Alice Schwarzer – “seltene Stimme der Weisheit”

Wes das Herz voll ist

Nach seinem Gespräch mit Alice Schwarzer und Chantal Louis in der EMMA-Redaktion im Frauenmediaturm in Köln war es Sven ein Bedürfnis, noch in der Nacht eine E-Mail an die Redakteurinnen zu senden:

206_01_800.jpgIch möchte einfach noch mal sagen, daß das Treffen mit euch einer der wirklich beeindruckenden Tage in meinem Leben war. Entgegen dem, was so manch einer vielleicht erwartet hätte und was euer symbolträchtiger Wehrturm zuerst für mich ausstrahlte, habe ich das Innere als einen Hort der Warmherzigkeit und Menschlichkeit empfunden. Ich sah an diesem Tag Eigenschaften an euch, die mich einfach fasziniert haben: Selbstbewußte Frauen, die aus gutem Grund für die gute Sache kämpfen!

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Alice Schwarzer und Chantal Louis mit ihrem Gesprächspartner “Sven”
aus: EMMA Mai/Juni 2009

Den gutaussehenden Sven (Name geändert) hatten der

Amoklauf

von Winnenden und die Berichterstattung darüber umgetrieben. Denn er war selbst vor ein paar Jahren nahe daran gewesen, ein Amokläufer zu werden. pfeiffer.jpgWenige Tage nach der furchtbaren Untat in Winnenden, bei der 11 junge Frauen und 1 junger Mann getötet worden waren, wandte Sven sich an den in den Medien zur Zeit sehr präsenten, angesehenen Kriminologen Prof. Christian Pfeiffer, um ihm die Innenansicht eines solchen Täters zu präsentieren, nämlich sich selbst als Beinahe-Amokläufer, und damit der Forschung über Jugendgewalt weiterzuhelfen:

Einen toten Amokläufer kann man nicht fragen,

schrieb Sven. Prof. Pfeiffer, der seit vielen Jahren mit EMMA zusammenarbeitet, leitete Sven an die EMMA-Redaktion weiter. Der erzählte dort mit erstaunlicher Offenheit:

Erste Ursache zu der Beinahe-Tat war, keinen “Stich bei Frauen” zu haben. Mit ebenso abgewiesenen Freunden baute er dann seinen Haß auf Frauen auf. Um seinem seelischen Druck zu entkommen, ging es alsbald

los mit den ersten Ego-Shootern … Man konnte sich den ganzen Haß vom Leib spielen … Das besondere an Ego-Shootern ist ja, daß man immer durch irgendwelche Gänge rennt und alle Menschen abballert, die aus den Türen kommen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, daß es doch toll wäre, an unsere Schule zu gehen und sich mal so richtig an allen zu rächen!

Und nun kommt ein entscheidender Satz:

Wir wollten immer nur die Frauen abballern. Vielleicht noch ein paar Alphamännchen dazu. Aber richtig interessant waren die Frauen. Die Frauen, von denen man sich gedemütigt gefühlt hat und abgestoßen.

Auf die Frage “Warum?” erklärt er:

Na, weil die Mädchen einem einen Korb gegeben hatten. Oder eben Lehrerinnen, die … ja … diese ganz Taffen, so’n Tick maskulin … also die klassischen Emanzen. Die waren uns auch ein Dorn im Auge. Bei den Schülerinnen waren es eher die Unemanzipierten, die wir im Visier hatten, die, die nur auf den Starken standen und mit Riesenausschnitt und Supermini rumgerannt sind. Bei den Lehrerinnen waren es im Gegenteil eher die besonders Emanzipierten, die, die einen in die Schranken wiesen.

Alice Schwarzer

zitiert die Pressesprecherin Claudia Krauth der zuständigen Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf Anfrage von EMMA:

Das Geschlecht hat für den Täter nach unseren bisherigen Erkenntnissen keine Rolle gespielt.

Der Täter kam kostümiert im schwarzen Kampfanzug, richtete mit Kopfschuß acht Schülerinnen und drei 24 bis 26 Jahre junge Lehrerinnen gezielt hin. Darüber hinaus tötete er einen bei den Mädchen beliebten Jungen, den er vor der Erschießung niederknien ließ.

Wer so gezielt junge Frauen und einen “Frauenflüsterer” hinrichtet, bei dessen Tat soll das Geschlecht keine Rolle gespielt haben? Schwarzer:

alice_schwarzer-_romy_2009.jpgReden wir also nicht länger drumrum und warten wir nicht auf die Erkenntnisse von Ermittlern, die sich die zentralen Fragen noch nicht einmal stellen. Selbstverständlich hat die Tat von Tim K., dem Mädchenmörder, etwas mit seiem Verhältnis zu Frauen zu tun! Genauer: Etwas mit seiner Art, ein Mann werden zu wollen, woran er gescheitert ist.

In ihrem in der Welt, dem Zürcher Tages-Anzeiger und dem Wiener Standard erschienenen Artikel vom 13.3.09 stellt sie die Tatsache heraus,

daß der unauffällige Tim K. wie viele Jungen seiner Generation Porno- und Gewaltvideos konsumierte und täglich Stunden im Internet surfte. Seit er das tat, soll er sich verändert haben. Auf seinem Rechner fand die Polizei 200 Pornobilder, darunter 120 so genannte Bondage-Inszenierungen: Das sind Fotos, auf denen man nackte gefesselte Frauen sieht, die vergewaltigt und gefoltert werden, manchmal zu Tode.

Schwarzer weist auf internationale Studien hin, die

seit Jahren, ja Jahrzehnten etwas (belegen), was nicht überraschend ist: Der Konsum von Pornografie – also von Bildern und Texten, in denen die sexuelle Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt verknüpft wird – prägt nicht nur das Bild von Frauen, sondern stumpft die Empathiefähigkeit dieser Pornokonsumenten gesamt ab, und je jünger umso beeinflußbarer.

Auch diese Jungen müßten vor der dank moderner Medien allgegenwärtigen Gewaltpornografie geschützt werden. Sie laufen sonst Gefahr, sich bei Verunsicherung in Dominanzphantasie gegen Frauen zu flüchten, was ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht nicht gerade besser macht.

Der jahrtausendealte Männlichkeitswahn –

also die verunsicherte Männlichkeit verbunden mit einem unrealistischen Größenwahn –

hat eine neue Dimension erreicht. Wie sollen diese Jungen vor sich selbst geschützt werden, wie die möglichen Opfer dieses Irrwahns von angeblicher Männlichkeit?

Wie kann verhindert werden, daß diese “Verlierer” zu Verbrechern werden? Ganz sicher nicht durch ein Mehr an Männlichkeit, wie Professor Lenzen es fordert, sondern nur durch das Gegenteil: durch ein Mehr an Menschlichkeit!

Wer Alice Schwarzer noch nie leiden konnte, hat hier einen Satz zugeworfen bekommen, mit dem sein alter Haß neue Nahrung erhält, falls er ihn aus dem Zusammenhang herausreißt und isoliert zitiert.

Es ist – für Wohlwollende klar ersichtlich – eine “Männlichkeit” gemeint, die sich über Gewalt definiert und in dieser Art selbstverständlich auf gar keinen Fall hinnehmbar ist.

Was alle Jungen und Mädchen hingegen zu lernen haben, ist Menschlichkeit. Wer wollte ein solches Erziehungsziel in Frage stellen? Um es zu erreichen, muß den Tatsachen ins Auge geschaut werden. Wegsehen, schon um empfindliche Männerseelen nicht zu verletzen, löst keine Probleme. Es muß nichts mit Männerhaß zu tun haben, wenn Schwierigkeiten heranwachsender Jungen ins Blickfeld gerückt werden, um mögliche schlimme Auswirkungen zu verhindern.

Mit dem Sozialpsychologen an der Universität Hannover mit Schwerpunkt “Männlichkeitsforschung”

Prof. Rolf Pohl

sprach Chantal Louis. Er erklärte u. a:prof.jpg

In unserer Gesellschaft ist Männlichkeit nach wie vor stark mit Gewalt verknüpft. Und daher müssen wir an die Wurzeln der Männlichkeitsproblematik: nämlich den Wunsch, lebensgeschichtliche Krisen durch Etablierung eines Männlichkeitsbildes zu lösen, das Gewalt, Dominanz und Heldentum beinhaltet. Um das zu ändern, müssen wir an die gängige Konstruktion von Männlichkeit heran …

Chantal Louis fragte nach den Computer-Spielen,

die gewalttätige Männer und verfügbare Frauen zeigen.

Pohl:

An diesen Spielen zeigt sich, wie stark Gewaltfantasien mit einer feindseligen Abwertung von Weiblichkeit verknüpft sind. Aber sie erzeugen diese Bilder nicht. Sondern: Sie satteln nur auf diesen inneren Einstellungen auf … Wenn es diese Spiele nicht gäbe, dann würden sich die bereits vorgeprägten Jungen für ihre frauenfeindliche Haltung und ihre Verherrlichung von Männlichkeit andere Bilder suchen. Die Medien bieten hier ja genug an.

Zum Fall Prof. Lenzen, der fordert, in der Jungenerziehung die Frauen durch mehr Männer zu ersetzen, damit die Jungen zu einer “ausgereiften Geschlechtsidentität” gelangten, sagte Prof. Pohl:

Ich halte diesen Zusammenhang für konstruiert. Hinter diesem Ruf nach mehr männlichen Vorbildern wird ein negatives Bild von Frauen reproduziert, die als Mütter, Erzieherinnen und Lehrerinnen pauschal für das Versagen der späteren Männer verantwortlich gemacht werden. Da wird suggeriert: Wenn Männer die ersten 15 bis 20 Jahre von Frauen umgeben sind, dann könnten sie keine ordentliche männliche Identität ausbilden. Das ist Unsinn.

Prof. Pohl hat das männliche Selbstbewußtsein, gelassen auszusprechen:

Ich möchte sogar die gegenäufige These aufstellen: Wenn es darum geht, Weiblichkeitsbilder einzuüben, die nicht feindselig getönt sind, können Jungen gerade von Erzieherinnen und Lehrerinnen eine ganze Menge lernen. Außerdem sind beliebige männliche Vorbilder noch keine Garantie für eine positive Entwicklung von Jungen. Die Männer, an denen sich die vorherigen Generationen orientiert haben, das waren überwiegend die autoritären Väter. Und die haben uns, sehr verkürzt gesagt, auch im Zeichen von Männlichkeitswahn in zwei Weltkriege geführt.

Louis:

Lieber Herr Pohl, was ist denn nun eigentlich ein Mann?

Prof. Pohl unter anderem:

…  alle Männer vereint …: männlich sein heißt nicht-weiblich sein. Jungen erwerben ihre Geschlechtsidentität vor allem über die Abgrenzung von Frauen und die Abwertung von Weiblichkeit. Sie unterliegen dabei dem Druck, sich nicht nur als das andere, sondern auch als das überlegene und wichtigere Geschlecht zu definieren und dies “notfalls” auch zu beweisen. Die damit verbundene Unsicherheit und Angst ist eine der wichtigsten Quellen für männliche Gewaltbereitschaft, vor allem für die Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Das Ergebnis:

Weltweit wird mindestens jede dritte Frau einmal in ihrem Leben von Männern geschlagen, vergewaltigt oder auf andere Weise mißhandelt.

Alice Schwarzer steht also nicht mehr allein auf weiter Flur. Moderne Sozialpsychologie in der Person von Rolf Pohl und moderne Kriminologie in der Person von Christian Pfeiffer bestätigen Alice Schwarzer auf der ganzen Linie.

Leserbriefe

aschwarz.jpgauf Alice Schwarzers o. a. Artikel vom 13.3.09:

Prof. Manfred Wagner:

Liebe Frau Schwarzer, an Ihrem Kommentar zu dem Thema sieht man wieder einmal deutlich, daß Sie zu den ganz wenigen wirklichen Intellektuellen Deutschlands zählen. Weil Sie “nicht mit den üblichen Gegebenheiten ins Bett gehen” (Augstein), sondern durch die Ereignisse auf den Grund zu schauen versuchen. Sie lassen sich weder von der Hysterie noch den wissenschaftlichen Partikularitäten irritieren, sondern denken wirklich nach.

Luise F. Pusch:

… in den Medien war wieder mal Alice Schwarzer die einzige, die den Mord und sein Motiv auf den Punkt brachte – auf einen Punkt übrigens, den sie seit dem Mord an Angelika B. in Köln 1991 immer wieder betont: Frauenhaß ist ein Politikum wie Fremdenhaß und gehört genau so streng geahndet, ja strenger, ist Frauenhaß doch viel weiter verbreitet. Er ist … völlig alltäglich.

Jasmin Lunar:

Herzlichen Dank für diese weisen und unmißverständlichen Worte! Alle spüren dies, doch keiner spricht es aus. Und es ist – mal wieder – EMMA bzw. Alice, die sich das traut. Das nenne ich mal angewandte Friedenspolitik.

Harry Mulisch, Niederlande:

Genialer Artikel von Frau Schwarzer … Frau Schwarzer bietet eine seltene Stimme der Weisheit in diesem aufgeregten und hysterischen Gerede.

Neben diesem Lob gab es auch die altgewohnten Haßtiraden gegen Alice Schwarzer. Die kann man in der EMMA nachlesen. Dort wird man dann Seite für Seite weitere hochinteressante Beiträge finden.