Ostdeutschland! 4. Teil

Weiter mit Thomas Engelhardt

Zur Teilung Oberschlesiens 1921:

Der polnisch gewordene Teil Oberschlesiens hatte fast eine Million Einwohner und eine Fläche von 3.214 km². Er umfaßte die Landkreise Kattowitz/Katowice und Pleß/Pszczyna, jeweils den größeren Teil der Kreise Lublinitz/Lubliniec, Rybnik/Rybnik und Tarnowitz/Tarnowskie Góry, Teile der Landkreise Ratibor/Racibórz und Tost-Gleiwitz/Toszek-Gliwice, den südlichen und den östlichen Teil des Kreises Hindenburg/Zabrze sowie die kreisfreien Städte Kattowitz/Katowice und Königshütte/Chorzów.

Aufgezeigt werden sollte, in welchem Ausmaß sich Ostdeutschland seit 1919/1920 bzw. seit 1945 verändert hat.

In Ostdeutschland (territorialer Status 31.12.1937 bzw. 1.09.1939) lebten etwa 9,5 Millionen Menschen. Die Zahl der in den annektierten Gebieten heute lebenden Men-schen entspricht nahezu der Einwohnerzahl vor 1945, wobei die Einwohnerzahlen in allen Städten zum Teil erheblich gewachsen ist.

Darüber hinaus haben sich die Hauptver-kehrswege und Verkehrsachsen verändert. Überwogen in deutscher Zeit die Ost-West-Verbindungen sowohl im Straßenwesen als auch bei den Haupteisenbahnlinien, domi-nieren im heutigen Polen neben den nach wie vor bedeutsamen Ost-West-Achsen (Danzig-Stettin, Allenstein-Bromberg-Posen, Krakau-Kattowitz-Oppeln-Breslau, Warschau-Posen-Frankfurt/Oder) vor allem die Nord-Süd-Verbindungen (Stettin-Landsberg-Posen, Danzig-Thorn-Warschau).

Ein weiteres Indiz für die Änderung der Bedeutung einst wichtiger deutscher Verkehrsachsen in Ostdeutschland ist die Tatsache, daß frühere wichtige Hauptbahnen nicht mehr existieren oder teilweise stillgelegt sind oder aber nurmehr den Charakter von Nebenbahnen besitzen (Bahnlinie Konitz (Westpreußen)-Soldau (Ostpreußen)[1] (200 km) und Marienwerder-Thorn (134 km) bzw. Posen (Prov. Posen)- Thorn (Westpreußen)-Insterburg (Ostpreußen) (437 km).

Der Ausbau der großen Nord-Süd-Achsen war jedoch bereits in deutscher Zeit geplant (Reichsautobahnprojekte Stettin- Grünberg-Görlitz-Reichenberg (Sudetenland), Danzig-Bromberg-Breslau-Brünn-Wien, Königsberg-Allenstein-Litzmannstadt /Łódź).

Zur Problematik der Bevölkerungsver-schiebungen infolge Vertreibung, Aussiedlung und Neuansiedlung[2]

In den heute unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten (also einschließlich Königsberg und nördliches Ostpreußen) betrug bei der Volkszählung am 17. Mai 1939 die Wohnbevölkerung 9.620.827 Personen, das waren 13,9 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands in den (damaligen) Grenzen von 1937 (Gebietsstand v. 31.12.1937).

Davon lebten unter Hinzunahme der des Gebietes sog. Freien Stadt Danzig (= 390.593 Einwohner) im heutigen polnischen Verwalt-ungsgebiet 8.854.278 Personen. Von dieser Bevölkerung befanden sich nach Schätzungen bei Kriegsende noch 3,4 Millionen im nun-mehr unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiet, nach Rückkehr eines Teiles der Flüchtlinge waren es Ende Juni 1945 etwa 4,5 Millionen.

Hiervon wurden polnischerseits etwa eine Million Menschen als sog. „Autochthone“, d. h. „Bewohner polnischer Volkstumszu-gehörigkeit in den wiedergewonnenen Gebieten“, proklamiert. Die noch verbliebene deutsche Bevölkerung wurde aufgrund der Vereinbarungen des Potsdamer Protokolls von 1945 im wesentlichen bis Ende 1948 verdrängt, d. h. zwangsweise ausgesiedelt, so daß man für Anfang 1949 allenfalls noch mit 100.000 anerkannten Deutschen (Schätzwert) in diesen Gebieten rechnen kann.

Die Verluste der deutschen Bevölkerung im deutschen Osten (mit Danzig; ohne Wehrmachtsgefallene) infolge Flucht und Vertreibung werden auf 1,47 Millionen berechnet (= 16,6% der Bevölkerungszahl dieser Gebiete Ende 1944). Hinzu kommen die Verluste des Deutschtums im Vor-kriegspolen in Höhe von 200.000. In anderen Quellen werden bis zu 2,2 Millionen Ziviltote, auch infolge der Inhaftierungen in sowjeti-sche und polnische Haftlager sowie der Deportationen in die Sowjetunion genannt.

Die heutige Bevölkerung in den polnischen Verwaltungsgebieten setzt sich aus drei Gruppen verschiedener Herkunft zusammen:

(I) Die erste Gruppe sind die schon genannten „Autochthonen“, eine vor Beginn des Zweiten Weltkrieges dort ansässige Bevölkerungs-gruppe ehemals deutscher Staatsangehö-rigkeit polnischen Ursprungs, die repoloni-siert werden soll (vorwiegend Masuren und Bewohner Oberschlesiens). Diese Gruppe wirft komplizierte sachliche und statistische Probleme auf, denen hier nicht nachgegangen werden kann.

Die polnische Volkszählung am 3. Dezember 1950 ergab für sie die Zahl von 104.134 Personen (darin sind 60.000 anerkannte Deutsche enthalten). Eine deutsche Schät-zung rechnet unter ihnen für 1953 mit etwa 800.000 Deutschen und Deutschgesinnten. Seit 1950 hat sich außer der Zahl der aner-kannten Deutschen auch die der Autochtho-nen durch die Familienzusammenführung mit der Bundesrepublik Deutschland und der DDR erheblich verringert.

Das Deutsche Rote Kreuz der Bundesrepublik rechnet für das gesamte heutige Hoheits-gebiet Polen noch mit 790.000 Deutschen (1964), davon in Oberschlesien und Ost-Oberschlesien zusammen 640.000.

(II) Die zweite Gruppe der heutigen Bewohner der Verwaltungsgebiete sind die polnischen Vertriebenen und Umsiedler aus dem an die Sowjetunion abgetretenen Ostpolen.

Dieses hatte am Januar 1939 etwa 16.400.000 Einwohner, von denen 2.980.000 als Personen polnischer Nationalität gerech-net werden. Bei der Volkszählung 1950 stammten 2.136.700 Einwohner des polni-schen Hoheitsgebietes aus Ostpolen (= Repatrianten).[3]

Anm.:  Die Zahlenangaben erscheinen ins-gesamt unsicher. Nach anderen Angaben wies das 1939 an die Sowjetunion gefallene Territorium Ostpolens (201.000 km²; 52,1 % des Gesamtterritoriums) etwa 13,2 Millionen Einwohner auf, davon 40 % Polen (5,28 Mill.) und 8,3 % Juden (1,1 Mill.). Die übrigen etwa sieben Millionen Menschen (52 %) waren mehrheitlich Ukrainer (4,5 Mill. = 34,2 %)  und Belarussen (1,1 Mill. = 8,4 %), Litauer und kleinere Volksgruppen und völkische Minderheiten (Lemken, Bojken, Huzulen, Ruthenen, Poleschuken, Litauer, Tschechen, Deutsche, Tartaren, Karaimen und Armenier).

Mehrheitlich polnisch mit einem jeweils hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung waren die meisten Städte (darunter Białystok, Wilna, und Lemberg (Lwów/ Lwiw).[4]

Die jeweils voneinander abweichenden Zahlenangaben ergeben sich insbesondere aus der Tatsache, daß die Einwohner bei in diesem Territorium durchgeführten polni-schen Volkszählungen (1921 u. 1939) nicht eindeutig zwischen Sprache (Jiddisch, Polnisch, Ukrainisch) und Volkstumszu-gehörigkeit unterschieden.

Polnische Juden bezeichneten sich deshalb sehr oft als Polen, obwohl sie kaum polnisch, sondern überwiegend jiddisch sprachen (lediglich die im ehemaligen Westpreußen, in der früheren Provinz Posen und in Ostober-schlesien lebenden Juden sprachen deutsch).

Nach der Volkszählung vom 31. August 1939, also unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg, hatte Polen 35.339.000 Einwohner: Polen 23,1 Mill. (65,5 %), Ukrainer 5,55 Mill.(15,7 %), Juden 3,35 Mill. (9,5 %), Belarussen 2,14 Mill. (6,1 %), Deutsche 822.500 (2,3 %), andere Minderheiten 331.500 (0,9 %).

(III) Die dritte Gruppe sind die Ansiedler aus dem polnischen Kernland. Ihre Zahl betrug Ende 1948 bereits 2,4 Millionen, von denen freilich nur die Hälfte durch die Behörden angesiedelt wurden, während der andere Teil „wilde Siedler“ oder selbständig Zugewan-derte waren.

Bis 1950 fand zwischen den Verwaltungs-gebieten und dem polnischen Kerngebiet aus verschiedenen Gründen eine stärkere Bevöl-kerungsfluktuation und Wanderungsbe-wegung statt. Diese ist etwa Mitte der 1960er-Jahre zum Stillstand gekommen. In der Veröffentlichung von Georg Bluhm („Die Oder-Neiße-Linie in der deutschen Außenpolitik“)[5] heißt es:

„Im ganzen verläuft die Bevölkerungsent-wicklung in den Verwaltungsgebieten seit 1950 entsprechend der Entwicklung im gesamten polnischen Staatsgebiet, insofern nehmen die Verwaltungsgebiete keine Sonderstellung mehr ein“ (a. a. O. S. 27).

Freilich weisen die Statistiken für die Ver-waltungsgebiete einen erheblich höheren natürlichen Bevölkerungszuwachs als für das polnische Kerngebiet aus. Diese Erscheinung ist um so bemerkenswerter, als Polen über-haupt nach Albanien den höchsten Gebur-tenüberschuß in Europa hat; sie liegt vor allem in der außerordentlich günstigen Altersstruktur der Verwaltungsgebiete begründet.

Nach der Volkszählung von 1960 betrug die Bevölkerung im gesamten polnischen Hoheitsgebiet 29.731.000. Der Anteil der polnischen Verwaltungsgebiete (Ost-deutschland) betrug 7.743.000 oder 26,04 %. Wichtig für die Betrachtung ist die Gliederung der Bevölkerung der Verwaltungsgebiete (abgerundete Angaben für Ende 1960):

  • in den dt. Ostgebieten geborene und aufgewachsene polnische Kinder 2.81 Millionen (36,0 %)

  • Einheimische Bevölkerung 900.000 (11,5 %)

  • Umsiedler und Vertriebene aus polnischen Ostgebieten („Repatrianten“) 1.71 Millionen (21,9 %)

  • polnische Remigranten aus übrigem Ausland 180.000 (2,3 %)

  • Ansiedler aus dem polnischem Kernland 2,2 Millionen (28,2 %)

Für das Jahr 1965 wurde die Einwohnerzahl der unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Gebiete auf 8,5 Millionen ge-schätzt, darunter waren 3,2 Millionen dort bereits geborene Kinder und Jugendliche. Bis 1975 wuchs die Einwohnerzahl in den ost-deutschen unter polnischer Verwaltung stehenden Gebieten auf 9 Millionen und hatte damit die Einwohnerzahl zu deutscher Zeit bereits überschritten (in den 1945 an Polen gefallenen Gebieten Ostdeutschland lebten 1939 8,85 Millionen Deutsche).[6]

[Insgesamt lebten in Ostdeutschland 1939  9,62 Millionen Deutsche (13,9 % der Gesamtbevölkerung), davon 390.600 in der sog. Freien Stadt Danzig.]

Fortsetzung folgt

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Quellen und weiterführende Literatur:

Georg Bluhm: Die Oder-Neiße-Linie in der deutschen Außenpolitik. Freiburger Studien zur Politik und Soziologie. Freiburg/Breisgau, Rombach Verlag, 1963.

Herbert Kraus: Der völkerrechtliche Status der deutschen Ostgebiete innerhalb der Reichsgrenzen nach dem Stande vom 31. Dezember 1937. Selbstverlag, Göttingen 1962.

Gotthold Rhode (Hrsg.): Die Ostgebiete des Deutschen Reiches. Ein Taschenbuch (im Auftrag d. Johann Gottfried Herder – Forschungsrates herausgeg.). Würzburg : Holzner, 1955.

Gotthold Rhode, Wolfgang Wagner: Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie in den diplomatischen Verhandlungen während des Zweiten Weltkrieges, Stuttgart: Brentano-Verl., 1959. (Die Deutschen Ostgebiete, 3)

Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn.

Hannover: Verlag des Amtsblattes der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1965. Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn (1965). (Evangelische Kirche in Deutschland, Publikationen der EKD, Denkschriften und Grundlagentexte) https://www.ekd.de/lage_der_vertriebenen_3.htm

Das Reich und der Osten. Die Barsinghausener Gespräche (1-4), 1963. (Gesamtdeutsches Bewußtsein. Schriften zur deutschen Frage). Leer: Rautenberg Verlag, 1963. [Schriften zur deutschen Frage 1- 4: 1. Der geistige und politische Standort der Heimatvertriebenen. 2. Der Reichsgedanke und die Völker. 3. Deutsch-polnische Nachbarschaft als Problem und Aufgabe. 4. Deutsch-russische Nachbarschaft]

Die deutschen Ostgebiete aus staats- und völkerrechtlicher Sicht (Hrsg.: Deutscher Rechts- und Lebensschutz-Verband). 2. Aufl., Struckum : Verlag für Ganzheitliche Forschung und Kultur, 1990.

[1]Konitz, jetzt Chojnice, Soldau, jetzt Działdowo.

[2]  Qu.:  Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn aus dem Jahr 1965 (https://www.ekd.de/lage_der_vertriebenen_3.htm) Gotthold Rhode: Die Ostgebiete des Deutschen Reiches. 4. Aufl. Würzburg: Holzner, 1957.

[3]  Qu.:  Zur gegenwärtigen Lage in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie.  In: Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn aus dem Jahr 1965. Hannover: Verlag des Amtsblattes der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1965 [Evangelische Kirche in Deutschland, Publikationen der EKD, Denkschriften und Grundlagentexte; https://www.ekd.de/lage_der_vertriebenen_3.htm]

[4]  Qu.: https://de.wikipedia.org/wiki/Vierte_Teilung_Polens

[5]  Georg Bluhm: Die Oder-Neiße-Linie in der deutschen Außenpolitik. Freiburger Studien zur Politik und Soziologie. Freiburg/Breisgau, Rombach Verlag, 1963.

[6]  Qu.: Volkszählung 17.05.1939.