Der Motor stottert, Teil 2
Der Motor stottert, Teil 2 (Thomas Engelhardt)
Im gegebenen Zusammenhang drei aktuelle Meldungen:
Die Fertigung im produzierenden Gewerbe ist bis heute gegenüber dem Stand des Jahres 2013 bereits um 17 % gefallen. (Qu.: Studie des Instituts der dt. Wirtschaft, 2024).
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Diese Zahl bleibt in der laufenden Berichterstattung unerwähnt.
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Der US-Autobauer Ford in Köln wird in den kommenden drei Jahren 2.900 Arbeitsplätze abbauen.
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Und ThyssenKrupp AG streicht bis 2030 11.000 der aktuell 27.000 Stellen. Und dabei wird es nicht bleiben.
Inzwischen nahezu täglich erreichen uns diese Meldungen. Für den, der nicht betroffen ist, sind das nackte Zahlen. Es gibt aber auch andere Zahlen:
Ein Unterabteilungsleiter bei einem namhaften Automobilhersteller in …, Industriemeister, Ende 50, nimmt aktuell ein Angebot eines Aufhebungsver-trages an und wird eine finanzielle Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes in Höhe von nahezu 600.000 € (brutto) erhalten.
Unter der Maßgabe, daß dieser Mann regulär noch etwa sieben Jahre seiner Berufstätigkeit nachgehen müßte, wird diese Abfindungssumme aber in gewissem Sinne nachvollziehbar, zumal in solch einem Fall geradezu horrente Abgaben an das Finanzamt fällig werden (so der gute Mann nicht die ebenfalls möglichen Schlupflöcher kennt und nutzt) und er seine künftigen Lebenshaltungskosten und Sozialversicherungen von dieser Summe wird bezahlen müssen.
Demgegenüber stehen die arbeitsvertraglich weitaus schlechter gestellten Vertragsmitarbeiter, die bei Personaldienstleistern beschäftigt sind und ebenso für den genannten Automobilbauer arbeiten.
Die Facharbeiterschaft ist heute in hohem Maße fragmentiert und gespalten.
Und es ist gleich, ob die für den VW-Konzern tätige Auto Vision oder etwa die WISAG untersucht wird, die am Standort Leipzig für BMW arbeitet und dort SUV.PKW der Marken X 1 und X 3 zusammen-schraubt.[1]
Eine andere inzwischen gängige Masche in bundes-deutschen Großkonzernen ist, im Rahmen von sog. „Optimierungsprozessen“, Umstrukturierungen und Betriebsänderungen[2] Stellen zu streichen und ganze Abteilungen einzustampfen und den oft jahrelang Beschäftigten Weiterbeschäftigung mit neuen Arbeitsverträgen anzubieten. Eigentlicher Zweck sind immer Kosteneinsparungen, nicht zuletzt Lohnkosten.
Vor einiger Zeit wurde in einem ebenfalls in diesem Forum veröffentlichten Beitrag ein massives Anstei-gen der Arbeitslosenzahlen prognostiziert.[3] Aktuell sind von den Stellenstreichungen „nur“ etwa 775.000 Industriearbeitsplätze betroffen. So jeden-falls die Aussage von Experten der Wirtschaftsin-stitute. Das betrifft in erster Linie die sogenannten energieintensiven Branchen (Chemieindustrie, Pa-pierproduktion, Keramikherstellung, Mineralölwerke, Glasproduktion, Kokereien, Zementproduktion). Fal-len diese Industriesegmente weg, betrifft das aber ebenso Maschinenbauhersteller, die für diese Branchen als Zulieferer tätig sind, Dienstleistungs- und Montagefirmen, Reparaturbetriebe, Logistik-unternehmen usw.
Die sich ergebenden Langzeitfolgen werden demzu-folge weitreichender sein als die Medien das derzeit vermitteln.
In dem schon erwähnten älteren Beitrag wurden für die Zeit ab 2025/2026 Arbeitslosenzahlen von 4-5 Millionen vorausgesagt. Einige Leser mögen das für weit übertrieben gehalten haben. Zu berücksichtigen ist im gegebenen Zusammenhang jedoch, daß die offizielle Arbeitslosenstatistik gewissermaßen ge-schönt ist. Bestimmte Kategorien und definierte Personengruppen (Arbeitsuchende, Kranke, einge-schränkt Arbeitsfähige, Teilnehmer an Weiterbil-dungsmaßnahmen usw.). werden nicht mehr in der Gesamtbilanz der ausgewiesenen Arbeitslosen erfaßt.[4]
Die Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) blendet darüber hinaus ein erhebliches Potenzial an Arbeitskräften im Alter von 60 bis 65 Jahren aus der Statistik aus.
„Seit 2001 sind kontinuierlich weniger Arbeitslose ausgewiesen worden als erwerbslos waren“,
berichtete ein Altersübergangs-Report[5] des IAQ.[6] Bereits vor zwanzig Jahren (2004) wurden von 253.000 Erwerbslosen jenseits der 60 lediglich 63.000 (!) auch als arbeitslos registriert und erfaßt!
Diese Differenz hat sich im Laufe der folgenden Jahre bis heute zwar reduziert. Jedoch lag der Anteil der Erwerbslosen an der Bevölkerung im entspre-chenden Alter zwischen 2003 und 2008 stets dop-pelt so hoch wie der registrierte Arbeitslosenanteil. Aktuelle Statistiken weisen diese speziellen Zahlen nicht mehr aus.
Die Zahl der Arbeitslosen betrug im Oktober (2024) 2.791.000 (die Arbeitslosenquote liegt bei 6,0 %). Die Zahl der insgesamt sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lag zuletzt bei 34,92 Millionen. Jedoch nur etwa 27 Millionen Menschen dieser 35 Millionen Erwerbstätigen (genauer: abhängig Beschäftigten) hat einen Vollzeit-Erwerbsarbeitsplatz.[7] Stand Ende 2024! (2022 waren 17,7 Millionen Männer und 9,5 Millionen Frauen in Vollzeitbeschäftigung.)
2024 sind insgesamt rund 46,1 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig.
Zu differenzieren ist zudem zwischen Erwerbstätig-keit und abhängig Beschäftigten:
Von den 46 Mill. Erwerbstätigen sind 3,8 Mill. Selbständige und etwa 42 Mill. Arbeitnehmer.
Von diesen 42 Mill. abhängig beschäftigten Arbeitnehmern sind wiederum nur 34,7 Mill. sozialversicherungspflichtig beschäftigt.[8]
Darüber hinaus muß auch noch die rel. hohe Erwerbslosenquote von 2,8 % genannt werden (das sind 1,3 Mill. Menschen, die nicht in der Arbeitslo-senstatistik auftauchen!). Die Unterschiede zwischen den Erwerbslosen und den als arbeitslos registrier-ten Personen bei der Bundesagentur für Arbeit sind erheblich. Einerseits können bei den Arbeitsagen-turen nicht registrierte Arbeitsuchende erwerblos sein. Andererseits zählen Arbeitslose, die eine Tätigkeit von weniger als 15 Wochenstunden ausüben, nach ILO-Definition nicht als Erwerbslose sondern als Erwerbstätige.
Kaum thematisiert wird auch die sog. verdeckte Arbeitslosigkeit. Studien der großen bundesdeut-schen Branchengewerkschaften beziffern die Gesamtzahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik auf derzeit etwa 6 bis 7 Millionen.
Personen über 58 Jahre, die sog. Ein-Euro-Jobber und Arbeitslose, die aktuell an staatlich verordnet Aktivierungs- oder Weiterbildungsmaßnahme teil-nehmen, werden beispielsweise nicht als Arbeitslose gezählt. Ebenso fällt das Heer der Empfänger von finanziellen Transfer-Leistungen aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik.[9]
Nach Jahrzehnten der Vollbeschäftigung und über-schaubarer Arbeitslosenzahlen, gekennzeichnet aber auch von Dekadenz, Völlerei und materiellen Ausschweifungen jeglicher Art, wird es nun ans Eingemachte gehen.
Und es ist absehbar, daß die im materiellen Wohl-stand geistig träge gewordenen Bundesdeutschen diesen Fährnissen gegenüber nicht gewappnet sind. Mehr noch, die eigentlichen Ursachen kennen sie nicht und verstehen sie nicht. Bricht der Wohlstand weg, weil er sich als brüchig erweist, werden Schuldige gesucht werden. Und Schuldige werden (zu Recht!) bei den Politikern, den Angehörigen der politischen Klasse, den etablierten Parteien gesucht werden.
Die eigentlichen Gründe aber für die entstandene Lage werden wiederum nicht interessieren. Die Masse ist gewöhnlich blind für objektive Wahrheiten.
Deutschland (lies: die BRD) befindet sich in einem rabenschwarzen Loch nationaler Knechtseligkeit. Die Wirtschaft wurde an in der Regel US-amerikanische Finanzinvestoren und Anleger (neudeutsch: Share-holder) verhökert, gemeinhin auch als „Heuschrek-ken“ bezeichnet. Solange der „Laden“ lief, hat’s niemanden interessiert. Analysiert man die Anteils-eigner der großen „deutschen“ 40 im Dax gelisteten Unternehmen[10], wird ersichtlich, daß diese überwiegend von US-amerikanischem Kapital kontrolliert werden.
Bei Gesprächen mit gut ausgebildeten, hochquali-fizierten Fachkräften im familiären und sozialen Umfeld wird das heutige Dilemma deutlich. Befragt man diese über ihre persönliche Situation und konfrontiert sie mit der Realität, wird deutlich, daß sie über die Anteilseigner und eigentlichen Eigentü-mer der Betriebe und Unternehmen, in denen sie tätig sind, in der Regel keine Kenntnis haben. Nicht ohne teils berechtigten Stolz hinsichtlich ihres individuellen beruflichen Erfolges nennen diese jungen Leute ihre Arbeitsstellen in den Firmen und Unternehmen.
Werden dann aber Hintergründe von Unterneh-mensstrukturen (etwa aus steuerlichen Gründen vorgenommene Verschachtelungen und intrans-parente Konzernstrukturen) und Besitzverhältnisse angesprochen, stößt man auf Desinteresse. Kapitaleigner? Interessieren nicht. In jedem Fall erntet man immer nur ein müdes Lächeln oder ein Abwinken. Die „Kohle“ stimmt, das Haus kann abbezahlt werden, zwei Autos und drei Fernreisen im Jahr sind (bis jetzt) die Regel.
Die ausgesprochene Warnung, daß dieser scheinbare Wohlstand brüchig und durchaus nicht real sei (weil zu einem großen Teil auf Krediten fußend) und die Firmen und Betriebe überwiegend in Fremdbesitz befindlich sind, wird als unzeitgemäß abgetan. Min-destens das. Andere urteilen härter und werfen reaktionäre Ansichten vor.
Der Vorhalt, daß aufgund des nationalen Ausver-kaufs eine deutsche Volkswirtschaft nicht mehr existent sei und sich allein aufgrund dieser Konstel-lation künftig Gefährdungen auftun könnten, wurde stets abgewiesen. Die Wirklichkeit erreicht jetzt die Bundesdeutschen, und man darf gespannt sein, welche Auswirkungen und Folgen das haben wird.
Heinrich Seidelbast brachte das Kernproblem in seinem Kommentar am 26.11. auf den Punkt:
„Den Deutschen schlechthin, einst in aller Welt bewundert, auch verehrt, gibt es nicht mehr, verweichlicht, verblödet und zum Selbsthaß erzogen, ist der heutige Deutsche nur noch eine Karikatur seiner Selbst und seiner Ahnen.“
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Anmerkungen
[1]Im vergangen Jahr 2023 belief sich die Anzahl der Zeitarbeitnehmer bei Personaldienstleistern (Zeitarbeitsfirmen) auf durchschnittlich 796.000. Zeitarbeit machte einen Anteil von rund zwei Prozent an allen Beschäftigten in Deutschland aus.
[2]Eine Betriebsänderung ist ein arbeitsrechtlicher Begriff. Eine Betriebsänderung liegt vor, wenn ein Betrieb oder Betriebsteil stillgelegt, eingeschränkt oder mit einem anderen Betrieb zusammengeschlossen wird, wenn ein Betrieb aufgespalten wird oder der Betriebszweck oder die Betriebsorganisation geändert oder grundlegend neue Arbeitsmethoden eingeführt werden. Sehr oft gehen diese Veränderungen mit einem sog. Betriebsübergang gemäß 613a BGB einher. Damit verbunden sind sehr oft langfristige Nachteile für die Betroffenen, Lohnverlust, Änderungen der Tätigkeit, nach einem festgelegten Zeitraum oft auch Arbeitsplatzverlust.
[3]Vgl. Engelhardt, Thomas: Von der Wirtschaftskrise zur mentalen Krise.
[4] Erwerbsfähige sog. Leistungsberechtigte, denen Arbeit nach § 10 Sozialgesetzbuch II nicht zumutbar ist, werden wegen mangelnder Verfügbarkeit nicht als arbeitslos gezählt. Darunter fallen insbesondere Leistungsberechtigte, die Kinder erziehen, Angehörige pflegen oder an Bildungsmaßnahmen teilnehmen.
[5] Sarah Mümken, Martin Brussig, Matthias Knuth: Beschäftigungslosigkeit im Alter – Die Älteren ab 60 Jahren sind besonders betroffen, Altersübergangs-Report 1/2011 (Projekt gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung).
[6] Institut Arbeit und Qualifikation.
[7] Qu.: Agentur für Arbeit. https://www.arbeitsagentur.de/news/arbeitsmarkt
[8] Qu.: Eckzahlen zum Arbeitsmarkt, Deutschland https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/eckwerttabelle.html
[9] Die verdeckte Arbeitslosigkeit kennzeichnet den Teil der Arbeitslosen, der nicht in den Statistiken der Arbeitsämter geführt wird. Somit gehen die verdeckten Arbeitslosen auch nicht in die Arbeitslosenquote ein, die regelmäßig von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht wird. Als verdeckt arbeitslos gelten in Deutschland die folgenden Personen:
- Leistungsempfänger nach dem Sozialgesetzbuch III (§§ 125, 126, 428) (Empfänger der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch SGB II)
- Bürgergeldempfänger (früher, bis 2022, Bezieher von Arbeitslosengeld II (Hartz IV, eigtl. „Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“)
- Bezieher von Kurzarbeitergeld
- Teilnehmer einer ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme)
- Teilnehmer an berufsbildenden Weiterbildungsmaßnahmen
- Teilnehmer an Deutschkursen
- Personen, die sich wegen der Vereinbarung von Altersteilzeit in der Freistellungsphase befinden
[10] Deutscher Aktienindex. Er mißt aktuell die Wertentwicklung der 40 größten und liquidesten Unternehmen des bundesdeutschen Aktienmarktes und repräsentiert rund 80 % der Marktkapitalisierung börsennotierter Aktiengesellschaften in der BRD.