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Bäumchen
rüttel dich und schüttel dich,
wirf Gold und Silber über mich.

Aschenputtel

Ein Märchen wandert um die Welt, und wie die Brüder Grimm es gestalteten.

Von Roswitha Leonhard-Gundel

Was muß das für ein Baum sein, der angerufen wird, dem ar­men, einsamen Mädchen zu helfen?

Es ist ein

Haselstrauch, ein in der Mythologie tief verwurzelter Baum,

den Aschenputtel selbst auf

das Grab seiner Mutter

pflanzte. Er soll ihr

ein Kleid mit Gold und Silber durchwirkt

schenken. Dieses Kleid ist der Spiegel der reinen lebendigen Seele Aschenputtels, denn alle Gefühle im echten Europäischen Volksmärchen verdichten sich zu Bildern und werden sicht­bar, ohne daß sie beschrieben oder geschildert werden. Jeder versteht sie, vom Kind bis zum Greis.

Damit sind wir schon mitten in der Märchenhandlung des Aschenputtel der Brüder Grimm angekommen.

Brüder Grimm

Bei der Beschäftigung mit den Brüdern Grimm stieß ich hin und wieder auf die Bemerkung, sie hätten hauptsächlich aus französischen und italienischen Quellen ihre Märchensamm­lung zusammengestellt.

In der Tat hatten W. und J. Grimm eine ganze Reihe franzö­sisch sprechende Märchenzuträgerinnen, oftmals huge­nottischer Abstammung.

Die beiden Brüder gaben sich aber selten mit zwei Vorgaben eines Motivs zufrieden. In diesem Fall „Aschenputtel“ kannten sie

  • drei Erzählungen aus Hessen,
  • eine vierte aus Mecklenburg,
  • die fünfte aus dem Paderbörnischen
  • und noch vier weitere,
  • so daß es insgesamt neun waren.

1812 schrieben sie in ihren Anmerkungen:

… gehört unter die bekanntesten und wird aller Enden erzählt.

Aschenputtelmärchen traten außer in

  • Italien und
  • Frankreich auch in den
  • Niederlanden,
  • in Island,
  • im Rätoromanischen,
  • in Griechenland,
  • Katalanien und
  • Serbokroatien auf,

um nur eini­ge Länder zu nennen, die Liste wäre noch lange fortzuset­zen.

Um nun der Frage nachzugehen, warum

die Grimmschen Märchen in 160 Sprachen übersetzt

Charles Perrault (Bild: Wikipedia)

worden sind, möchte ich mich mit zwei Fassungen beschäftigen, mit

  • der französischen von Perrault (100 Jahre vor den Grimms)
  • und der deutschen der Brüder Grimm.

I. PERRAULT

ASCHENBRÖDEL

Es war einmal ein Edelmann, dem starb seine Frau, und er heiratete eine andere, die hochmütig und eitel war. Sie hatte zwei Töchter, die waren ebenso und glichen ihr auch sonst in allen Stücken.

Der Mann hatte seinerseits auch eine Tochter, die war aber ein gar sanftes und gutes Kind. Sie hatte dies Temperament von ihrer Mutter geerbt, die auch eine gar gute Frau gewesen war.

Kaum war die Hochzeit vorbei, so ließ die neue Frau ihre üble Laune an ihrer Stieftochter aus. Die guten Eigenschaften dieses Kindes waren ihr unausstehlich, weil der boshafte Charakter ihrer eigenen Töchter so sehr davon ab­stach. Sie ließ sie also die niedrigsten Arbeiten im Hause tun. …

Sie schlief auf dem Oberboden, auf einem elenden Strohsacke, während ihre Schwestern in tapezierten Kammern schliefen, wo sie die schönsten, modischsten Betten und die prächtigsten Spiegel hatten …

Wenn Aschenbrödel mit ihrer Arbeit fertig war, setzte sie sich in den Winkel des Kamins, in die Asche; darum nannte man sie im ganzen Hause nur Aschenbrödel.

Hören wir nun den Anfang des Grimmschen Märchens:

GRIMM

ASCHENPUTTEL

Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, daß ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchter­lein zu sich ans Bett und sprach: „liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.“

Darauf tat sie die Augen zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte und blieb fromm und gut. Als der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auf das Grab, und als die Sonne im Früh­jahr es wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Frau.

Die Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus gebracht, die schön und weiß von Angesicht waren, aber garstig und schwarz von Herzen. Da ging eine schlimme Zeit für das Stiefkind an. „Soll die dumme Gans bei uns in der Stube sitzen!“ sprachen sie, „wer Brot essen will, muß es verdienen: hinaus mit der Kü­chenmagd.“ Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen alten Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe. „Seht einmal die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist“, riefen sie, lachten und führten es in die Küche. Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehn, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen.

Obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich müde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschen­puttel.

Es fällt auf, daß der Grimmsche Text sofort unser Gemüt an­spricht, da feinsinnig und einfühlsam der Abschied der ster­benden Mutter geschildert wird, und wir durch die wörtliche Rede mit in das Geschehen einbezogen werden, wie dies eben­so mit der Natur geschieht:

Als der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auf das Grab, und als die Sonne im Frühjahr es wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Frau.

Achten wir bitte darauf, welche Bedeutung für den folgenden Verlauf der Handlung

  • die Mutter,
  • ihr Grab und
  • die Asche

ha­ben.

Die Märchenheldin macht sich gleich zu Beginn auf den Weg und führt den Auftrag der Mutter durch, fromm und gut zu bleiben. So hält sie es weiter­hin, und es gibt für sie kein Stille-Stehen bis zur Vollendung des Zieles. Dies ist ein wichtiges Merkmal für das echte Volksmär­chen.

Bei Perraults Aschenbrödel finden wir dagegen häufige Be­schreibungen und Schilderungen, z. B. „Die guten Eigenschaf­ten des Kindes waren ihr unausstehlich,“
oder: Kaum war die Hochzeit vorbei, so ließ die neue Frau ihre üble Laune an der Stieftochter aus.

Diese Art der Feststellung ergreift uns nicht, weil wir innerlich nicht in die Handlung mit einbezogen werden und es sich nur um Beschreibungen handelt.

Im Grimmschen Märchen folgt nun die Reise des Vaters zur Messe, während im Französichen Märchen der Vater keine Reise unternimmt.

Der Vater fragt seine Töchter, was er ihnen mitbringen soll. Perlen, Edelsteine und schöne Kleider wünschen sich die bei­den Ältesten. Und die Jüngste?

II. GRIMM

„Aber du, Aschenputtel“, sprach er, „was willst du haben?“ „Vater, das erste Reis, das Euch auf Eurem Heimweg an den Hut stößt, das brecht für mich ab.“ … Und auf dem Rück­weg, als er durch einen grünen Busch ritt, streifte ihn ein Ha­selreis und stieß ihm den Hut ab. Da brach er das Reis ab und nahm es mit.

Die Grimms schreiben in ihrem Deutschen Wörterbuch, daß die Hasel seit Urzeiten eine mythologische Bedeutung hatte. Man benutzte sie auch als Wünschelrute und nannte sie  Spring­wurzel oder Lebensrute.

Die Begebenheit mit dem Haselreis, das den Hut des Vaters streift, weist auf einen Brauch hin, der bei J. Grimm in seinen Rechtsaltertümern erwähnt wird. Dieser besagt, daß man durch Hinwerfen des Hutes oder der Mütze Einspruch erheben konnte.

Hier im Märchen wirft der Vater nicht selbst den Hut, er wird ihm abgewor­fen, er läßt es geschehen, sowie er es unterläßt, sich um seine eigene Tochter zu kümmern und gegen ihre Mißhandlungen Einspruch zu erheben.

III. GRIMM

Aschenputtel ging zu seiner Mutter Grab und pflanzte das Reis darauf und weinte so sehr, daß die Tränen darauf nieder­fielen und es begossen. Es wuchs aber und ward ein schöner Baum. Aschenputtel ging alle Tage dreimal darunter, weinte und betete und allemal kam ein weißes Vöglein auf den Baum, und wenn es einen Wunsch aussprach, so warf ihm das Vöglein herab, was es sich gewünscht hatte.

Wir spüren die innere Verbindung mit der Mutter. Die Tränen Aschenputtels lassen das Bäumchen wachsen, und das weiße Vöglein, in seiner reinen, göttlichen Natur, erfüllt ihm jeden Wunsch.

Das Grab, der Haselbusch, das Vöglein und Aschenputtel bil­den eine Einheit.

  • Das Grab der Mutter drückt die Verbindung zu den Ahnen aus, zu Sitte und Brauchtum, sowie  zur Vergangenheit, aus der Aschenputtel Kraft schöpft,
  • der Haselzweig gibt Zeugnis für das wiedererstehende Leben.
  • Das Vöglein steht für die Reinheit ihres Handelns, die innige Verbindung mit der Natur und trägt zur glückhaften Zukunft bei.

Von all diesen tiefen Zusammenhängen hören wir im Perrault­schen Märchen nichts.

Dort geht es nach der häuslichen Schilderung gleich damit weiter, daß der König zu einem Ball alle Leute von Stande dazu einlud, daß sich der Sohn eine Braut aussuchen könne.

Die beiden Schwestern werden immer aufgeregter, weil ihre Ballkleidung ein großes Problem darstellt.

Eine Kostprobe:

II. PERRAULT

Für Aschenbrödel gab es dabei auch etwas zu tun, denn sie mußte ihren Schwestern die Wäsche plätten und ihre Man­schetten in Falten legen …

Man schickte nach der besten Putzmacherin, um ihnen die neumodischsten Hüte zu bringen, und sie suchten die schöns­ten Bänder und Spitzen aus.

Die Schilderungen der Vorbereitungen gehen noch weiter und nehmen einen großen Raum ein.

III. PERRAULT

Sie hatten vor großer Freude beinahe in zwei Tagen keinen Bissen gegessen und hatten fast ein dutzend Schnürbänder zerrissen, weil sie sich eine recht schmale Taille machen woll­ten …

Endlich kam der glückliche Tag; Sie fuhren fort, und Aschenbrödel sah ihnen so weit nach, als sie konnte.

Hören wir nun, wie die Szene mit den Stiefschwestern bei den Grimms geschildert wird:

IV. GRIMM

Die zwei Stiefschwestern, als sie hörten, daß sie auch dabei erscheinen sollten, waren guter Dinge, riefen Achenputtel und sprachen: „kämm uns die Haare, bürste uns die Schuhe und mache uns die Schnallen fest; wir gehen zur Hochzeit auf des Königs Schloß.“

Aschenputtel wäre natürlich auch gerne mitgegangen, doch die Stiefmutter verbietet es ihr. Sie spricht:

V. GRIMM

„Da habe ich dir eine Schüssel Linsen in die Asche geschüttet, wenn du die Linsen in zwei Stunden wieder ausgelesen hast, so sollst du mitgehen.“

Diese Falschheit muß Aschenputtel nochmals ertragen, aber  es weiß einen Weg. Es geht durch die Hintertüre in den Garten und ruft:

VI. GRIMM

„Ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen, all ihr Vöglein unter dem Himmel, kommt und helft mir lesen,

die guten ins Töpfchen,
die schlechten ins Kröpfchen.“

Wie sich die Grimms darauf beschränken, das Wichtigste zu berichten und den Blick aufs Wesentliche lenken! Nun kommen also all die Vögelchen, mit denen es sich innig verbunden fühlt, und helfen ihm.

Doch es hilft alles nichts, Aschenputtel darf nicht mit zum Fest. Die Stiefmutter verspricht es ihm zwar, stellt jedoch die Bedingung, zwei Schüsseln voll Linsen aus der Asche zu lesen, denkt aber:

„Das kann es ja nimmermehr“.

Als nun niemand mehr daheim war, ging Aschenputtel zu seiner Mutter Grab unter den Haselbaum und rief:

Bäumchen rüttel dich und schüttel dich,
wirf Gold und Silber über mich.

Da warf ihm der Vogel ein golden und silbern Kleid herunter und mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffeln.

In aller Eile zog es das Kleid an und ging zur Hochzeit. Seine Schwestern aber und die Stiefmutter kannten es nicht und meinten, es müßte eine fremde Königstochter sein, so schön sah es in dem goldenen Kleide aus. An Aschenputtel dachten sie gar nicht und dachten, es säße daheim im Schmutz und suchte die Linsen aus der Asche.

Der Königssohn kam ihm entgegen, nahm es bei der Hand und tanzte mit ihm. Er wollte auch mit sonst niemand tanzen, also daß er ihm die Hand nicht losließ.

Dieser Vorgang wiederholt sich noch zwei mal und das Kleid, das das Vöglein vom Baum wirft, wird immer prächtiger.

Auch bei Perrault kommt zauberhafte Hilfe, damit Aschen­brödel mit zum Fest kann. Bei ihm erscheint seine Patin, die – nebenbei erwähnt – auch eine Fee ist.

IV. PERRAULT

„Nun wohl“, sagte die Patin, „weil du eine so gute Toch­ter bist, sollst du auch mit auf den Ball gehen.“

Sie führte sie hinauf in ihre Kammer und sagte zu ihr: „Gehe in den Garten und hole mir eine Melone herauf.“

Aschenbrödel holte die schönste, die sie finden konnte, und brachte sie ihrer Patin. Aber sie konnte sich gar nicht denken, wie sie durch eine Melone auf den Ball kommen sollte. Aber die Patin schnitt sie auf und höhlte die Schale ganz aus, be­rührte sie dann mit ihrem Zauberstabe, und augenblicklich war die Melone in einen schönen, vergoldeten Wagen verwandelt. Dann suchte sie die Mausefalle und fand sechs lebendige Mäuse darin. Jeder Maus, die herauslief, gab sie einen Schlag mit dem Zauberstabe; und augenblicklich war jede Maus in einen schönen Apfelschimmel verwandelt. Nun wußten sie aber nicht, wo sie einen Kutscher herbekommen sollten. „Ich will sehen, ob sich etwa eine Ratte in der Rattenfalle gefangen hat; da wollen wir einen Kutscher daraus machen“, sagte Aschenbrödel.

In dieser Weise wird weitererzählt, alle Einzelheiten reihen sich aneinander ohne inneren Zusammenhang. Aus Melone, Mäusen, Ratten und Eidechsen entsteht die ganze Pracht, mit der Aschenbrödel zum Fest kommt. Sie selbst wird ebenfalls mit dem Zauberstab der Fee berührt und erscheint nun in den prächtigsten Kleidern samt Glaspantöffelchen im Schloß.

An dieser Stelle ist es sinnvoll, den

Unterschied zwischen „Zauber“ und „zaubern“

zu erwähnen. Dr. Rose Eller, eine Märchenforscherin, schreibt in ihrer Abhandlung Vom Sinngehalt des Märchens, daß die wunderbaren Vorgänge im Märchen nicht mit dem Zaubern verwechselt werden dürfen. Die Handlungen des Märchenhelden, im Grimmschen Märchen Aschenputtel, sind stets mit eigenem Einsatz verbunden. Allein

  • die Pflege des Grabes,
  • das Pflanzen des Bäumchens
  • und sein Bestreben, fromm und gut zu bleiben, trotz vieler Schmähungen,

zeigen den Willen zu handeln und sein reines Wesen.

Die Fee im Perraultschen Märchen ist dagegen eine Zauberin, sie besitzt einen Zauberstab, mit dem sie unendlich viele Dinge her- und wieder wegzaubern kann. Durch müheloses Eingreifen können dadurch große Veränderungen herbeigeführt werden. Aschenbrödel wirkt hiermit kraftlos und nicht überzeugend, es fehlt ihr persönlicher Einsatz.

Der Vorgang der Verzauberung bei Perrault wiederholt sich noch einmal, um Aschenbrödel prachtvoll auf dem Fest erscheinen zu lassen, während sich bei den Grimms die wichtigsten Ereignisse  dreimal vollziehen, denn sie wußten von der mythischen Bedeutung der Zahl Drei.

Zum besseren Verständnis ein Blick in die Geschichte:

Wisentbulle - Gemälde in der Höhle von Altamira etwa 13000 v.d.Z. (Bild: Wikipedia)

Die Höhlenmalerei Südfrankreichs und Nordspaniens geben uns wichtige Hinweise, daß in Europa schon sehr früh, 15.000-20.000 vor unserer Zeitrechnung, Kunstwerke entstanden sind. (z. B. die Höhlenmalerei von Altamira) Der Wisent, selbst ein Symbol der Fruchtbarkeit, diente dabei mit seinen Hörnern zur Darstellung des Mondes.

Das Wort Mond geht aus der indogermanischen Sprachwurzel me = messen hervor. Der Mond diente als verläßliche Erscheinung, die Zeit zu messen. An der steten Abfolge des zu-, des Vollmondes, des abnehmenden  und des Neumondes, richteten die Eiszeitmenschen ihr Leben aus.

Nach den drei Phasen des Lichtes erlebten sie drei dunkle Nächte, die sich tief in das Gefühlsleben einprägten.

Diese sichtbare Ordnung ist seit Urzeiten richtungweisend geworden, daß nach der Dunkelheit stets von neuem das Licht überwiegt, sicher eines der wichtigsten Erlebnisse bei den unvorstellbar harten Lebensbedingungen der Eiszeit.

So ist in den Nord-Europäischen Volksmärchen, vor allem aber in denen der Brüder Grimm, deutlich ein Wille zum Durchhalten des Märchenhelden erkennbar. Die schwersten Aufgaben werden gelöst, oft in inniger Verbindung mit den Naturkräften, mit denen er in seinem Wesen übereinstimmt.

Zurück zu den Märchen:

Ein Kennzeichen der Grimmschen Märchen sind auch die einfachen Reime, die so eingängig sind, daß sie jeder Zuhörer gleich mitsprechen kann. Sie sind zum Volksgut geworden, und man kann sie von Kindesbeinen an auswendig.

Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich,
wirf Gold und Silber über mich.

Das verbindet wie ein Lied aus der Heimat.

Es ist jeweils Aschenputtel selbst, das zum Bäumchen geht und um ein prächtiges Kleid bittet. In allen Märchenhandlungen ist es mit Leib und Seele dabei.

Hören wir, wie der erste Abend des Festes endet:

Es tanzte, bis es Abend war; da wollte es nach Haus gehen. Der Königssohn aber sprach: Ich gehe mit und begleite dich, denn er wollte sehen, wem das schöne Mädchen angehörte.

Sie entwischte ihm aber und sprang in das Taubenhaus. Nun wartete der Königssohn, bis der Vater kam, und sagte ihm, das fremde Mädchen wäre in das Taubenhaus gesprungen.

Der Alte dachte: Sollte es Aschenputtel sein? Sie mußten ihm Axt und Hacken bringen, damit er das Taubenhaus entzwei schlagen konnte. Aber es war niemand darin.

Und als sie ins Haus kamen, lag Aschenputtel in seinen schmutzigen Kleidern in der Asche, und ein trübes Öllämpchen brannte im Schornstein; denn Aschenputtel war geschwind aus dem Taubenhaus hinten herab gesprungen und war zu dem Haselbäumchen gelaufen:

Dda hatte es die schönen Kleider abgeworfen und aufs Grab gelegt und der Vogel hatte sie wieder weggenommen und dann hatte es sich in seinem grauen Kittelchen in die Küche zur Asche gesetzt.

Vom Inhalt her ähneln sich die nun folgenden Szenen vom Fest  des Königssohnes in beiden Fassungen weitgehend. Er wartet jeden Abend sehnlich auf das schöne fremde Mädchen, mit dem nur er allein tanzen will.

Kommen wir nun zum Ereignis um den „Goldenen Schuh“, bzw. „Glaspantoffel“.

In beiden Fassungen muß das Rätsel gelöst werden, wem er angehört.

VII. GRIMM

Die Älteste ging mit dem Schuh in die Kammer und wollte ihn anprobieren, und die Mutter stand dabei. Aber sie konnte mit der großen Zehe nicht hineinkommen, und der Schuh war ihr zu klein; da reichte ihr die Mutter ein Messer und sprach: „Hau die Zehe ab, wenn du Königin bist, so brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen.

Die Stiefmutter, die Fremde, die verachtenswerte Gestalt, schreckt nicht davor zurück, ihren Töchtern zu raten, ihre Füße zu verstümmeln. Der Hang, mächtig zu werden, treibt doch seltsame Blüten.

Beachtenswert auch, daß der Königssohn mit seiner vermeintlichen Braut am Haselbäumchen vorbeireitet und die Täubchen rufen:

Rucke die gu, rucke die gu,
Blut ist im Schuh,
der Schuh ist zu klein,
die rechte Braut sitzt noch daheim.

Und der zweiten Schwester geht es ebenso. Nachdem Aschenputtel in den goldenen Schuh ohne Mühe hineinpaßt, rufen sie:


Rucke die gu, rucke die gu,
kein Blut im Schuh.
Der Schuh ist nicht zu klein,
die rechte Braut, die führt er heim.

Und als sie das gerufen hatten, kamen sie beide herabgeflogen und setzten sich dem Aschenputtel auf die Schultern, eine rechts, die andere links und blieben da sitzen.

Bei  Perrault hört sich das so an:

PERRAULT

Man probierte ihn (den Schuh) zuerst den königlichen Prin­zessinnen an, dann den Herzoginnen, dann dem ganzen Hofe, aber alles war umsonst. Man brachte den Glaspantoffel schließlich auch den beiden Schwestern, die sich alle mögliche Mühe gaben, um den Fuß hineinzubringen, aber kaum die große Zehe paßte hinein.

Aschenbrödel, die ihnen zusah und den Pantoffel erkannte, sagte schließlich lächend: „Ich will doch sehen, ob er mir paßt.“ … Man denke sich das Erstau­nen der beiden Schwestern und was sie vollends für Augen machten, da Aschenbrödel das andere Pantöffelchen aus der Tasche nahm und es anzog.

Bei den Originalanmerkungen der Br. Grimm zu den Kinder- und Haus-Märchen (KHM) steht S. 313 über die französiche Fassung Aschenbrödel (Cen­drillon):

Flacher als im Pentamerone (italienische Fassung) und das Deutsche Nr. 21 (Aschenputtel)

Und die Brüder fahren fort:

Wie bedeutend ist der im Franzö­sischen ganz fehlende Zug, daß die bösen Schwestern den Kö­nigssohn einen Augenblick täuschen, indem sie sich die Füße gewaltsam verkürzen, um Schuhe tragen zu können, aber von den Tau­ben verraten werden.

Wie wird nun der Schluß der beiden Fassungen gestaltet?

VI. PERRAULT

Jetzt erkannten sie die beiden Schwestern als die Dame des Balls. Sie warfen sich ihr zu Füßen und baten sie tau­sendmal wegen der ihr zugefügten Beleidigungen um Ver­zeihung. Aschenbrödel hob sie auf, umarmte sie und ver­zieh ihnen von ganzem Herzen. Ja, sie bat sie sogar um ihre Freundschaft und Liebe.

Man brachte sie hierauf zu dem Prinzen, der sie schöner als je fand und sie wenige Tage darauf heiratete. Aschenbrödel, welche ebenso gut als schön war, gab ihren Schwestern eine Wohnung im Schlosse und verheiratete sie an demselben Tag mit zwei vornehmen Herren vom Hofe.

Bei den Brüdern Grimm lautet der Schluß so:

VIII: GRIMM

Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden, kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und teil an seinem Glück nehmen. Als die Brautleute nun zum  Fest gingen, war die älteste zur rechten, die jüngste zur lin­ken Seite. Da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach, als sie zurückgingen, war die älteste zur linken und die jüngste zur rechten: Da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus.

Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blind­heit auf ihr Lebtag gestraft.

Im Volksmärchen wird das Gute belohnt und das Böse be­straft. Für eine echte Wandlung genügt es nicht, sich vor dem Opfer zu Boden zu werfen.

Im Grimmschen Märchen nimmt der Märchenheld die größten Entbehrungen auf sich, um sich selbst treu zu bleiben. Sobald sich aber Neid, Lüge oder Eifersucht einstellen, trifft den Schuldigen die Strafe. Die Bestrafung im Aschenputtelmärchen wird nur angedeutet und läßt ebenso  Raum, sie auch symbolisch deuten zu können.

Im Perraultschen Märchen dagegen werden uns vor allem zum  Schluß viele Unglaubwürdigkeiten zugemutet, die an einen unterhaltsamen Roman erinnern, aber nicht dem Gerechtigkeitssinn entsprechen.

ZUSAMMENFASSUNG

Im Aschenputtel der Brüder Grimm wie im Aschenbrödel Per­raults wird erklärt, woher der Name der Märchenheldin stammt. Bei letzterem finden wir nur eine einzige Stelle dazu:

Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, setzte sie sich in den Winkel des Kamins, in die Asche, darum nannte man sie im ganzen Hause nur Aschenbrödel.

Bei den Brüdern Grimm spielt die Asche im gesamten Märchen eine bedeutende Rolle. Sie schreiben in den Anmerkungen zu den KHM bei Aschenputtel:

Es war uralte Sitte, daß der Unglückliche sich in die Asche setzte. So setzt sich Odysseus, der als Fremdling und um Hilfe flehend zu dem Al­kinoos geredet hat, demütig in die Asche am Herd nieder und wird dann daraus in die Höhe gehoben.

Hinzuzufügen ist, daß bei unseren Urahnen der Mittelpunkt des Lebens der Hof und sein Herdfeuer waren und die Frau höchste Wertschätzung genoß.

Die Hasel, wie anfangs schon erwähnt, symbolisiert wie der sprachlich verwandte Hase, die Fruchtbarkeit.

Robert von Ranke-Graves schildert, daß die Haselnuß in der kel­tischen Sage Symbol für konzentrierte Weisheit gewesen ist. Überreste von Haselnüssen fand man seit der jüngeren Stein­zeit in Siedlungen des Nordens.

In ganz Europa war der Brauch verbreitet, daß sich Jugendli­che, Mädchen wie Burschen, im Frühjahr mit der Lebensrute „schlugen“.

Schottlands keltischer Name war Cale-donia und leitet sich von Cal-Dun = Hasel-Hügel ab.

Bei den Anmerkungen der Brüder Grimm lesen wir über die Tauben:

… wenn man sauber Korn hat, so spricht man, es ist eben, als hätten es die Tauben zsammen getragen.

Oft wird erwähnt, daß die Tauben rein lesen. Es sind die rei­nen, heiligen Tiere und gute Geister.

Insgesamt sind das Grab der geliebten Mutter, der auf ihm ge­pflanzte Haselnuß-Baum, der Platz am Herd mit der Asche und die helfenden Vöglein eng miteinander verwoben.

Kein Ort der Handlung, kein Wesen steht für sich isoliert da, alles ergibt sich wie aus einer Knospe wachsend und in der Blüte sich vollendend. Dazu kommen noch die mythologischen Weisheiten, die in uns zum Schwingen kommen, sofern wir uns dafür öffnen.

Beim Perraultschen Märchen fehlen Grab, Baum, die Vöglein vollkommen, und der Platz an der Asche wird nur einmal er­wähnt und spielt in der nachfolgenden Handlung keine Rolle mehr.

Wie wichtig den Brüdern Grimm die Szene mit dem goldenen Schuh war, kommt in dem Zitat zum Ausdruck, das ich noch­mals wiederholen möchte:

Wie bedeutend ist der im Franzö­sischen ganz fehlende Zug, daß die bösen Schwestern den Kö­nigssohn täuschen, indem sie sich die Füße gewaltsam verkür­zen, um Schuhe tragen zu können, aber von den Tauben verra­ten werden.

Über die alte Bedeutung des Schuhs gibt uns J. Grimm noch einen Hinweis in seinen Rechtsaltertümern.

Dort heißt es:

Das Symbol des Schuhs kam im altnordischen Recht bei der Adoption und Legitimation vor. Der Vater soll ein Mahl anstellen, einen dreijährigen Ochsen schlachten, des­sen rechtem Fuße die Haut ablösen und daraus einen Schuh machen. Diesen Schuh zieht er dann zuerst an, nach ihm der adoptierte oder legitimierte Sohn, hierauf die Erben und Freunde. Dies heißt mit einem in den Schuh steigen.

An anderer Stelle wird berichtet, daß der Bräutigam der Braut den Schuh brachte, zog sie ihn an, so war sie mit der Hochzeit einverstanden.

Aus diesen beiden Beispielen wird ersichtlich, daß der Schuh als Symbol der Treue, Zuverlässigkeit und auch des Maßes galt und es den Brü­dern Grimm am Herzen lag, in den Märchen an unsere alte Lebensweise und an unsere Wurzeln anzuknüpfen.

Die Entwicklung des Französischen Märchens

Bis etwa 1690 gab es in Frankreich mündlich überlieferte Volksmärchen, die man aber nicht wertvoll genug erachtete, sie aufzuschreiben. Die Literaten betrachteten sie als zu heid­nisch und wiesen sie in den Bereich der Ammenmärchen.

Erst 1650- 1690 fanden die Märchen Eingang in die französi­schen Salons, die von adeligen Damen gegründet worden wa­ren. Diese Frauen, die von den Schulen und Universitäten aus­geschlossen waren, bearbeiteten die Themen Kunst, Freiheit, Literatur und kämpften um mehr Rechte gegen willkürliche Beschränkungen.

Bäuerliche Szenen gestaltete man oftmals um, damit sie den Aristokraten und dem bürgerlichen Publikum auch gefielen.

Die Märchen waren ein Mittel, die Unzufriedenheit zu zeigen und die Sehnsucht nach dem Paradies auszudrücken. Sie wa­ren gekennzeichnet von den Kämpfen um Anerkennung und Macht.

Sobald Ludwig XIV. jedoch merkte, daß seine Miß­stände gemeint waren, verbannte er unliebsame Märchen­schreiber. Selbst Charles Perrault, der ein königlicher Beamter ge­wesen war, fiel in Ungnade.

Die Märchen aus dieser Zeit fallen auf durch makabre Ele­mente und Grausamkeiten, die genau beschrieben werden. Z. B. wird in Perraults „Däumeling“ den eigenen Kindern die Gurgel durchgeschnitten, und es kommt in der „Eselshaut“, unserem „Eselein“, zum Inzest.

Jack Zipes, meint:

Kritiker beklagten sich, daß die Grimmschen Mär­chen zu hart und zu grausam seien. In Wahrheit nehmen sich die Märchen der Brüder Grimm neben den Salonmärchen der vornehmen französischen Damen geradezu prüde aus.

Eine besondere Rolle im Französischen Salonmärchen spielte die Fee. Eine bekannte Märchenscheiberin, Madame de Mu­rat, rühmte sich, die schlichten Feen ihrer bretonischen Hei­mat durch junge, elegant gekleidete Damen ersetzt zu haben, die in Zauberpalästen residieren und alles Wunderbare unter Kontrolle haben.

Den umgekehrten Weg gingen

100 Jahre später die Brüder Grimm.

Sie ersetzten die romanischen Feen durch einheimi­sche Vorstellungen und Namen,

  • Frau Gode,
  • Frau Holle,
  • die weise Frau.

Die einen schnitten den Faden ab, die anderen knüpften an die Mythologie und Weisheit unserer Kultur wieder an.

Jacob Grimm drückt es so aus:

Den Ursprung dieser weißen Frau (gemeint ist Frau Holle ) braucht man nicht von celtischen Matronen und Feen herzu­holen, die ihnen sehr nah verwandt sind; unser eigenes Alter­tum leitet auf noch nähere Wesen.

Elbinnen und Schwanfrau­en erscheinen in weißem, leuchtendem Gewande.

Unter den Göttinnen dürfen besonders drei genannt werden, aus denen sich die weiße Frau und zuletzt die Norne niederschlagen konnte.

  • Holda, die sich gerade so in der Mittagssonne kämmt und badet,
  • Bertha, die schon im Namen weiße, die spinnt und webt,
  • Ostara, der das Volk Maiblumen opferte.

Die Entstehung der Grimmschen Märchen

Die Brüder Grimm sind sowohl persönlich wie auch politisch in eine schwere Zeit hineingeboren. Kurz vor der Französi­schen Revolution begannen sie 1785 bzw. 1786 ihren Lebensweg, litten dann unter Napoléon, der ganz Europa unter seine Herrschaft brin­gen wollte.

Schon früh waren sie beseelt, ihr eigenes Deutsches Kulturgut auszugraben und durch Überarbeitung wieder le­bendig werden zu lassen.

Jacob Grimm schreibt dazu:

  • Still und rein steht das Wesen unse­rer Vorfahren hinter uns,
  • in Unscheinbarkeit der Äußerung,
  • in Unwandelbarkeit eines innerlichen, warmen Reichtums;
  • seit wir es so recht empfunden haben, ist uns gleichsam ein Aug mehr für die treue Natur Deutscher Begebenheit aufgegangen, und dadurch, daß wir sie sehr lieben gelernt, lieben wir uns desto unverbrüchlicher auch einander!

Vor Beginn ihrer Tätigkeit, Märchen zu sammeln 1807, waren sie bereits auf die unterschiedlichsten Sammlungen u. a. aus Italien und Frankreich gestoßen, die zum Teil in der Auswahl der Motive auf die Deutsche Sammlung einen Einfluß hatten.

Gestaltet wurden sie aber durch und durch nach ihrer eigenen Art. Vor allem Wilhelm Grimm hatte die Fähigkeit, in der ein­fachen Erzählweise des 16. und 17. Jahrhunderts Texte umzu­arbeiten. Er arbeitete künstlerisch so lange an ihnen, bis der typische und als einmalig empfundene Märchenton gefunden war und daraus schließlich „DIE GATTUNG GRIMM“ ent­stand, die zu einem weltweiten Erfolg führte.

Wie in Frankreich so standen auch in Deutschland die bisheri­gen mündlichen Überlieferungen nicht hoch im Ansehen. Die Brüder Grimm hatten es aber gerade auf sie abgesehen, sofern sie ursprünglich und echt waren. Sie schreiben dazu:

Wenn wir also hiermit ganz besonders die Märchen der Am­men und Kinder, die Abendgespräche und Spinnstubengeschichten gemeint haben, so wissen wir zweierlei recht wohl, daß es verachtete Namen und bisher unbeachtete Sachen sind, die noch in jedem einfach gebliebenen Menschengemüth von Jugend bis zum Tod gehaftet haben.

Wieland dagegen meinte:

Ammenmärchen im Ammenton er­zählt, mögen sich durch mündliche Überlieferung fortpflan­zen, aber gedruckt müssen sie nicht werden.

Zum Glück standen die Brüder Grimm nicht alleine. Clemens von Brentano und Achim von Arnim hatten sich schon 1805 in des Knaben Wunderhorn mit alten Kinderliedern und Mär­chen befaßt und ermunterten die Brüder 1812, die erste Ausga­be ihrer KHM zu veröffentlichen.

Einen „Mustertext“, wie sie ihn nannten, bekamen Wilhelm und Jacob vom Ma­ler Otto Philipp Runge in plattdeutscher Sprache geliefert: „Von dem Fischer und syner Fru“.

Sie waren begeistert von allen Mundarten und bedauerten,

… daß sie nicht mehr der Dialekte mächtig waren, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem andern sein mag, heller und durchsichtiger aber auch schmackloser ge­worden, und nicht mehr fest an den Kern sich schließe.

Die Textmerkmale

dieses Volksmärchens waren ganz in ihrem Sinn. Wir treffen sie in fast allen ihren weiteren Märchen an, wobei sie immer si­cherer auch ihren eigenen Märchenstil gefunden haben:

  • Vorliebe der aneinander gereihten Hauptsätze.
  • In jeder Phase spürt man das Mitgefühl des Erzählers („Darauf tat sie die Augen zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte und blieb fromm und gut.“)
  • Steigerung durch Wortwiederholungen, auch Reimen. (Un he seet un seet)
  • Humor, volkstümliche Wendungen, „Dem Volk aufs Maul schauen“ war ihnen wichtig.
  • Viel wörtliche Rede. Dadurch Vergegenwärtigung, Gestalten werden lebendig.
  • Strenge szenische Gesetzmäßigkeit: Immer nur zwei Personen handeln und sprechen miteinander. Das verschafft Klarheit.
  • Keine langen Beschreibungen oder Ausschmückungen. „Kämm uns die Haare, bürste uns die Schuhe und mache uns die Schnallen fest.“
  • Zeitlosigkeit des Märchenhelden ohne Eigenname, ewig. „Es war einmal“ … „und wenn sie nicht gestorben sind …“
  • Typenhaftigkeit der Gestalten: Uns begegnen Urbilder des Menschen. So verkörpert die Stiefmutter das fremde Wesen, das nicht in eine gewachsene, aus Liebe gegündete Gemeinschaft gehört und sich über das Wohlgeborene ärgert und es bekämpfen muß. Ihr sind alle Mittel recht, wie Lügen, Erniedrigung und Falschheit. Aschenputtel dagegen ist das Wesen, das selbst im Schmutz ihr gottverbundenes Leuchten beibehält.
  • An Nahtstellen des Grimmschen Märchens kommen oft vierhebige Verse vor, die zum Volksgut geworden sind. „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.“ ̶ „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“.

Noch wichtiger als die Form war ihnen aber der Inhalt und die Verbindung zur Mythologie.

Sie bezeichneten die Märchen als Zeugen der Menschheitsgeschichte und ihrer Verwandtschaft mit den Mythen. So zogen sie Parallelen zwischen Brynhilde und Dornrös­chen, beide unnahbar geworden, oder Schneewittchen, „Snäfridr“, die schönste aller Jungfrauen.

Die Brüder Grimm hatten es nicht nötig, Gesellschaftskritik in Märchen zu verpacken, wie es bei den Französischen Salon-Märchen der Fall war.

Ihr Ziel war, tiefsinnige, in sich vollkommene Texte zu finden, sie von Fragwürdigkeiten und unsinnigen Einzelheiten zu reinigen und durch sie an die Wesensmerk­male unserer Kultur anzuknüpfen, die da heißen:

  • Wahrheit,
  • Ehrlichkeit,
  • Gerechtigkeit,
  • Verbundenheit mit der Natur,
  • Freude an der Schönheit und dem Willen, sein Lebens­ziel mit dem Göttlichen in Einklang zu bringen.
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