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Fortsetzung der geschichtlichen Betrachtungen

von Gerhard Bracke

Rund ums Münchner Abkommen

Ludendorffs Sorge

Von einer Ambivalenz kann durchaus gesprochen werden, wenn trotz prinzipieller Gegnerschaft zum Nationalsozialismus General Ludendorff die außenpolitischen Erfolge Hitlers sowohl in der Rheinlandfrage als auch – mit Sicherheit – in der Anschlußfrage vom deutschen Standpunkt aus freudig begrüßte. Somit läßt dieser unverzichtbare historische Kontext nur einen Schluß zu:

Ludendorffs Sorge wegen der Möglichkeit eines zweiten Weltkrieges bezog sich primär, wenn nicht ausschließlich auf die Gefahren, die von außen drohen und dann doch aufgrund falscher Entscheidungen des Diktators zur kriegerischen Verwicklung führen könnten.

Winston Churchill (Bild-Ausschnitt: Wikipedia)

Natürlich hatte der Feldherr keine Ahnung von der bereits im Mai 1937 gegenüber dem deutschen Botschafter in London, dem späteren Reichaußenminister Joachim v. Ribbentrop, ausgesprochenen unverhohlenen Drohung. Kein Geringerer als Winston Churchill hatte damals nämlich in einem Gespräch unter vier Augen dem Botschafter des Deutschen Reiches erklärt:

Ein zu starkes Deutschland wird wieder vernichtet werden !(10)

Hierbei ging es weder um den Nationalsozialismus noch um irgendeine künftige „Befreiung“.

Noch weniger konnte Erich Ludendorff ahnen, daß zwei Jahre nach Erscheinen seiner Schrift „Weltkrieg droht auf deutschem Boden“, also noch während der Weimarer Republik, im Oktober 1932 der damalige stellvertretende polnische Außenminister Oberst Beck unter Hinweis auf den bevorstehenden Nichtangriffspakt Polens mit der Sowjetunion Marschall Pilsudski, den diktatorischen Leiter der Staatsgeschäfte in Warschau, zum  sofortigen Angriff auf Deutschland aufforderte.

Pilsudski (Bild-Ausschnitt: Wikipedia)

Die Lage für einen Krieg mit Deutschland sei deshalb so günstig wie nie,

um die Befreiung der polnischen Territorien vom deutschen Joch

anzugehen.(11)

Daß Pilsudski sowohl vor Hitlers Reichskanzlerschaft als auch danach bereit war, militärisch gegen das Deutsche Reich vorzugehen, ließ er in London und Paris immer wieder wissen, doch verweigerten sich die Westmächte solchen polnischen Präventivkriegsabsichten bislang.

Zu den gängigsten Geschichtslegenden gehören die Umstände des Verschweigens und der verlogenen Deutung des Münchner Abkommens.

In den Geschichtsbüchern erscheint gewöhnlich die Sudetenkrise vom September 1938 als bloßer Vorwand für Hitlers Eroberungspolitik ohne jede Vorgeschichte und das Münchner Abkommen als ein Akt der Nachgiebigkeit demokratischer Staatsmänner gegenüber Diktatoren.

Man erwartet keinesfalls Hintergrundinformationen, wie sie Walter Löhde den Lesern von Ludendorffs Halbmonatsschrift bieten konnte, aber doch wenigstens wesentliche Tatsachen. Löhde führte u.a. aus:

Es ist jedenfalls gut, daß die Tagespresse auf den Anteil der Hochgradfreimaurerei an der Entfesselung des Weltkrieges i.J. 1914 hinwies. Denn es ging in letzter Zeit gerade wieder einmal „zufällig“ ein Gerede durch die Deutschen Lande, diese Freimaurerei … habe gar nichts mit dem Mord von Sarajewo und dem Ausbruch des Weltkrieges zu tun gehabt.

„Der große Feldherr müsse sich doch wohl geirrt haben“, usw. usw.

Es ist verständlich, daß diese Hochgradfreimaurerei ihre erfolgreiche Tätigkeit bei der Entfesselung des Weltkrieges von 1914 gerne zu vertuschen sucht, während sie just dabei war, mittels der Tschecho-Slowakei einen neuen zu entfesseln.

Das sind deutliche Worte! Und weiter lesen wir:

Die Haltung der Freimaurerei in der tschecho-slowakischen Angelegenheit war durch den Ursprung dieses seltsamen Gebildes von vornherein bedingt.(12)

Tomas Masaryk (Bild-Ausschnitt: Wikipedia)

Dazu muß man wissen, daß die Staatsgründer Tomas Masaryk und Eduard Benesch als Freimaurer Einfluß auf die Pariser Friedenskonferenz ausübten, wobei Benesch der Konferenz eine gefälschte Bevölkerungskarte vorlegte, auf der ein Großteil deutscher Siedlungsgebiete als „tschechisch“ gekennzeichnet worden war.

Die über ein Jahrtausend zum Deutschen Reich bzw. nach 1806 zu Österreich gehörenden Gebiete Böhmen und Mähren

waren durch das Diktat von St. Germain der Republik Deutsch-Östereich entzogen und dem neugebildeten Nationalitätenstaat Tschecho-Slowakei zugeschlagen worden.

Gegen ihren ausdrücklich geäußerten Willen und gewaltsam gerieten so 3,5 Millionen Deutsche in das neue Staatsgebilde ČSR (Tschecho-Slowakische Republik).

Aber auch Ungarn und Polen wurden von den Tschechen, die zahlenmäßig nicht einmal die absolute Mehrheit bildeten, unterdrückt.

Eduard Benesch (Bild-Ausschnitt: Wikipedia)

Der mit den Slowaken am 30. Mai 1918 von Masaryk und Exilslowaken in Pittsburg (USA) unterzeichnete Vertrag, der den Slowaken ein eigenes Parlament und die slowakische Amtssprache zubilligte, ist von Prag niemals eingehalten worden.
Mit Recht führte Walter Löhde seinerzeit weiter aus:

  • Die sudetendeutschen Länder erklärten nun ganz in Übereinstimmung mit den Punkten des Herrn Wilson am 22. 10. 1918 ihren Anschluß an den neuen Bundesstaat Deutsch-Österreich.
  • Ein österreichisches Gesetz vom 22. Nov. 1918 hat diese Eingliederung bestätigt, während Österreich selbst beschloß, sich für einen Teil des Deutschen Reiches zu erklären.
  • Damit wäre also nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches von der Genfer Liga und Wilson für die Grundlage der demokratischen Neuordnungen angesehen und ausgegeben wurde, der Fall erledigt gewesen, und es war nur der Ausgang einer ordentlichen Abstimmung abzuwarten. […]
  • Während in Versailles die Wehrlosmachung und Versklavung Deutschlands vorgenommen wurde, rückten tschechische Truppen … in die sudetendeutschen Gebiete ein, deren Männer entweder beim Grenzschutz gegen die Bolschewisten standen oder im Vertrauen auf den Waffenstillstand … die Waffen niedergelegt hatten.
  • Sie erwarteten entsprechende Wahlen, bei denen sie das ihnen zugesicherte Selbstbestimmungsrecht ausüben und ihren Willen, sich Österreich und damit dem Reiche anzuschließen, zum Ausdruck bringen konnten.
  • Aber diese Wahlen zur österreichischen Nationalversammlung wurden durch die Freimaurerregierung in Prag verboten, und der sudetendeutsche Protest vom 4.3.1919 verhallte wirkungslos.
  • Die sich daran anschließenden Demonstrationen wurden durch die tschechischen Truppen blutig zerstreut, und somit war das Selbstbestimmungsrecht unter stillschweigender Duldung der Genfer Liga (des Völkerbundes) in die brutalste Vergewaltigung verwandelt.(14)

Im Anschluß an die fortgesetzten Bedrückungen der Sudetendeutschen schrieb der Feldherr Ludendorff in Folge 15/37, S. 608, in seiner letzten politischen Betrachtung:

Es ist eine natürliche Spannung, die sich zwischen Deutschland und der Tschech-Slowakei aufgetan hat und sich fortgesetzt steigert.

Sie muß immer mehr bei Beurteilung der gesamten europäischen Politik eingestellt werden, um so mehr als der tschecho-slowakische Staat in seinem Bündnis mit Frankreich und Sowjetrußland und als Mitglied des allerdings recht lockeren Gebildes der kleinen Entente, keine Anstalten macht, den Deutschen die ihnen gesicherten Rechte zu geben.

Er scheint gewillt zu sein, in der Deutschenbedrückung fortzufahren.(15)

Walter Löhde wertete am Ende seines Artikels:

Der Kampf der Sudetendeutschen ist jetzt zu einem Kampf des gesamten Deutschen Volkes für seine heiligsten Lebensgrundlagen geworden. (Ebd., S. 417)

Henlein

Konrad Henlein (Bild: Wikipedia)

Alle Historiker, die das Hauptgewicht ihrer Darstellung auf die „Affinität“ der Sudetendeutschen unter Führung Konrad Henleins zum Nationalsozialismus legen, verleugnen Fakten und Zeitumstände einer Krise, deren Ursachen meist unterschlagen werden. Da empfiehlt es sich, die umfangreichen Werke von Franz Katzer und Gerd Schultze-Rhonhof zu dem Thema gründlich durchzuarbeiten.(16)

Im Herbst 1935 erhielt Henlein als Führer der stärksten sudetendeutschen Partei eine Einladung zum Royal Institute of International Affairs in London, zu dessen Mitgliedern auch britische Minister gehörten und dessen Protektor der Prince of Wales war.

In seiner Rede erwähnte Henlein auch die 19 Eingaben seiner Landsleute beim Völkerbund in Genf in den Jahren 1920 bis 1926, ohne daß je über diese Beschwerden verhandelt worden war.

Ebenso versicherte Henlein während seines Vortrages im Londoner Chutham House am 9. Dezember 1935 wahrheitsgemäß, daß er weder mit der NSDAP noch mit Reichskanzler Hitler je Verbindung gehabt habe.(17)

Die Lage änderte sich für die Sudetendeutschen nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich.

Aufgrund der wirtschaftlichen Not war Henleins Partei weiter sehr schnell gewachsen, während es gleichzeitig zwischen der ČSR und dem Reich zu Spannungen kam, die durch die provokante tschechische Mobilmachung vom 20. Mai 1938 sich zusätzlich verschärfte.

  • Außer den Deutschen forderten auch
  • die Slowaken,
  • die Polen,
  • die Ungarn und
  • die Ruthenen im Nationalitätenstaat ihre Rechte.

Der vom englischen Premierminister Chamberlain zu einem mehrwöchigen Informationsbesuch in die Tschecho-Slowakei entsandte Sonderbeauftragte Lord Runciman kam in seinem anschließenden Bericht zu der Auffassung, eine Lösung des deutsch-tschechischen Problems sei nur durch eine Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich zu gewährleisten.

Als sich Chamberlain am 15. September 1938 mit Hitler auf dem Obersalzberg traf (dieser hatte sich seinerseits erboten, nach England zu fliegen, um dem 70jährigen englischen Premierminister die Flugreise zu ersparen),

befürwortete der britische Regierungschef offiziell die Abtretung der Sudetenlande an das Reich.

Aus den lange geheimgehaltenen „Necas-Dokumenten“ ist bekannt, daß sich der damalige Sozialminister der Regierung Benesch Mitte September 1938 in Paris aufhielt, mit der Anweisung zu einem geheimen Angebot Prags an die Westmächte, dessen Ziel in einer Teilabtretung bestand.
Offenbar wollte die Prager Regierung verhindern, daß sich die Westmächte für eine Volksabstimmung einsetzten.

Auf Druck der Westmächte  ̶  das ist heute kaum noch bekannt: Übergabe der Note an die Prager Regierung am 19. September  ̶  stimmte die Prager Regierung der Abtretung schließlich zu.

Das Münchner Abkommen der Großmächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien vom 29. September 1938 regelte lediglich die Modalitäten der Gebietsabtretung.

Darauf wird in der Präambel des Abkommens ausdrücklich hingewiesen:

Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebietes bereits grundsätzlich erzielt wurde, über folgende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung und über die danach zu ergreifenden Maßnahmen übereingekommen und erklären …(18)

In ihrem „Quell“-Aufsatz „Erschütterndes Geschehen“ kommentierte Mathilde Ludendorff die Vorgänge unter Hinweis auf die Worte des Feldherrn „Die Völker wollen keinen Krieg“ mit der ernsten Feststellung:

Die Völker Europas konnten sich gegenseitig in letzter Stunde die Zeugnisse ihrer heißen Friedensliebe geben und ebenso ihrer Entschlossenheit, ihr eigenes Volk und Land in der ernsten Stunde der Kriegsgefahr nicht im Stiche zu lassen. …

… im Herbst 1938 hatten die Völker schon teilweise, bzw. auch völlig mobil gemacht, und dennoch ist es noch in letzter Stunde gelungen, daß die verantwortlichen Staatsmänner zu einer Einigung kamen.(19)

Auf der anderen Seite warnte die Philosophin,

die ernste Gefahr der unermüdlich weiter arbeitenden Kriegshetze von seiten der überstaatlichen Mächte zu unterschätzen (ebd., S. 427).

Obersalzberg 1938: Hitler begrüßt Chamberlain, re. Ribbentrop (Bild-Ausschnitt: Wikipedia)

In Würdigung des Münchner Abkommens hebt sie deshalb hervor, was zu betonen ihr besonders wichtig erscheint:

Es ist kaum vorstellbar, was in der Seele der Staatsmänner Englands und Frankreichs vor sich gegangen sein mag, als sie die Zeichen der Friedensliebe des Deutschen Volkes durch die warme Begeisterung, mit der es sie empfing, erfuhren.

Sie kamen aus Ländern, die schon zum Teil völlig mobil gemacht hatten, deren Hauptstädte schon alle Anordnungen der Abwehr Deutscher Fliegerangriffe getroffen hatten, und in jubelnder Dankbarkeit begrüßte das Deutsche Volk sie schon allein deshalb, weil sie gekommen waren, um noch in letzter Stunde eine Einigung zu versuchen.

Am stürmischsten begrüßten die Deutschen dabei Chamberlain, der in kurzer Frist zum dritten Mal das in der englischen Geschichte Ungewöhnliche tat, in seinem Amt als Premierminister selbst dicht vor dem drohenden Kriegsausbruch zu Unterredungen mit dem Führer im Flugzeug zu kommen.

Zum ersten  Mal hatten die Fortschritte der Zivilisation sich auf das unmittelbarste in die Rettung des Friedens gestellt, die gleichen Fortschritte, die die Bewaffnung der Völker in den letzten Jahrzehnten so gewandelt haben, daß ein Weltkrieg Völkervernichtung bedeutet! (S. 425)

Diese Beurteilung läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig, und wer das im redlichen Umgang mit der Geschichte zu würdigen gewillt ist, hat von drei Feststellungen auszugehen:

  1. Die Zustimmung Mathilde Ludendorffs zu außenpolitischen Entscheidungen der Reichsregierung im Jahre 1938 beziehen sich ausschließlich auf Fragen des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Diese Einstellung unterscheidet sich nicht von der Position des sozialdemokratischen Staatsmannes Karl Renner im Zusammenhang mit dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich.
  2. Die Sorge um die Bewahrung des Friedens in Europa wird von der Philosophin ebenso hervorgehoben wie die sichtbar gewordene Friedensliebe unseres Volkes in Form einer unverkennbaren Sympathie für die Vermittlungsbemühungen des englischen Premierministers Chamberlain. Gewarnt wird aber ebenso vor jeder Friedensbedrohung durch Kriegshetze, die keinesfalls vom Deutschen Reich und deren (freilich gleichgeschalteter) Presse ausging.
  3. Nichts belegt auch nur andeutungsweise eine Übereinstimmung mit der Ideologie des Nationalsozialismus und dessen Rassenlehre oder den Auswirkungen der Diktatur im Innern.Das wäre mit den philosophischen Erkenntnissen Mathilde Ludendorffs, mit der Gotterkenntnis, unvereinbar.

    Im Gegensatz zu den heute üblichen  Unterstellungen und Verallgemeinerungen wird [von Mathilde Ludendorff] nämlich strikt nach Sachverhalten unterschieden.

Gegenwärtig, aber nicht erst seit dem immer deutlicher werdenden Verlust der Erlebnisgeneration, setzt sich mit Nachdruck und dogmatisch die Tendenz durch, die Außenpolitik Hitlers ausschließlich mit der NS-Ideologie und Hitlers angeblichem „Stufenplan“ erklären zu wollen, unbekümmert um die reichlich dokumentierte Faktenlage zur gesamteuropäischen Diplomatiegeschichte.(20)

Damit bewegt sich der geschichtswissenschaftliche Disput seinerseits

im Bereich ideologischer Legendenbildung unter Preisgabe streng wissenschaftlicher Positionen aus politischen Gründen.

  • Zunächst war nach dem Münchner Abkommen in den westeuropäischen Hauptstädten weitgehend Erleichterung über die Friedenssicherung empfunden worden.
  • Doch die von Chamberlain praktizierte sogenannte Beschwichtigungspolitik (Appeasement-Politik) wurde von den Gegnern einer Verständigungspolitik in England keineswegs geteilt.425
  • Im Gegenteil verlangten insbesondere Winston Churchill, Anthony Eden, Robert Vansittart, Duff Cooper und die parlamentarische Opposition dem Premierminister politische Zugeständnisse ab, weshalb dieser in seiner Unterhausrede am 3. Oktober 1938 für das nächste Jahr ein umfangreiches Rüstungsprogramm ankündigte.
  • In derselben Sitzung sprach Churchill es offen aus: das englische Volk solle wissen,

daß wir ohne Krieg eine Niederlage erlitten haben, … wobei das ganze europäische Gleichgewicht gestört wurde … Glauben Sie nicht, daß das das Ende ist. Das ist erst der Beginn der Abrechnung …(21)

Churchill hielt also den Krieg für unausweichlich, und Hitler betrachtete dessen Rede als Kampfansage, so daß er am 9. Oktober 1938 erwiderte:

Die Staatsmänner, die uns gegenüberstehen, wollen  ̶  das müssen wir ihnen glauben – den Frieden.

Allein sie regieren Länder, deren innere Konstruktion es möglich macht, daß sie jederzeit abgelöst werden können, um anderen Platz zu machen, die den Frieden nicht so sehr im Auge haben.

Und diese anderen sind da!

Es braucht nur  in England statt Chamberlain Herr Duff Cooper oder Herr Eden oder Herr Churchill zur Macht kommen, so wissen wir genau, daß es das Ziel dieser Männer wäre, sofort einen neuen Weltkrieg zu beginnen.

Sie machen gar kein Hehl, sie sprechen das offen aus … Das verpflichtet uns, wachsam und auf des Reiches Schutz bedacht zu sein. (zitiert nach Post, a.a.O., S. 290 f.).

Nach den verwerflichen Ausschreitungen gegen jüdische Bürger und Einrichtungen am 9. November 1938 mußten sich die politischen Spannungen zwischen den USA und dem Deutschen Reich erheblich verschärfen, und der außenpolitische Schaden war allgemein beträchtlich.

Präsident Roosevelts Sprachrohr, William C. Bullit, der amerikanische Botschafter in Paris, erklärte am 19. November dem polnischen Botschafter in Washington, Graf Jerzy Potocki,

der wahnsinnigen Expansion Deutschlands (könne künftig) nur durch Gewalt und schließlich Krieg

ein Ende bereitet werden. (Post, a.a.O., S. 296)

Mit der Entwicklung nach dem Münchner Abkommen hat der Diktator allerdings selbst der Begründung eines dogmatisch fixierten Geschichtsbildes erheblich Vorschub geleistet.

Ein differenzierter Blick auf die Ereignisse des Frühjahrs 1939 ist daher unerläßlich, weil die Tatsachen, die zur  Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ geführt haben,  immer mehr in Vergessenheit geraten.

  • Nach dem Münchner Abkommen befand sich die Tschechoslowakei in allmählicher Auflösung.
  • Am 22. November 1938  hat die Slowakei im tschechoslowakischen Verfassungsgesetz die geforderte Autonomie erhalten, was 98% der Slowaken in einer Abstimmung bejahten.
  • Doch am 10. März 1939 setzte der neue Staatspräsident Hacha den vom slowakischen Landtag in Preßburg zum Regierungschef gewählten Pater Tiso und dessen Regierung ab, löste den Landtag auf und ließ Preßburg (Bratislawa) durch tschechisches Militär besetzen.
  • Darauf spitzte sich die Lage so zu, daß die Slowakei und die Karpato-Ukraine nach Unabhängigkeitserklärungen ihrer Regierungen sich als selbständige Staaten am 14. März unter den Schutz des Deutschen Reiches stellten.
  • Den Schutz Rutheniens (Karpato-Ukraine), auf das Ungarn Anspruch erhob, übernahm Hitler nicht.

In dieser sich verschärfenden Situation einer Auflösung der ČSR unterbreitete Nevile Henderson, der britische Botschafter in Berlin, seinem tschechischen Kollegen Mastny den Vorschlag, er möge den tschechischen Außenminister Chvalkowsky veranlassen, sofort nach Berlin zu kommen und Hitler um ein Gespräch zu ersuchen.

Der britische Botschafter in Prag, Newton, untertützte diesen Vorschlag.

Hachas und Chvalkowskys Besuch in Berlin ging also auf englische Anregung zurück und wurde nicht von Hitler veranlaßt, wie die Legende stets behauptet.

Noch bevor der tschechische Staatspräsident und sein Außenminister in Berlin eintrafen, erkundigte sich Ernst v. Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, bei Henderson, wie London sich verhalten würde, wenn Hacha erwartungsgemäß die Resttschechei einem deutschen Protektorat unterstellen werde.

Henderson erhielt unverzüglich vom britischen Außenminister Halifax die Zusage, England wünsche nicht, sich in die Angelegenheit anderer Länder einzumischen.

Der Gedanke ist nicht abwegig, hierin eine Falle zu sehen, in die Hitler hineintappen sollte. Eine derartige Hypothese ist m.W. noch nie in Erwägung gezogen worden.

Emil Hácha 1939 bei Hitler (Bild-Ausschnitt: Wikipedia)

Staatspräsident Hacha, der noch am 14. März 1939 in Berlin am Anhalter Bahnhof mit militärischen Ehren empfangen wurde, erklärte auf dem Weg zur Reichskanzlei gegenüber Staatssekretär Meissner, der ihn zum Hotel „Adlon“ begleitete,

daß er angesichts der unhaltbar gewordenen Situation in seiner Heimat zu dem Entschluß gekommen sei, den Führer und Reichskanzler um Hilfe und Schutz anzugehen …(22)

Auf die Legendenbildung im Rahmen der Gespräche mit Hitler (Hachas Schwächeanfall und die angeblichen Folgen) kann hier nicht näher eingegangen werden.

Tatsache ist jedoch,

  • daß Hitler seinen Gast mit seinem Entschluß überraschte, das „Protektorat Böhmen und Mähren“ unter militärischer Besetzung zu errichten.

Dieser überraschende Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Tschechen war mit den bisherigen außenpolitischen Zielen Hitlers im Rahmen des Selbstbestimmungsrechtes unvereinbar und außenpolitisch obendrein unklug.

Der Diktator verspielte damit seine Glaubwürdigkeit,

auch wenn es in dem von Hacha mit unterschriebenen Dokument vom 15. März 1939 hieß:

  • Der Führer hat heute in Gegenwart des Reichsministers des Auswärtigen von Ribbentrop den tschechoslowakischen Staatspräsidenten und den tschechoslowakischen Außenminister Dr. Chvalkowsky auf deren Wunsch in Berlin empfangen.
  • Bei der Zusammenkunft ist die durch die Vorgänge der letzten Wochen auf dem bisherigen tschechoslowakischen Staatsgebiet entstandene ernste Lage in voller Offenheit einer Prüfung unterzogen worden.
  • Auf beiden Seiten ist übereinstimmend die Überzeugung zum Ausdruck gebracht worden, daß das Ziel aller Bemühungen die Sicherung von Ruhe, Ordnung und Frieden in diesem Teil Mitteleuropas sein müsse.
  • Der tschechoslowakische Staatspräsident hat erklärt, daß er, um diesem Ziele zu dienen und um eine endgültige Befriedung zu erreichen, das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches legt.
  • Der Führer hat diese Erklärung angenommen und seinem Entschluß Ausdruck gegeben, daß er das tschechische Volk unter den Schutz des Deutschen Reiches nehmen und ihm eine seiner Eigenart gemäße autonome Entwicklung seines völkischen Lebens gewährleisten wird.(23)

In seinen Memoiren urteilte Staatsminister a.D. Meissner über die Vorgänge im  März 1939:

  • Aber trotz der Schwäche, welche die Prager Regierung dem deutschen Diktator gegenüber zeigte,
  • und trotz des Scheins des Rechts, mit der Hitler die Eingliederung der Rest-Tschechoslowakei in das Großdeutsche Reich nun formell bemänteln konnte,

bleibt seine brutale Ausnutzung der Notlage des Nachbarlandes und der eigenen Übermacht politisch und moralisch höchst verwerflich.(24)

Dabei schienen die Voraussetzungen für eine bessere deutsch-tschechische Verständigung um so günstiger zu sein, als Hacha auf Hitler mit den Worten zuging:

Exzellenz, Sie wissen gar nicht, wie sehr ich Sie bewundere! …

Und jetzt wird mir die Freude zuteil, Sie endlich persönlich kennenlernen zu dürfen!(25)

Die Ausdehnung des deutschen Machtbereichs  ̶  am 22. März 1939 kam noch das 1923 von Litauen annektierte Memelland aufgrund eines deutsch-litauischen Staatsvertrages wieder zu Deutschland ̶  bedeutete das Ende der englischen Appeasement-Politik.

Hatte doch bereits 1937 Winston Churchill in einem Vieraugengespräch dem damaligen deutschen Botschafter in London erklärt:

Ein zu starkes Deutschland wird wieder vernichtet werden!(26)

Neville Chamberlain erklärte jedoch im Unterhaus am 15. März 1939, daß mit der slowakischen Unabhängigkeitserklärung die Tschecho-Slowakei

von innen zerbrach, (und er) bedaure das, was geschehen ist, zutiefst, doch ist das kein Grund dafür, von dem Wege, dem wir bis jetzt gefolgt sind, abzuweichen.

In England reagierten Presse und Parlament auf die Nachricht von der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren mit einem Sturm der Entrüstung, so daß Chamberlain einlenken mußte.

Nicht auszuschließen war der Sturz seiner Regierung. Deshalb verteidigte der Premierminister in seiner Birminghamer Rede am 17. März  zunächst seine zum Münchner Abkommen geführte Politik, erhob dann aber heftige Anklagen gegen Hitler und die Reichsregierung.

Damit sollte der britischen Außenpolitik eine neue Richtung gegeben werden.

Lord Halifax erklärte am 18. März vor dem Kabinett die Verständigungspolitik für gescheitert. Es dürfe „nicht zu einem polnischen München kommen“.

Noch am 20. März richtete das Foreign Office eine Note an Frankreich, Sowjetrußland und Polen mit der Aufforderung,

in Konsultationen einzutreten, um jeder neuen Bedrohung der Unabhängigkeit eines europäischen Staates gemeinsam entgegenzutreten.(27)

_______________________

wird fortgesetzt

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Anmerkungen

10 Rudolf von Ribbentrop, Mein Vater Joachim von Ribbentrop. Erlebnisse und Erinnerungen, Graz 2008, S. 129

11 Stefan Scheil, Polen 1939 – Kriegskalkül, Vorbereitung, Vollzug, Schnellroda 2013, S. 50 f.

12 Walter Löhde, Hinter den Kulissen der Tschecho-Slowakei, A. Hl. Q. Folge 13 vom 5.10.1938, S. 413

14 Ebd., S. 414. Als tschechisches Militär auf die Demonstranten schoß, verloren 54 Deutsche ihr Leben.

15 zit. nach Löhde, a.a.O., S. 414

16 Franz Katzer, Das große Ringen. Der Kampf der Sudetendeutschen unter Konrad Henlein, Tübingen 2003

Gerd Schultze-Rhonhof, Das tschechisch-deutsche Drama 1918-1939 Errichtung und Zusammenbruch eines Vielvölkerstaates als Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, München 2008

17 Katzer, a.a.O., S. 342; Schultze-Rhonhof, a.a.O., S. 159

18 Konferenzen und Verträge/Vertrags-Ploetz Teil II Bd. 4 A, Zweite erweiterte und veränderte Aufl., S. 155

19 Ludendorffs Halbmonatsschrift Folge 14/20.10.1938, S. 4226 ebd. Walter Löhde: “Friedenswille und Kriegshetze”, S. 429 ff.

20 Stefan Scheil: Ribbentrop. Oder: Die Verlockung des nationalen Aufbruchs. Eine politische Biographie, Bln. 2013

21 Walter Post, Die Ursachen des Zweiten Weltkrieges. Ein Grundriß der internationalen Diplomatie von Versailles bis Pearl Harbor, Tübingen 2003, S. 290

22 Otto Meißner, Staatssekretär unter Ebert – Hindenburg – Hitler, 3. Aufl., Hamburg 1950, S. 476

23 ders., a.a.O., S. 479

24 ders., a.a.O., S. 480

25 zit. nach Walter Post, a.a.O., S. 306

26 Rudolf von Ribbentrop, a.a.O.

27 Walter Post, a.a.O., S. 312

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