Die deutsch-israelische Kabinetts-Sitzung in Berlin ist ausgefallen

Sie wäre in den Augen Uri Avnerys auch

der Inbegriff des politischen Kitsches

gewesen, gleichsam ein “Gipfel des Kitsches”. Glücklicherweise hat Netanjahu die “Grippe” gekriegt und abgesagt. In den Medien war nichts von den Vorgängen zu erfahren.

Auch von Demonstrationen vor dem Kanzleramt sah man in den Nachrichten nichts. (Adelinde berichtete von deren Ankündigungen.) Die Demonstration mehrerer Gruppen hat jedoch stattgefunden.

Der Erfolgsautor und Mitarbeiter bei verschiedenen überregionalen Zeitungen wie konkret und Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Jürgen Elsässer, Mitbegründer der “Volksinitiative gegen das Finanzkapital”, hatte zur Demo aufgerufen, einen Kurzfilm zur Begründung in sein Blog gestellt und berichtet nun:

Die Sitzung des deutsch-israelischen Kriegskabinetts heute ist ausgegfallen, weil – tätärätä – Premier Netanjahu grippebedingt abgesagt hat. Etwas ungewöhnliche Begründung, oder? Da läuft noch irgendwas im Hintergrund …

Unsere Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt hat dennoch stattgefunden. Reden wurden von Christoph Hörstel („Neue Mitte“), Brigitte Queck („Mütter gegen den Krieg“), einem Vertreter der Quds-AG, einem orthodoxen Rabbiner und von meiner Wenigkeit (für die „Volksinitiative“) gehalten. Christen, Moslems, Juden, Atheisten vereint – das ist ein wichtiges Zeichen.

Elsässer zählt die Gruppen auf, die sich ebenfalls zur Gegendemonstration eingefunden hatten, aber sich nicht mit der “Volksinitiative” zusammenstellen wollten:

Irritierender als unsere politischen Feinde waren unsere politischen Freunde:

Fast zeitgleich und ebenfalls am Bundeskanzleramt fand eine weitere Protestaktion gegen das deutsch-israelische Regierungstreffen statt, kaum 200 Meter weg von uns. Aufgerufen hatte ein buntes Bündnis aus der Linken und der Friedensbewegung (AK Nahost Berlin, attac Deutschland- AG Globalisierung und Krieg, attac Hamburg- AG Palästina, Bonner Nakba60-Gruppe, das palästina portal, Deutscher Koordinationskreis Palästina Israel – für ein Ende der Besatzung und einen gerechten Frieden (KoPI), Deutsch-Palästinensischer Frauenverein e.V. (DPFV), Deutsch-Palästinensische Gesellschaft e.V. (DPG), Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), ISM-Germany, Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. – EJJP Deutschland, Nahostkommission von Pax Christi, Nahost-Komitee in der Berliner Friedenskoordination (Friko), Palästinensische Gemeinde Deutschland, Palästina heute: Renate Dörfel-Kelletat und Frank Dörfel, Palästina Initiative Region Hannover, Projekt Freundschaft. Münsteraner Arbeitskreis für Frieden in Palästina und Israel).

political correctness

Was hatten die denn gegen die Elsässer-Gruppe?

Ich meldete mich beim Versammlungsleiter und regte an, die beiden Protestaktionen zusammenzuführen. Der gute Mann lehnte brüsk ab. Zwar seien die Aufrufe fast deckungsgleich, aber mit uns könnten sie nicht zusammen protestieren, da ich Ahmadinedschad zu seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen gratuliert habe. Meinen Hinweis, daß dieses Thema bei der heutigen Aktion gar keine Rolle spielte, ließ er nicht gelten.

Liebe Leute, geht es noch sektiererischer?

Ein wahrer – wenn auch kleiner – Spiegel des heutigen Deutschland: Nur keine Berührung mit jemandem, dessen Meinung nicht der verordneten politischen Korrektheit entspricht! Huu!

Wer die verordnet, darauf wies Elsässer in seinem Blog-Beitrag “Brecht die Diktatur der politisch Korrekten!” vom 7. März 2009 hin:

Um es deutlich zu sagen: Die politisch Korrekten sind mittlerweile die größte Bedrohung für Demokratie und Meinungsfreiheit in diesem Land. Sie sorgen für Zensur, weit effektiver als das selige Ministerium für Staatssicherheit. Der Springerverlag hat seinen Journalisten jede USA- und Israelkritik explizit verboten, fast alle anderen Medien wenden diese Vorschrift als ungeschriebenes Gesetz an. Der Arm dieser Tugendwächter reicht bis in die Redaktionen linker Zeitungen.

So ist manches “verdächtig”, wofür Elsässer eintritt, und die Schubladen sind schon aufgezogen, in die ihn so mancher verstauen möchte. Die Meinungsfreiheit ist wahrscheinlich stärker bedroht durch Mitläufertum, Ignoranz und vorauseilenden Gehorsam der Vielen als durch Herrschsucht und Machtfülle Weniger.

Uri Avnery fragt sich nun, was die geplatzte, angeblich auf später verschobene gemeinsame deutsch-israelische Kabinetts-Sitzung überhaupt sollte. Wir erraten es: Israel möchte sich wieder Kriegsspielzeug von Deutschland schenken lassen. Dazu Avnery:

Von Zeit zu Zeit muß das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel neu überdacht werden.

Die Deutschen vergessen den Holocaust nicht. Sie sind ständig mit diesem Thema beschäftigt. Es erscheint auf TV-Programmen, bei kulturellen und künstlerischen Veranstaltungen.

Das findet Avnery zwar in Ordnung. Aber:

Die deutsche Regierung – die jetzige und alle ihre Vorgänger – zogen aus dem Holocaust eine eindeutige Schlußfolgerung: Israel, „der Staat der Opfer“, muß verwöhnt werden. Alle seine Taten müssen ohne Vorbehalte unterstützt werden. Kein einziges Wort der Kritik ist erlaubt.

Das muß zu einem völlig unmoralischen “Freundschafts”-Verhältnis führen:

Die Haltung der deutschen Regierung gegenüber Israel ist eine  Sonderbehandlung. Es sagt wieder: Die Juden sind etwas Besonderes. Der „jüdische Staat“ muß anders behandelt werden als andere Staaten. Das heißt, Juden sind anders als andere Völker, ihr Staat ist anders als andere Staaten, ihre Moral ist anders als die der anderen.

Mit dieser Kritik zeigt sich Avnery als aufgeklärter, ja ungläubiger Jude. Er steht in scharfem Gegensatz zu den orthodoxen Nationalisten und der chauvinistischen Regierung seines Landes. Die offizielle deutsche Israel-Politik lehnt er daher als denkbar schlechten “Freundschafts”-Dienst ab:

Sonderbehandlung? Nein danke! …

Intelligente Deutsche wissen, daß unsere augenblickliche Politik für Israel und die ganze Welt eine Katastrophe ist. Sie führt zu einem permanenten Krieg, stärkt die Macht des radikalen fundamentalistischen Islam in der ganzen Region, führt zur Isolierung Israels in der Welt und zu einem Besatzungsstaat, in der Juden zu einer unterdrückerischen tyrannischen Minderheit werden.

Wenn dein betrunkener Freund direkt in einen Abgrund fährt – was bist du dem Freund schuldig?

Ganz klar. Aber mit hochmoralisch erhobenem Zeigefinder ermahnt unsere Bundeskanzlerin zwar die Administrationen von Rußland und China, die Menschenrechte zu wahren. Was jedoch Israel betrifft, da ist sie die Freundin von Fride Springer. Da gibt es Satzungen und Blankoschecks: eine “Staatsraison”!

Zweierlei Maß, Frau Merkel, das zur Mittäterschaft führt! Wollten Sie das, als Sie dem SED-Regime entkommen waren?

Übrigens: Westerwelle in Israel

Ein deutscher Journalist fragte mich (Avnery) danach, wie man in Israel auf den Besuch des neuen Außenministers Guido Westerwelle reagiert habe. Ich mußte ihn enttäuschen. Die meisten Israelis haben noch nicht einmal von ihm gehört.

Leichtgewicht Deutschland angesichts einer Politik wie dieser:

Die Netanyahu Regierung hat für das Zwei-Staaten-Prinzip nur ein Lippenbekenntnis abgegeben und verletzt es täglich. Sie hat ein völliges Einfrieren des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten zurückgewiesen – genau in den Gebieten, in denen alle Regierungen (auch die deutsche) den Staat Palästina sehen wollen. Sie baut wie wahnsinnig in Ost-Jerusalem, das auch nach der deutschen Regierung die Hauptstadt Palästinas werden soll. Sie führt in Jerusalem etwas aus, das sehr nah an ethnische Säuberung herankommt.

Da stellt sich für den Friedensaktivisten die (rhetorische) Frage:

Sollte Frau Merkel diese Regierung umarmen und ihr Antlitz mit Küssen bedecken?

Sehr richtig erkennt er:

Natürlich muß eine Regierung mit Regierungen verhandeln. Die deutsche Regierung muß mit der israelischen Regierung verhandeln. Aber von da bis zum kitschigen Verhalten wie einer gemeinsamen Kabinettssitzung ist ein großer Schritt.

Stattdessen gäbe es für eine selbstbewußte, auf einer ethisch einwandfreien Grundlage agierenden deutschen Regierung andere Möglichkeiten, Israel zu helfen, nämlich z. B.

ihre Freundschaft dem „anderen Israel“ zu zeigen, dem Israel, das Frieden sucht und die Menschenrechte achtet.

Denn:

Israel ist weit davon entfernt, eine monolithische Gesellschaft zu sein. Es ist eine pulsierende/dynamische, brodelnde Gesellschaft mit vielen Tendenzen: von der extremen Rechten bis zur extremen Linken. Im Augenblick haben wir eine Regierung der extremen Rechten – aber es gibt auch ein Friedenslager. Es gibt zwar Soldaten, die sich weigern, Siedlungen abzubauen, aber es gibt auch Soldaten, die sich weigern, eine Siedlung zu bewachen. Nicht wenige Menschen widmen ihre Zeit und Kraft, um gegen die Besatzung zu kämpfen, manchmal begeben sie sich dabei sogar in Lebensgefahr.

Das ist doch äußerst erfreulich, Frau Bundeskanzlerin! In jedem andern Staat hätten Sie Kontakt zu solchen Gruppen gesucht. Warum nicht in Israel?

Die jüdische Opposition in Israel und in aller Welt wie auch denkende Deutsche in großer Zahl sehnen sich nach so einem Zeichen geistiger Freiheit und echter Völker-Freundschaft von Deutschland.

Deutschland sollte auf die Juden zugehen, denen die Wahrung der Menschenrechte am Herzen liegt. Dann hätte es wirklich aus seiner unseligen Vergangenheit die richtigen Schlüsse gezogen. Aber immer noch müssen wir mit Uri Avnery bedauern:

Schade, daß es dies nicht tut.

Die Bundesregierung wäre gut beraten, die Initiative zur Umkehr zu ergreifen, ehe sie vom Volk dazu gezwungen wird.