Der fromme Jude Aron im Schweizer Spital
Montag, 6. November 2017 von Adelinde
Schwester Dörte
erzählt wieder eine ihrer selbsterlebten Geschichten:
Als die Oberschwester anrief, ich könne den neuen Patienten, Herrn Aron, abholen, ahnte ich nicht, was mich erwartete.
So traf ich nun das Ehepaar Aron, umringt von sieben ihrer zwölf Kinder. Fünf waren in der Schule.
„Wir sind eine große Familie,“ brüstete sich der stolze Vater.
Seine Frau – bleich und von Kopf bis Fuß grau gekleidet, auf dem Kopf ein weißes Tuch, von einem schwarzen Netz zusammen-gehalten – schwieg, müde und abgearbeitet, mit einem Kind auf dem Arm.
Herr Aron stolzierte über den Krankenhausflur zu seinem Zimmer, im Schlepptau seine Familie.
Er trug sein Judentum zur Schau: schwarz gekleidet, auf dem Kopf die Kippa, darüber der steife schwarze Hut über Vollbart und langen Schläfenlocken.
Ein schwarzes Mäppchen trug er unterm Arm. Seine Frau mühte sich indes mit der Reisetasche ab, voll mit des Herrn Aron Habseligkeiten.
„Schau mal!“ Neugierig tuschelten Patienten angesichts dieses Aufmarsches.
„Das sind fromme Faulenzer“, kommentierte recht vernehmlich ein alter Bauer.
Ich zeigte Herrn Aron sein Bett und den Schrank für seine Kleider. Die räumte seine Frau sofort ein. Sie sprachen hebräisch miteinander, ich war ausgeschaltet.
Die Kinder tauten auf und stürzten sich auf die Technik des Bettes. Unter lautem Geschrei drückten sie die vielen Knöpfe, worauf das Bett in sämtliche Positionen sprang.
„Stop, stop!“ rief ich, „auf diese Weise geht das Bett kaputt.“ Sie machten munter weiter, die Eltern schauten zu.
Herr Aron litt an einer großen Geschwulst vor dem linken Ohr. Die sollte operiert werden. Ich bat ihn, sich auszuziehen. Das überhörte er. Nicht einmal den Hut nahm er ab.
Seine Frau stand da, stumm und regungslos, ein kleines, graues Mäuslein.
Gut, dachte ich, ich hole den Assistenzarzt, einen Mann. Er wird es richten, mußte er Herrn Aron doch ohnehin untersuchen.
Doch kaum war der im Zimmer, war er auch bald schon wieder auf dem Flur.
„Der zieht sich nicht aus, wie soll ich ihn da untersuchen“, ärgerte er sich. „Er erlaubte mir, mein Stethoskop durch den engen Halsausschnitt zu stecken und mehr schlecht als recht sein Herz abzuhören, dann war Schluß.“
„Gut, fangen wir mit der Rasur an“, entschied ich zuversichtlich und holte Schere und Rasierapparat. Für die Rasur mußten die Haare vom Halsansatz bis hinauf zur linken Schläfe entfernt werden.
Das wird er doch einsehen, hoffte ich. Fremdartig war mir Herr Aron zwar. Aber guten Mutes machte ich mich auf zu ihm.
Bald wurde ich eines Besseren belehrt. Mein Patient saß im Bett, in voller Montur, nur seinen Hut hatte er abgenommen, der thronte auf dem Nachttisch. Seine kleine Mappe lag aufgeklappt auf der Bettdecke.
Ohne mich zu beachten, zog er ein Blatt aus der Mappe, las und begann zu beten: „Bra-ta-ta-ra-ra-wabra-mara …,“ murmelte er vor sich hin. Das Gebrummel dauerte und dauerte. Seine Familie war verschwunden.
Ich räusperte mich, sprach ihn an. Nichts. Der Mann war „weg.“
Erst als ich die Türe öffnete und heftig zuschlug, schreckte er auf und kam in unsere Spitalwelt zurück. Entgeistert schaute er mich und meine „Werkzeuge“ an.
„Herr Aron, ich bin hier, um Sie zu rasieren. Zudem muß ich für die Operation Ihre Schläfenlocke auf der linken Seite abschneiden. Dies gehört zu den unerläßlichen Vorbereitungen.“
Nun wurde er laut: „Das kommt nicht in Frage, niemals!“
„Sie haben sich für die Operation entschieden. Haare sind eine große Infektionsgefahr! Zudem verwehren sie dem Arzt die Sicht. Wie soll er da operieren?“
Entsetzt klammerte er sich an seine Schläfenlocke. „Gehen Sie, gehen Sie, sofort!“ jammerte er.*
Nun stand auch ich wieder draußen. Das Schmunzeln des Assistenzarztes entging mir nicht.
Dann erschien der Operateur. „Der Patient läßt sich nicht ausziehen, geschweige denn rasieren“, klärten wir ihn auf.
Der Arzt öffnete die Türe. Ein Gemurmel drang an unsere Ohren: Herr Aron war schon wieder am Beten.
Lange war der Arzt nicht bei seinem Patienten: „Ich habe Herrn Aron nochmals die Gefahr dieser Geschwulst erklärt und die Notwendigkeit, sie zu entfernen. Er hat nun eine halbe Stunde Bedenkzeit: Entweder er folgt unseren Anweisungen, oder er geht.“
Nach einer halben Stunde gingen wir wieder zu Herrn Aron, überzeugt von seiner Zustimmung.
Doch weit gefehlt: „Ich verlange, daß Sie die Operation durchführen! Und die Schläfenlocke bleibt, wo sie ist!“
„Nein, Herr Aron, das werde ich nicht tun, packen Sie ihre Sachen und gehen Sie!“ sagte der Arzt und verließ das Zimmer.
Und Herr Aron ging, nicht ohne vorher seiner Frau telefonisch anzuordnen, herzueilen und die Reisetasche ihres Herrn zu packen und hinter ihm herzutragen.
Ohne ein Wort verließen sie das Krankenhaus.
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