnerungen, Band 2, a. a. O., S. 71

[13] Erich Ludendorff, Mathilde Ludendorff – ihr Werk und Wirken, Erstauflage 1937, Pähl 1960, S. 68

[14] Schnoor, a. a. O., S. 56

[15] ebd., S. 58

[16] ebd., S. 37

[17] ebd., S. 27

[18] ebd., S. 28, zit. aus Wilhelm Breucker, Die Taktik Ludendorffs. Eine kritische Studie auf Grund persönlicher Erinnerungen an den General und seine Zeit, Stollmann o. J. (1953), S. 108

[19] ebd., S. 28, zit. aus Reichsführer! … Briefe an und von Himmler, hg. v. Heiber, H., Stuttgart 1968, 44 Nr. 14a

[20] ebd., S. 25, zit. aus Breucker, S. 108

[21] ebd., S. 31, zit. aus K. Hutten, Um Blut und Glauben, Stuttgart 1932, S. 183

[22] Lebenserinnerungen, Band 3, S. 56-57

[23] Lebenserinnerungen, Band 1, Kindheit und Jugend, Neudruck Pähl 1974, S. 174-175

[24] ebd., Band 2, S. 169

[25] ebd., Band 3, S. 30

[26] ebd., S. 53 ff.

[27] Mathilde Ludendorff, Des Menschen Seele, München 1941, S. 44

[28] Lebenserinnerungen, 3. Band, a. a. O., S. 56

[29] ebd., Band 4, S. 83 ff.

[30] ebd., Band 3, S. 102

 

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Astrid
Astrid
9 Jahre zuvor

Welch ein wunderschöner Beitrag wieder!
Das Frühlingsbild mit den zwei Krokussen und den beiden Bienchen darinnen passt ebenso gut dazu…
DANKE!

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